Im Loch

von Falk Schreiber

Hamburg, 16. April 2016. Blanche DuBois ist entsetzt. "Dass du in solch einem Loch leben musst!", schleudert sie ihrer Schwester Stella entgegen. Deren beengte Wohnsituation ist nicht standesgemäß für die Familie DuBois, alte Südstaaten-Aristokratie, längst verarmt zwar, aber trotzdem. Wobei das mit dem Loch im Hamburger Thalia Theater nicht einmal metaphorisch gemeint ist: Florian Lösches Bühne ist nämlich tatsächlich ein Loch, eine schwarze Wand direkt an der Rampe, aus der ein riesiges Loch herausgebrochen ist. Wie das Negativ einer Gipsfigur, das innen mit weichem Schaumstoff ausgekleidet ist, über den sich beeindruckend tanzen, hüpfen, stürzen lässt. Eine Nicht-Bühne also, eine großartige, vieldeutige Lösung.

Auf Nummer sicher

Womit sich die Vieldeutigkeit dieser Inszenierung von Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht" allerdings auch schon erschöpft. Die Produktion wurde erst spät in den Thalia-Spielplan aufgenommen: Eigentlich hätte an dieser Position Alvis Hermanis ein Stück namens "Russland. Endspiele" inszenieren sollen, vorigen Dezember gab der allerdings die Aufgabe zurück, weil ihm das politische Engagement des Thalia zu Refugees-freundlich war. Stattdessen gibt es jetzt "Endstation Sehnsucht", mit Lars-Ole Walburg als Regisseur, der als Intendant in Hannover für politisch scharfes Theater steht und gleichzeitig nicht den Ruf hat, unerwartet rechts abzubiegen. Eine sichere Nummer also, auch wenn einem nicht von vornherein klar ist, weswegen die Themen von "Endstation Sehnsucht" heute auf den Nägeln brennen sollten.

Sehnsucht001 560 Krafft Angerer hGemeinsam einsam: Sebastian Zimmler (Stanley), Patrycia Ziolkowska (Stella) und Karin Neuhäuser (Blanche) © Krafft Angerer

Immerhin, das Programmheft behauptet mit einem klugen Aufsatz Amiri Barakas eine politische Dringlichkeit von Tennessee Williams – die die Inszenierung allerdings kaum einlöst. Walburg inszeniert den Stoff zwar mit gut zwei Stunden Spieldauer ziemlich straff, inhaltlich aber recht brav an Williams' Vorlage entlang. Blanche nistet sich bei Stella und ihrem Mann Stanley ein, Blanche nervt mit Allüren und Überspanntheiten, Blanche macht sich an den Nachbarn Mitch ran, Stanley findet raus, dass Blanche von vorn bis hinten lügt, Stanley vergewaltigt Blanche. Fertig. "Im Kampf von Blanche DuBois gegen Stanley Kowalski (...) geht es, leicht erkennbar, um die Macht der Kontrolle, die Macht, Zugehörigkeiten bestimmen zu können", schreibt Baraka, aber in Hamburg ist Blanche vor allem eine Figur, der die Realität entgleitet, und die in ihrer Hilflosigkeit in eine fatal falsche Gesellschaft geraten ist. Man möchte mit Baraka Politik sehen, doch man sieht einen Psychothriller, der über ein arg konventionelles Verständnis von Einfühlung funktioniert.

Aber: Er funktioniert, durchaus. Was nicht zuletzt am Ensemble liegt, Karin Neuhäuser, die Königin der hochgezogenen Augenbraue, als Blanche, Patrycia Ziolkowska mit durchaus emanzipatorisch zu verstehender Freude an selbstbestimmter Unterwerfung als Stella, Stephan Bissmeier mit gehemmter Aggression als Mitch (für dessen ausgesucht geschmackloses Alpaka-Sakko ein Extra-Applaus an Kostümbildnerin Heide Kastler geht). Mit Sebastian Zimmlers Stanley ist es schon schwieriger: Der würde ja eigentlich auch als Ironiker durchgehen, immerhin ist er der einzige, der kapiert, was Sache ist. Zimmler legt ihn aber konsequent als triebgesteuerten Proll an, der konsequenterweise schon in der ersten Szene sein Shirt auszieht. Ohnehin zeigt die gesamte Zeichnung von Stanleys Umfeld hier einen Zug ins Sozialvoyeuristische: dauerbesoffene Typen, die kaum einen geraden Satz hinbekommen. Was nicht gerade für die politische Wachheit der Inszenierung spricht.

