Im Dunstkreis des Herrn Erdoğan

von Esther Slevogt

12. April 2016. Nein, ich werde nicht über Jan Böhmermann schreiben. Weil ich wirklich sauer bin, dass dieser Fernsehklugscheißer, den ich für seine Varoufake-Aktion noch bewundert habe, nun ausgerechnet einem schlimmen Autokraten wie Herrn Erdoğan einen derartigen Auftritt, derartige Medienpräsenz und Meinungsmacht verschafft. Auch wenn wahrlich peinlich bleibt, dass Staatsoberhäupter sich überhaupt mit derlei Angelegenheiten befassen.

Was man leider auch von Frau Merkel sagen muss, die dem guten Recep Tayyip nun wirklich nicht so tröstend den Kopf hätte tätscheln müssen, weil der Böhmermann so böse zu ihm war. Sondern ihr Mitleid anderswo deutlich besser investiert gewesen wäre. In Idomeni zum Beispiel. Als hätte die Welt keine anderen Sorgen als die Gedichte von Jan Böhmermann. Obwohl – vielleicht ist eben dies ein Grund für unsere so in Unruhe geratene Gegenwart: dass jegliches Maß und wohl auch jeglicher Sinn für Würde abhanden gekommen ist. Und so altmodische Dinge wie gutes Benehmen leider auch. Dass manche Leute meinen, sie dürften alles, verbale oder andere Bomben über einer wehrlosen Bevölkerung abwerfen zum Beispiel. Böhmermanns Auftritt war ja auch ein Medienmachtmissbrauch.

kolumne estherDer Hintern der Verhältnisse

Ich werde auch nicht über Jan Böhmermann schreiben, weil ich, wenn ein mit ähnlich geschmacklosen Klischees und rassistischen Stigmata vollgestopftes Gedicht let’s say über Benjamin Netanjahu zu Gehör gebracht worden wäre, es gewiss als antisemitisch verurteilt hätte. Und als rassistisch, hätte es einen afrikanischen Autokraten zum Gegenstand gehabt. Es ist halt die alte Geschichte, dass die Kehrseite einer Medaille kein anderer Planet, sondern nur die Rückseite derselben Verhältnisse ist, der Hintern dieser Verhältnisse (im vorliegenden Fall der des Herrn Erdoğan) könnte man also auch sagen.

Und genau dort nahm Jan Böhmermann Platz und sendete seine Sottisen. Mit denen er jetzt die Verhältnisse betoniert, die er angeblich kritisieren wollte. Ja, und nun wird er auch noch zum Märtyrer der offenen Gesellschaft stilisiert, die er eigentlich so sauber vorgeführt hat: als er mit seinem Gedicht scheinbar so aufklärerisch verschmitzt auftrat, aber in Wahrheit an die niederen Instinkte appellierte, auf die klammheimliche Freude der Zuschauer setzte, dass ihnen endlich mal einer aus der Mördergrube ihres Herzens spricht.

Heute: Kolumnenfrei

Ich werde also nicht über Jan Böhmermann schreiben. Sondern vielleicht über den fehlenden Mut der Theater, große Stoffe wirklich groß zu ziehen. Anstatt immer so hübsch harmlos zu bleiben. (Dass die Schauspieler ihr ganzes Virtuosentum oft im Stuhlkreis verhüpfen und an die vierte Wand fahren müssen). Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Deswegen fällt die Kolumne heute leider aus.

 

esther slevogtEsther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt fragte sich Esther Slevogt in ihrer Kolumne mit der Frage, wie von Verbrechen berichten zu sei, ohne die Verbrecher*innen zu ehren.

 

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