Villa Weltenwust

von Dorothea Marcus

Dortmund, 15. April 2016. Die Welt hat sich in eine rasend Bilder ausspeiende, Netzhaut angreifende und Gehirn durchlöchernde Maschinerie verwandelt. Wie soll man das im Kopf nur irgendwie klarkriegen: den Terror der gleichzeitigen Ereignisse, die wir uns süchtig permanent medial zuführen. Die einschüchternde Rechthaberei der nebeneinander existierenden Parallelleben. Die zunehmende Unübersichtlichkeit des Lebens bei seiner gleichzeitig wachsenden Totaltransparenz. Schöne neue Welt.

Die Villa im Megastore

Der Dortmunder Intendant Kay Voges versucht, ihr in seiner neuen Arbeit "Die Borderline Prozession" in einer Art Gesamtkunstwerk, einer gewaltigen Musik-, Kunst-, Theater- und Filminstallation beizukommen. Zunächst darf der Zuschauer in der großen Megastore-Halle, in die das Schauspiel Dortmund aus Renovierungsgründen gezogen ist, noch selbst herumgehen und die Bühne bewundern: eine detailreich ausgestattete Villa mit zehn Zimmern in gediegenem Mittelstands-Retro-Schick. Auf der einen Zuschauerseite liegen die Innenräume: Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer, Bad, Dachterrasse, Garten, Fitnesskeller. Auf der anderen Seite sind die grauen, einsamen Außenräume: Bushaltestelle, Parkplatz, Kiosk. Man kann selbst entscheiden, welchen Ausschnitt man mit eigenen Augen sieht, darf die Perspektive jederzeit frei wechseln.

Borderline3 560 Birgit Hupfeld uIm Retro-Setting: Friederike Tiefenbacher, Frank Genser, Caroline Hanke, Bettina Lieder.
© Birgit Hupfeld

Und dann beginnt eine Prozession mit 23 Darstellern ums Haus, als wollten sie die irre gewordenen Weltgeister bannen. "Oh give me the words, that tell me nothing, that tell me everything" singen sie andächtig, schwenken Weihrauch, spielen Trompete, tragen Lämpchen wie Kerzen, vor ihnen schreitet der Dolly Grip und zieht bedächtig einen Kamerawagen, dirigiert vom danebenlaufenden Regisseur Voges. Zu den Worten der Genesis bevölkern sie nach und nach das Haus.

Im ersten Teil, "Alltag", beherrschen schöne, langsame Bilder die Szene, eine Edward-Hopper-Poesie der stummen Vereinzelung. Zunächst nimmt keiner Kontakt auf. Ein dicker Mann isst Frühstück. Eine Frau streichelt Farne. Der Mann auf der Terrasse guckt ins Teleskop. Auf der anderen Seite sitzt ein Flüchtling an der Bushaltestelle, irrt ein Mann orientierungslos: inszenierte, atmosphärische Stillleben über die Grenzen von Drinnen und Draußen, inspiriert vom Fotokünstler Gregory Crewdson.

Unheimliche Arrangements

Nach und nach kommen Mitspieler in die Zimmer: der dicke, essende Mann guckt eine Frau verliebt an. Ein Paar putzt die Zähne. Ein Mann sieht seiner Frau beim Schlafen zu. Ein Maskenmann irrt durch Türen und setzt sich mit aufs Sofa. Später wird er von der Frau verprügelt. Ein Mann im String tanzt vor Glitzervorhang. Ein Flüchtling in Anzug sitzt an der Bushaltestelle. Fast banale Alltagsarrangements, die durch die Gleichzeitigkeit suggestiv, sehnsüchtig und unheimlich wirken: das vorbeirasende Leben – teils betrachtet vom jeweiligen Sitzplatz aus, teils abgefilmt vom Kamerablick.

Auf großen Bildschirmen sieht man, wie er alle Geschichten omnipräsent kurz streift, die sich bei der nächsten Kamerarunde wieder verändert haben. Auf den Bildschirmen werden immer wieder Textausschnitte geblendet, die zeitversetzt auch von Schauspielern gesprochen werden. Gilles Deleuze spricht über unsere beschränkte Wahrnehmung. Dante über den Weg in einem dunklen Wald. Das AfD-Programm von heimatorientierter Theaterkunst. Nach einer Stunde werden wir aufgefordert, die Perspektive zu wechseln.