Schulklassen-Theater

Wenn es um Sex geht (und um den geht es häufig), verrutschen dem Abend auch noch die Bilder. Dann nämlich wird der stimmige Schlagzeugscore des darstellerisch weitgehend unterforderten Tilo Werner ergänzt durch wimmernde Slide-Gitarren, das Licht wird gedimmt, und auf der Bühne sieht man zuckende Schenkel, hochgeschobene Kleidchen, cleane Posen aus der Rumpelkammer der Erotik. Das sind ästhetisch konventionelle Fehlgriffe, die dem Thalia manchmal unterlaufen – immer dann, wenn es Pop sein möchte, in Bastian Krafts Jedermann etwa oder in Jette Steckels Spielplan-Dauerbrenner Die Tragödie von Romeo und Julia.

Freilich, diese "Endstation Sehnsucht" hat das Zeug dazu, ähnlich häufig für ein ausverkauftes Haus zu sorgen wie besagte "Romeo und Julia"-Inszenierung. Lehrer können mit ihren Klassen in die Aufführung gehen, hinterher können sie sagen: "Ja, war schon sehr modern, aber man konnte durchaus noch erkennen, was Williams mit dem Stück sagen wollte." Und die Klasse wird es toll finden, weil es stimmig war, spannend und manchmal krass. Was aber Regisseur Walburg, was die Thalia-Dramaturgie über die Hoffnung auf einen Kassenschlager hinaus an diesem Stück interessiert hat, das bleibt im Dunkeln.

 

Endstation Sehnsucht
Von Tennessee Williams, Deutsch von Helmar Harald Fischer
Regie: Lars-Ole Walburg, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Heide Kastler, Musik: Markus Hübner, Choreografie: Valentí Rocamora i Torà, Video: Bert Zander, Dramaturgie: Julia Lochte.
Mit: Stephan Bissmeier, Christina Geiße, Lorenz Hochhuth, Arman Kaschmiri, Karin Neuhäuser, Tilo Werner, Sebastian Zimmler, Patrycia Ziolkowska.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Sein Armutsviertel New Orleans' ist hier eine riesige Tetris-Höhle aus hellblauem Schaumstoff, wie ihn Architekten zum Modellbau verwenden", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (29.4.2016). Das durchbreche erfreulich die ermüdende Serien-Ästhetik des Thalias, wo der Raum eigentlich grundsätzlich aus dem schwarzen Guckkasten bestehe. "Walburg setzt lieber auf jene Qualität, die in einem Thalia-internen Bonmont so ausgedrückt ist: Drei Dinge auf der Bühne stehlen jedem Schauspieler die Show - Kinder, Tiere und Karin Neuhäuser." Der Abend fokussiere auf Gagfang, Slapstick, Pointe, was Neuhäuser als Blanche virtuos beherrsche. Allerdings raube dieses Spielen für sich, das natürlich für alle anderen das gleiche Vorgehen erzwingt, "dem Drama jede Subtilität der Beziehungen, jede Tiefe und die Chance der emotionalen Beteiligung".

Tolle Bühne, ansprechende Ästhetik, klasse Ensemble: aus Sicht von Heiko Kammerhoff von der Hamburger Morgenpost (18.4.2016) mangelt es trotzdem "an mitreißenden Momenten und echter Leidenschaft. Die Konflikte werden eher ausgestellt als ausgefochten. Die zweistündige Inszenierung ist zwar hübsch anzusehen, bleibt aber recht eindimensional."

Von einer straffen, sehr soliden Stadttheaterinszenierung  mit fabelhaftem Ensemble spricht Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (18.4.2016).

"Ein Schlagzeug (Tilo Werner trommelt als Steve) und ein wenig schlechte Stand-up-Comedy (alle). Weitere Ablenkungsmanöver sind Walburg für seine konzertante Interpretation nicht eingefallen, woraus sich leider mühelos folgern lässt, dass ihm zum Stück überhaupt nichts eingefallen ist", schreibt Stefan Grund auf Welt-Online (18.4.2016). Mit ihrem Bühnenbild würden Lösche und Walburg einen Klassiker des psychologischen Realismus ins Abstrakte verlegen. "Was aber soll das werden? Abstrakter Psychologismus? Surrealistischer Realismus? Beides geht gar nicht". Deutlichster Ausdruck der "Stückverachtung und allgemeinen Ernsthaftigkeitsverweigerung, der Literaturferne und schnöseligen Staatstheaterdummheit" ist aus Sicht des Kritiker "die Besetzung gegen den Strich".

"Ein Fest für Augen und Ohren", so Heide Soltau auf der Webseite des NDR (17.4.2016). Lars-Ole Walburg habe dem angestaubten Stück "eine Frischkur verpasst, die ihm gut getan hat". Zum einen durch das abstrakte Bühnenbild von Florian Lösche, "das den zehn Darstellern ein herrliches, wenn auch gefährliches Spielfeld bietet". So gerät Walburg aus Sicht der Kritkerin erst gar nicht in Versuchung, "etwas naturalistisch nachstellen zu wollen." Eine wichtige Rolle spiele ferner die Musik von Markus Hübner. Die Hauptanteil am Gelingen haben, so Soltau, die Darsteller. "Es ist ein Schauspielerabend vom Feinsten, der bis in die kleinsten Rollen hinein vorzüglich besetzt ist."

