Ho Ho Hochkomplex

von Christoph Fellmann

Luzern, 15. April 2016. Der Kapitalismus hat in seiner Geschichte zwei wirksame Strategien entwickelt, die dazu dienen, dass sich Aussenstehende, allfällige Kritiker zumal, möglichst nicht mit ihm befassen. Die eine Strategie besagt, dass die Wirtschaft zu komplex sei, um sie zu verstehen; ein Schimäre, die die Mehrheit der Menschen den Neoliberalen nur zu gerne glaubt. Hochfrequenzhandel, wie ging der nochmal? Flash Crash, anyone?

Die zweite Strategie hingegen basiert darauf, den Menschen mit der Buchhaltung zu kommen, sprich: sie aufs Entsetzlichste zu langweilen. So gesehen, ist Stefano Massini ein guter, ein begabter Kapitalist. Sein Theaterstück heisst "Lehman Brothers", hat 243 Textseiten und spannt seine Zuschauer nun auch in Luzern über dreieinhalb Stunden in sein Streckbett. Seit 2013, der Uraufführung in Paris, marschiert er durch das institutionelle Theater in Europa.

LehmanBrothers2 560 Tanja Dorendorf uLehmann-Theater-Brüder: Jörg Dathe, Hans-Caspar Gattiker, Marcus Signer, Felix Knopp, Bettina Riebesel.  Tanja Dorendorf | T+T Fotografie

Allmähliche Abschaffung der Realwirtschaft

Wie der Name des Stückes sagt, geht es darin um die gleichnamige Bank in New York, deren Zusammenbruch vor acht Jahren am Anfang der Finanzkrise stand. Der Text ist in Dialogen organisiert, dann als Langgedicht oder als erzählende Kolportage. Diese beginnt 1844, als Henry, Emanuel und Mayer Lehman aus dem bayrischen Rimpar in den USA ankommen. In Montgomery, Alabama, gründen sie einen Textilhandel, der allerdings schon früh den ersten Schritt macht zur virtuellen Wertvermehrung: Als "Mittler" kaufen die Lehman Brothers rohe Baumwolle und verkaufen zu einem höheren Preis weiter. Bald eröffnen sie ein Handelsgeschäft in New York und werden zur Bank. Diese investiert in alles, was Gewinn verspricht – in die Eisenbahn und die Ölförderung, in den Krieg und schliesslich in das schiere Geld.

Dieser Geschichte würde man gerne folgen, dieser allmählichen Abschaffung der Realwirtschaft. Doch hat der Theaterabend dazu nicht mehr zu bieten als jene ungefähre Ahnung, die man selbst schon mit ins Parkett gebracht hat, wenn man ab und zu mal Zeitung liest. Das liegt daran, dass sich weder Stefano Massini noch Regisseur Matthias Kaschig entscheiden können, ob sie nun die Finanzkrise von 2008 ff. herleiten wollen, eine Familiensaga erzählen oder doch die US-amerikanische Wirtschaftsgeschichte. Nach dreieinhalb Stunden hat ein Sklaventreiber seine Baumwollpflücker ausgepeitscht, ist die Eisenbahn von Ost nach West gefahren, wurde die Sezessionsflagge eingerollt und ein erster Weltkrieg geschlagen, ist Hitler gekommen und wieder gegangen, wurde das Marketing erfunden, ist eine Atombombe explodiert und hat manch ein Lehman Brother manch eine Frau gefreit und manch einen Stammhalter gezeugt. Und wussten Sie, dass in New York früher mal zwei hohe Türme standen?

Der schnöde virtuelle Schein

Was schon auf dem Papier als Skript für einen peinigend langen Telekolleg angelegt ist, vollstreckt Matthias Kaschig in Luzern nun als der gute, begabte Kapitalist, der auch er ist. Und zwar, indem er das, was im Text steht, in jedem Moment auch abbildet. Erzählt ein Lehman, er kämme sich den Backenbart, dann kämmt sich der Schauspieler den "Backenbart". Stirbt ein Lehman, zieht er sich die Schuhe aus und stellt sie an den Bühnenrand. Ist Weltkrieg, erscheint die Silhouette von Soldaten. Man merkt, das hat System, nur merkt man nicht warum. Was man aber schnell begreift, ist, dass sich mit dem Wachstum der lehmanschen Geschäfte auch das Bühnenbild mit immer mehr Kartonmodulen zu einer regelrechten Skyline anreichert; dies, während mit der erahnten Zunahme der ökonomischen Komplexität im Verlaufe der Stunden auch die Theatertechnik aufrüstet (Mikrofone, Videobeam und Effektgeräte an der Slidegitarre von Michael Frei). Das ist darum wichtig, weil am Ende, als die Bank zusammenbricht, die Kartonwand umfallen und der schnöde virtuelle Schein dem desaströsen Blick auf die Hinterbühne weichen muss.