Borderline1 560 Birgit Hupfeld uHinter jeder Wand eine neue Wirklichkeit: Eva Verena Müller, Thomas Kaschel.
© Birgit Hupfeld

Dann folgt die "Krise", die sich vorher nur durch ein seltenes Donnern und eine kleine Folterszene im Whirlpool angekündigt hat. Effektsicher werden durch den grandios verschränkten Musikteppich (T.D. Finck von Finckenstein) die Emotionen aufgewühlt, dramaturgisch gekonnt Geschwindigkeit, Musikrausch und Bilderstakkato gesteigert: Der banale Alltag ist zur Festung geworden, bewacht von durch Masken entstellte Soldaten, ein Kriegsveteran humpelt mit Knarre und schießt um sich, die Kioskbesitzerin lässt die Jalousien herunter, ein Paar fällt übereinander her, eine Frau wird im Auto vergewaltigt, während der Mann am Steuer sie nicht einmal bemerkt und Francois Hollande spricht vom Kriegszustand: Jederzeit könnte das behagliche Drinnen zuende, der Firnis der Zivilisation durchbrochen sein.

Überforderungsgesellschaft mit zwanzig Lolitas

Es ist unmöglich, alles zu erzählen, die Überforderung ist Konzept in dieser verstörenden Lebens-Geisterbahn, die jeden auf sich selbst zurückwirft. "Clean the set", ruft der Regisseur und lässt die Zimmer leeren, die Halle zur Ruhe kommen, ein blonder, kitschiger Engel schreitet versöhnlich durch das Elend – auf einmal bricht Selbstironie durch die pathetischen Untergangsvisionen. Zwanzig Lolitas in blauen Kleidchen tollen durchs Haus als fleischgewordene Verheißung auf ewige Jugend, sie tragen einen toten Napoleon, denn Kriegsherren sind out – die starken Bilder verenden in popkultureller Beliebigkeit, das ist dann zum Schluss etwas schade.

Dennoch: Kay Voges hat in Dortmund einen großen Abend geschaffen, eine philosophische Welt-Installation über das Draußen und das Drinnen, Arm und Reich, Grenzen und Übergänge. Darüber, wie Bilder und Worte den Blick auf das Echte verstellen können. Eine grandiose Meditation über die Gleichzeitigkeit, über die man eigentlich nicht schreiben kann, weil man sich hineinbegeben muss.

 

Die Borderline Prozession. Ein Loop um das, was uns trennt
von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin
Regie: Kay Voges, Bühne: Michael Sieberock-Serafimowitsch, Kostüme: Mona Ulrich, Komposition/Live-Musik: T.D. Finck von Finckenstein, Video-Art: Mario Simon, Live-Kamera: Jonas Schmieter, Dramaturgie: Dirk Baumann, Alexander Kerlin.
Mit: Andreas Beck, Ekkehard Freye, Frank Genser, Caroline Hanke, Marlena Keil, Bettina Lieder, Eva Verena Müller, Peer Oscar Musinowski, Uwe Rohbeck, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth sowie Paulina Alpen, Amelie Barth, Carl Bruchhäuser, Thomas Kaschel, Nils Kretschmer, Anja Kunzmann, Lorenz Nolting, David Vormweg, Michael Wischniowski, Raafat Daboul.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, zwei Pausen

www.theaterdo.de

 

Wie das Borderline Prozession-Gastspiel beim Berliner Theatertreffen ankam, lesen Sie hier.

 

Kritikenrundschau

Regisseur Voges und seine Dramaturgen haben Miniszenen entwickelt voll "schmerzhafter Schönheit", so Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (28.4.2016), als würde jedes Ereignis erst dann "wirklich", wenn die Kamera es einfängt und auf Leinwand bannt. "Absolut beeindruckend ist, wie das Spiel fürs Publikum und das für die Kamera perfekt harmonieren – so als wären Kino und Theater nie getrennte Künste gewesen." Der technisch perfekte Bilderreigen lulle ein, die bedeutungsschwere Kombination aus Filmmusik und nachdenklichem Text beginne nach dem Anfang aber langsam zu nerven. Fazit: "Inhaltlich bleibt das Konzept sicherlich ausbaufähig. Als Formexperiment aber, als Reflexion über eine Theaterästhetik des Internet-Zeitalters setzt der Abend definitiv einen Standard."

"Manchmal fühlt man sich wie in einem Seminar für Wahrnehmungsphilosophie, übersetzt in ein prachtvolles Schauspiel", schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (18.4.2016). Voges arrangiere "einen Bilderrausch, bei dem alles im Moment geschieht, nichts aus der Konserve kommt, selbst die geisterhaften Momente, bei denen auf dem Bildschirm Aufnahmen von vor fünf Minuten eingeblendet werden, so dass Menschen sich verdoppeln oder verdreifachen". Zwar würden die gegenwärtigen Zustände finster gezeichnet, dennoch biete der Abend auch Momente des Trostes und der Leichtigkeit. "Voges hat sein Totaltheater perfektioniert. Was hier geschieht, ist aufregend, überraschend und frisch."

