Tätowierung auf der Eichel

von Claude Bühler

Basel, 14. April 2016. Für diese Szene würde man PeterLichts "Menschenfeind"-Neuerfindung auch ein zweites Mal besuchen: Alceste gesteht Célimène seine "Superliebe", um ihr in den "ersten Minuten unserer Beziehung" gleich die Trennung zu verkündigen, respektive anzudrohen. "Bei allem nicht vorhandenen Respekt", sie müsse sich ändern, dürfe nicht weiterhin mit anderen Männern "rummachen". Nur so könne sie den "Hass-Anteil" seiner Superliebe "minimieren". Ihr Äußeres sei "kanonenhaft", ihr Inneres aber "unter aller Sau". Dennoch: Noch nie habe es in der Geschichte der Menschheit einen anderen Menschen gegeben, der "so stark geliebt hat wie ich, was ich durchaus bestätigen kann".

Komik paart sich mit Hintersinn

Molières Menschenfeind als einen bis ins Groteske gesteigerten Egozentriker, der die Welt dafür verantwortlich erklärt, dass sie ihm auf die Nerven geht: "Ihr lauft mir drauf rum, als ob es Eures wäre, ... aber es ist nicht Eures, es ist meins", ruft er ins Publikum. Selten paart sich Komik und Hintersinn so glücklich über die Widersprüche einer Figur. Die Souffleuse bittet er um Textanschluss, raunzt sie danach an, sie habe ihn unterbrochen – bei einem seiner Endlosmonologe; vielleicht Regie-Einfall, vielleicht Improvisation aus augenblicklicher Textschwäche, es passt jedenfalls. Oder über ihr Unglück: Draußen der "wundervollste Tag", drinnen er von sich selbst eingesperrt in einem Raum, "der aber ohne meine Anwesenheit ein besserer Raum wäre". Jeder, der sich schon als Einzelgänger fühlte, kennt das.

Menschenfeind1 560 SimonHallstroem uDie Haare schön: Florian von Manteuffel als Alceste, Max Rotbarth als Philinte © Simon Hallström

PeterLicht lotet noch tiefer, um nichts zu finden. In der Eingangsszene, situiert in einem öden Hinterbühnenraum, fordert Alceste von Freund Philinte, er solle etwas Wahrhaftiges sagen. Max Rothbart antwortet ehrlich, er sei Schauspieler: Wenn er den fremden Text aufgesagt habe, gehe er nach Hause. Und Alceste? Wiegt sich in Ideen von "etwas Tieferem", das er nicht nennen kann. Seine Wahrhaftigkeit: demaskiert als Vorstellung. Seine ruppige Ehrlichkeit: Beziehungslosigkeit.

Die Jetzt-Zeit als Pandämonium

Entgegen PeterLichts ansonsten luzider Charakterisierung wirkt da die gesellschaftliche Aufteilung seines Alceste fast banal: Erstens, die "unokay" sind, zweitens, die "okay" wären, aber nicht bemerken wollten, wie "unokay" die Unokayen seien, und drittens, ihm als Einzigem, der es bemerke und der selber okay sei. Wie schon in seiner ersten Molière-Bearbeitung (Der Geizige, 2010) zeigt der Autor die Leute in anbiedernder Ausdrucksbeschränkung: viel Prolo-Slang, infantilisierende Namensnennung wie "Kasti", "Céli", "Arsi" etc.

Mit bitter-melancholischem Humor führt er die Jetzt-Zeit als Pandämonium vor. Oronte, einer der vielen Verehrer Célimènes, hat sich ihr Passfoto in die Eichel tätowieren lassen und will nun dafür von Alceste bewundert werden. In Célimènes Salon fordert die Abendgesellschaft einen "Handlungsstrang", an den sie sich halten könne, bis einer die "Flüchtlinge" im "Mittelmeer" erwähnt (die Worte werden schamvoll verschluckt): Man solle denen doch Kreuzfahrten statt Schlauchboote verkaufen, das wäre erst richtiger Kapitalismus.

Mit Spielspaß auf der Lachspur

Dass die Bühnenleute Monsterperücken und barocke Kostüme tragen, soll in der Verfremdung durchaus die heutige Neigung zu oberflächlicher Exzentrik vor Augen führen. In ihrer Gier nach Reizen, wo die Rede von Schmerzmitteln im Endstadium zur Idee eines potentiell tödlichen Sauna-Wettbewerbs wechselt, geht die Gesellschaft zu einem Workshop gegenseitigen Sich-Drückens über, was den Leuten endlich wieder ein Eigengefühl verschaffen soll.