Kommentare  
Endstation Sehnsucht, Hamburg: persönliche Meinung
Ich finde in dieser Kritik vor allem den Maßstab der persönlichen Meinung wieder. Sollte Kritik nicht zunächst einmal nach der Intention fragen und dann beleuchten, wie die Umsetzung gelungen ist? Der Kritiker stellt fest, daß die Geschichte "über ein arg konventionelles Verständnis von Einfühlung" erzählt wird. Das würde "funktionieren", es scheint also in sich stimmig und wirksam. Der Kritiker sieht aber offenbar gar keine Regie am Werk, denn ein Konzept erkennt er nicht. Ich erfahre nur, was ihn interessiert hätte: Ein Machtdiskurs und eine intelligentere Zeichnung der männlichen Hauptfigur. Einen triebgesteuerten Proll auf der Bühne zu zeigen ist für den Kritiker "Sozialvoyeurismus". Und am Ende bügelt der Kritiker auch noch beiläufig eine andere Inszenierung des Hauses weg, die offenbar auch auf dem alten "Einfühlungskonzept" beruht. Das alles ist, so meine Meinung, dem Getippe eines (…) entsprungen, der als Kritiker noch einen weiten Weg vor sich hat.
Endstation Sehnsucht, Hamburg: Verlust
Die Dramaturgie des Hauses scheint seit einiger Zeit nicht mehr treffsicher.
Endstation Sehnsucht, Hamburg: Jedermann
"Und am Ende bügelt der Kritiker auch noch beiläufig eine andere Inszenierung des Hauses weg, die offenbar auch auf dem alten "Einfühlungskonzept" beruht"

Ich habe Endstation nicht gesehen, wohl aber jedermann.

Was der Autor darüberschreibt stimmt vollkommen.Ein derartig eitles und von Regieidee freier Abend gehört nicht auf eine große Bühne...
Endstation Sehnsucht, Hamburg: Essen
In meinem Kommentar oben ist das Wort - darf man es sagen - "Theaterwissenschaftsstudent" zur Beleidigung erklärt worden. Leute, seid ihr sicher, daß ihr richtig sitzt und immer gut eßt? Was habt ihr denn studiert?
Endstation Sehnsucht, Hamburg: sexistische Fehlgriffe
Falk Schreiber hat keine anderen Inszenierungen des Hauses weggebügelt, sondern sich bei diesem Kritikpunkt explizit auf die Sexszenen bezogen. Mir ist auch schon mehrmals unangenehm aufgefallen, dass Erotik bei dortigen Arbeiten oft einfach geschmacklos, klischeehaft und/oder sexistisch dargestellt wird. Besonders gern werden Männer (bei "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" auch noch ein Rollstuhlfahrer) kurz mal von irgendwelchen berechnenden Ludern oral befriedigt und dann achselzuckend stehengelassen. Ja, das ist ein weites Feld - aber auch auf solche Fehlgriffe sollte die Führung des Hauses doch eigentlich ein Auge haben, oder?
Endstation Sehnsucht, Hamburg: Publikum unterschätzt
Also dass diese Inszenierung tatsächlich ein Kassenschlager wird - auch wenn er wohl als solcher ins Programm gehievt wurde - bezweifle ich. Ich glaube, Theaterleute unterschätzen das Publikum. Am Thalia bekommt zwar schon aus Sympathie (und oft auch Mitleid) das wirklich gute Ensemble immer viel Beifall. Denn Die Schauspieler können schließlich nichts für Fehlbesetzungen. Aber das heißt nicht, dass den Zuschauern auch die jeweilige Inszenierung gefallen hat.

Michael Laages (deutschlandfunk) war auch not amused. Es werde die "uralte Version von Helmar Harald Fischer gespielt, und die ist so staubig wie immer. Da "Sebastian Zimmler als Stanley eher als eine Art Otto-Waalkes-Verschnitt" sei, falle das Stück "wie ein Kartenhaus in sich zusammen". Sein Fazit: "Nicht viel mehr als eine mehr oder weniger animierende Nummernrevue." http://www.deutschlandfunk.de/endstation-sehnsucht-am-hamburger-thalia-theater-staubig.691.de.html?dram:article_id=351741
Endstation Sehnsucht, Hamburg: sinnlose Kritik
Auch Herr Schreiber gehört zu der wenig erbaulichen Clique von Schreibern, die lieber inszenieren denn rezensieren. Was ihnen unbenommen sein soll, was aber eben die Auseinandersetzung mit derartigen Kritiken sinnlos und damit solches Geschreibe funktionslos macht
Endstation Sehnsucht, Hamburg: schauerliche Dramaturgie
die hamburgische "dramaturgie" ist seit dieser saison schauerlich. selten so einen langweiligen spielplan gesehen.
Kommentar schreiben