"Ein großer Abend", findet auch Arnold Hohmann auf derwesten.de (18.4.2016), auch wenn ihn das Ende nicht überzeugt. "Drei aufregende Stunden lang" webe Voges einen monströsen "Bilderteppich über die Gleichzeitigkeit des Seins, ein Gesamtkunstwerk aus szenischen Situationen, aus Musik, Zitaten und mobiler Video-Kamera".

Pressestimmen zum Gastspiel beim Berliner Theatertreffen 2017:

"'Borderline Prozession' schafft ein neues Genre – das gespielte multimediale Programmheft", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (9.5.2017). "Bertolt Brecht, Donald Trump, das alte Testament. Die Posaunen von Jericho. (…) Dirigiert von Kay Voges, dem Bonaparte aus dem Ruhrgebiet." Technisch-logistisch sei es "ein Riesending, doch zu sauber, zu clever. So oberflächlich wie die Oberflächen, die 'Borderline Prozession' angreift“, so Schaper: „Es geht um alles, und im Grunde passiert nichts."

Eine "stumpfe Gegenwartsbeschwörung, eine Anbetung der Gleichzeitigkeit" hat Dirk Pilz erlebt und schreibt in der Berliner Zeitung (9.5.2017): "Das ergibt ein Total-Theater, das nie auf den Gedanken kommt, seine eigene Weltwahrnehmung zu hinterfragen, das die Rede von der medialen Überforderung blindlings wiederkäut, das Wirklichkeitsabmalen schon für Gestalten, das Zitieren bereits für Begreifen hält."

Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (10.5.2017) möchte diese Produktion "nicht verpasst haben: ein inhaltlich zwar etwas verquastes, mitunter auch kitschiges, optisch aber superbombastisches, die Wahrnehmung multimedial auf höchstem Technikniveau aus den Angeln hebendes, die Sinne hypnotisierendes Mashup- und Totaltheater in live produzierten Bildern und Textzitaten. Ganz große Hightech-Oper in Endlosschleife. Prädikat: bemerkenswert."

Man könne "sich aufregen", was Kay Voges "hier an Bedeutungsvollem übereinanderstapelt und dann gleich wieder wegwischt, wie er Wissen, Bildung, Hochkultur häppchenweise einstreut, das hat etwas Großspuriges", schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (12.5.2017). "Und dennoch entsteht in diesem Andeuten von Geschichten, in diesem Fluten von Bildern, in dem Hochtunen von Stimmungen – auch von Panik und Bedrohung – , in den Verweisen auf Tagespolitik durchaus eine Zustandsbeschreibung, in der man sich wiederfinden kann. Das unaufgeräumte Hirn, durch das dieser Trip hier geht, könnte das eigene sein."

Pressestimmen zum Gastspiel beim Berliner Theatertreffen 2017:

"Nirgends ist Ruhe an diesem Abend, alles in Aufregung. Es ist viel Hysterie, viel Groteskes, Überzeichnetes, nirgends ohrensesselhafte Erinnerungsgemütlichkeit", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (15.5.2017). Der Abend locke den Betrachter ins Netz der Erinnerungsstimmen, auf dass er sich darin verfange, sich aufrege, nach neuen, anderen Verknüpfungen suche. "Die Inszenierung erteilt seinem Zuschauer einen Auftrag: Das Erinnern hat gerade erst angefangen, es ist keine bloße Ost- oder Westaufgabe, es ist die Aufgabe eines jeden."

ein monströser Bilderteppich über die Gleichzeitigkeit des Seins, ein Gesamtkunstwerk aus szenischen Situationen, aus Musik, Zitaten und mobiler Video-Kamera

Die Gleichzeitigkeit des Seins | WAZ.de - Lesen Sie mehr auf:
http://www.derwesten.de/kultur/die-gleichzeitigkeit-des-seins-aimp-id11743986.html#plx410217548

ein monströser Bilderteppich über die Gleichzeitigkeit des Seins, ein Gesamtkunstwerk aus szenischen Situationen, aus Musik, Zitaten und mobiler Video-Kamera

Die Gleichzeitigkeit des Seins | WAZ.de - Lesen Sie mehr auf:
http://www.derwesten.de/kultur/die-gleichzeitigkeit-des-seins-aimp-id11743986.html#plx410217548auf derwesten.de (18.4.2016)

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