Menschenfeind2 560 SimonHallstroem uJetztzeit-Pandämonium: Simon Zagermann, Elias Eilinghoff, Florian von Manteuffel, Max Rotbarth, Carina Braunschmidt, Liliane Amuat, Myriam Schröder, Mario Fuchs © Simon Hallström

Hier, bei dem Stück, das der Autor fast nur aus Alcestes Perspektive erzählt, wird PeterLicht selber zu Molières Titelhelden, der mit hochgespannter Sensibilität seine Umgebung analysiert. Seine Figur Alceste jedoch – es wirkt wie Resignation – lässt er, da und dort aufmuckend, mitmachen, ja nach einem Ausbruchsversuch aus der Gesellschaft sogar wieder zurückkehren. Florian von Manteuffel zeigt in seinen besten Momenten, dass sein Alceste die Gefangenheit in sich selbst bemerkt, macht aber im übrigen viele Faxen, die das Publikum erfolgreich auf der Lachspur halten.

Das Ensemble wirft sich mit sichtlichem Genuss in seinen Spielspaß. Regisseurin Claudia Bauer hat den Stoff mit teilweise derbem Klamauk, gegen Ende als Komikshow aufbereitet, die manche Nuance glättet oder unter sich begräbt. Aber die Bündelung, die zupackende Formung hat PeterLichts Text wohl auch gebraucht, der szenisch unterschiedlich dicht wirkt. Und der die Monologe und Dialoge allzu oft in allerlei Betrachtungen (Kapitalismus, Pop-Kultur, Feedback-Kultur, Wertefreiheit, Flip Flops im Sommer etc. etc.) im Comedy-Stil von "Das wollte ich auch noch sagen" abschweifen lässt.

 

Der Menschen Feind (UA)
von PeterLicht nach Molière
Inszenierung: Claudia Bauer, Bühne und Kostüme: Patricia Talacko, Dirk Thiele, Musik und Soundscapes: Peer Baierlein, Licht: Anton Hoedl, Dramaturgie: Constanze Kargl.
Mit: Liliane Amuat, Carina Braunschmidt, Elias Eilinghoff, Mario Fuchs, Florian von Manteuffel, Max Rothbart, Myriam Schröder, Simon Zagermann.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Die erste Hälfte des fast dreistündigen Abends findet Alfred Schlienger von der Neuen Zürcher Zeitung (16.4.2016) ganz amüsant. Die Schauspieler lieferten sich "hirnrissige Wortduelle in Nicht-Kommunikation, die sich gewaschen haben und das Premierenpublikum mehrmals zu Zwischenapplaus animieren. Sie tragen, sonst nur in Unterwäsche gekleidet, Riesenperücken, die sich auch gut als Bettvorleger eignen würden." Manches erinnert den Kritiker von ferne an René Polleschs Diskurstheater, "hat dank den skurrilen Liedern etwas mehr schräge Musikalität, aber kaum dessen Schärfe, Dichte und Tiefe – was sich nach der Pause schmerzlich bemerkbar macht. Und da wirkt auch die Regie etwas hilflos, wenn sie sowohl beim Verehrer-Auflauf im Salon als auch bei der Sauna-Weltmeisterschaft unlustig an der Klamauk-Schraube dreht. Der Saft ist raus. Die Scheisse dampft nicht mal mehr."

"Das ist originell, witzig, streckenweise fast genial, aber nach bald drei Stunden und einem endlosen Schluss nervt das Gelaber dann doch," schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.4.2016). Und bevor man Stuhlbeine vor Begeisterung abreiße, "müsste PeterLicht sich erst mal entscheiden, was er eigentlich will: Drück-Therapie für Drückeberger, Molière-Überschreibung, Sprachalchemie, barocke Dada-Revue, Liederabend. Theater im eigentlichen Sinne ist es nicht, aber das ist dann auch irgendwie egal."

Claudia Bauer lasse die "Figuren vollends Karikaturen werden", so Dominique Spirgi in der Tages Woche (online 16.4.2016, 15:41). Das komme im ersten Teil "ausgesprochen fulminant und zum Teil hinreissend komisch daher", nicht zuletzt dank "der begeisternden Spielfreude" von Manteuffels und Rothbarts, aber auch dank "der atemberaubenden Wortakrobatik des Autors, der aus Aussagen und einzelnen Begriffen in Beinahe-Endlos-Schleifen Sprachsinfonien dadaistischen Ausmasses komponiert." Auch der zweite Teil beginne "ausgesprochen vielversprechend"; "dann aber folgt der Absturz der Inszenierung." Nach dem "pamphletartigen ersten Teil" wäre jetzt eigentlich "Spielhandlung angesagt" gewesen. Stattdessen lasse Bauer "das Geschehen auf der Bühne im Chaos zerfleddern und zerdehnt es zugleich." Der Abend ende "im albernen Klamauk, der nicht mehr aufhören will."

 

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