LehmanBrothers1 560 Tanja Dorendorf uAlle mal herhören! Hier spricht der Kapitalismus: Felix Knopp, Bettina Riebesel, Jörg Dathe.
© Tanja Dorendorf | T+T Fotografie

Die vier Schauspieler und die Schauspielerin kämpfen sich durch, mit bravourösem Anstand, sie können nichts für diesen geisttötenden und geldvernichtenden Kehrausabend am Luzerner Theater, wo bald eine neue Intendanz anfängt. Man leidet mit ihnen, wenn sie Sätze aufsagen wie: "Das Computerzeitalter wurde ins Leben gerufen durch die Lehman Brothers, damit der Turm zu Babel nicht einstürzt." Sie müssen behaupten, die Ökonomie bestehe aus Flughäfen, Luxushotels und Telefonen, die ständig klingeln. Sie müssen über dreieinhalb Stunden diesen ganzen Unsinn durchexerzieren, der darauf hinausläuft, dass am Schluss leider kein Familienpatriarch mehr da war, der die dahergelaufenen "Trader" zur bürgerlichen Vernunft hätte bringen können. Wie wenn das Investmentbanking nicht System hätte. Nur eben, dieser neumodische Handel mit Geld ist "hoch kompliziert", weiss Massini. Was zu beweisen war: Kapitalismus lebt, Theater tot.

 

Lehman Brothers
von Stefano Massini
Schweizer Erstaufführung
Regie: Matthias Kaschig, Bühne: Michael Böhler, Kostüme: Stefani Klie, Musik: Michael Frei, Video: Sebastian Pircher und Roman Kuskowski, Licht: Marc Hostettler, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: Felix Knopp, Jörg Dathe, Bettina Riebesel, Hans-Caspar Gattiker, Marcus Signer.
Dauer: ca. 3 Stunden und 30 Minuten, eine Pause

www.luzernertheater.ch

 

Kritikenrundschau

"Fünf Schauspieler bewältigen das auf drei Stunden gekürzte Stück mit grosser Spielfreude und eindrücklichem Engagement", schreibt Kurt Beck in der Zeitung Zentralschweiz am Sonntag (17.4.2016). Dabei werde ihnen eine beachtliche Menge an Text abverlangt. "Die Schauspieler sind gefordert und überzeugen besonders im ersten Teil der Inszenierung, der den happigen Stoff mit witzigen Einfällen auflockert."

An keiner Stelle verrate Massini seine Figuren an naheliegende Klischees, findet Andreas Klaeui auf SRF 2 Kultur (19.4.2016). Vielmehr entwickele er sie ohne Häme, nachvollziehbar und mit Sympathie. "Die ungemütliche Einsicht dabei: So wie der kleine Fritz sich den Kapitalismus vorstellt – so ist er wohl." Kaschig inszeniere diese Saga "dicht und spannungsvoll, mit wenigen szenischen Andeutungen gelingt es ihm – und dem zur Hochform auflaufenden Luzerner Ensemble –, die wechselnden Stimmungen pointiert fassbar zu machen". Das ergebe "drei Stunden packendes Erzähltheater".

"Gäbe es Ratings für Theaterinszenierungen, diese hier hätte AAA verdient", lobt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (20.4.2016). Denn die Wirtschaftssaga werde "hinreissend" zur Schweizer Erstaufführung gebracht, "mit Schwung und Witz". Kleiner Einwand: "Die starke Stilisierung führt zu einer gewissen Putzigkeit; allerdings ist sie im Text schon angelegt, dessen poetischer Grundton in Luzern etwas zu kurz kommt."

 

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