Unterm Neon-Heiligenschein

von Alexander Kohlmann

Hannover, 16. April 2016. Dunkles, hölzernes Kirchengestühl ragt am linken Rand bis weit in den Zuschauerraum des Schauspielhauses Hannover hinein. Rechts steht ein riesiges, schwarzes Kreuz mit einer Jesus-Figur, an dessen Sockel schon ein lachender Totenkopf lauert. Rote Kirchenkerzen brennen. Ein Gaze-Vorhang mit opulentem Heiligenbild versperrt den Blick auf die Bühne, dahinter flackert es verführerisch.

Im Bergwerk

In der Welt von Bühnenbildner Volker Hintermeier irren die Menschen wie durch die Gänge eines riesigen Bergwerkes und suchen verzweifelt nach einem Gott. Eine drehbare Installation mit Treppen und Gängen, in deren Mitte sich eine Art offener Trichter befindet, in dem wahlweise der alte Karamasow sein Geld zählt, Frauen ihre Liebhaber empfangen oder ein Priester-Mönch mit dem ins Kloster geflüchteten Aljoscha (Günther Harder) kluge theologische Diskussionen führt. Alles komplett sinnlos, denn Gott zeigt sich nicht. Da kann Aljoscha noch so viel im weißen Büßergewand über die Bühne laufen. Über dem Jesus am Kreuz flackert immer nur der blendend-weiße Neon-Heiligenschein.

karamasow2 560 KatrinRibbe uDiskussionen mit Papa: Günther Harder, Susana Fernandes Genebra, Andreas Schlager (als Lebemann-Vater Fjodor Karamasow), Jonas Steglich, Sebastian Grünewald © Katrin Ribbe

Kein Gott, aber Cognac

Am besten kommt in Martin Laberenz' Adaption von Dostojewskijs "Die Brüder Karamasow" noch der alte Vater (Andreas Schlager) mit der völligen Abwesenheit einer übergeordneten Instanz klar. Unter einer Glühbirne kippt der fette, bärtige Lebemann in den Bergwerks-Gängen den Cognac aus Plastik-Kanistern in Liter-Größe in sich hinein, wenn er nicht zwischen den Gelagen sein Geld zählt oder seinen Söhnen kluge Ratschläge erteilt. Neben dem finanziellen Wohl seien doch nur die Frauen von Belang, worüber man sich im Zweifel schon mal streiten kann, notfalls auch mit dem eigenen Nachwuchs. Nach dem Tod erwartet Karamasow-Senior dagegen gar nichts. Zwischen all den Heiligen-Figuren, Totenköpfen und blakenden Kerzen suhlt er sich im orangenen Bademantel behaglich im Exzess – die ganze Heiligkeit, sie kratzt ihn nicht.

Sohn Dmitrij kommt dem Alten noch am nächsten. Henning Hartmann spielt ihn als von Leidenschaft zerfressenen Getriebenen, der mit verzerrtem Gesicht das Objekt der Begierde ständig wechselt. Frauen raunen und wispern durch die Trichter-Gitter, Scheinwerfer glühen, Dmitrij weiß nicht wohin, zumal auch noch eine komplizierte Finanz-Geschichte durch sein Leben rauscht. Dann die Ablenkung: Der Heiland hängt schief. Unter den entsetzten Augen des heiligen Bruders versucht Dmitrij das in seinem Wahn zu korrigieren, reißt die erstaunlich leichte Statue herunter, trägt sie durch den Raum und hängt sie schlussendlich verkehrt herum wieder auf. "So jetzt passt das Ganze". 

karamasow1 560 KatrinRibbe uDie Schauspieler*innen im Karamasow-Trichter ratlos? Lisa Natalie Arnold, Günther Harder und Katja Gaudard © Katrin Ribbe

Fokussierung oder Wahnsinn

Es gibt in der Tendenz zwei Pole, zwischen denen sich Dostojewskij-Inszenierungen in Deutschland bewegen. Die einen kürzen die gewaltigen, vielhundertseitigen Vorlagen klug auf einen oder mehrere Aspekte ein und bringen klinisch-reine Inszenierungen auf die Bühne, die mehr oder weniger gelungen ein Schlaglicht auf Einzel-Aspekte werfen: schöne Bilder, handliche Zeiten. Die anderen (à la Castorf) setzen sich und ihr Ensemble dem Theorie- und geistesgeschichtlichen Wahnsinn aus, wühlen sich noch in der Premiere durch den Text, probieren gar nicht erst, der Mehrdimensionalität und dem Gigantismus der Vorlage mit Fokussierungen zu Leibe zu rücken, sondern erklären das zwingende Scheitern jeder Theateradaption zum Programm.

Sebastian Hartmann hat das vor zwei Jahren mit seiner Dämonen-Installation am Schauspiel Frankfurt gewagt, die nach einem dichten Start genauso faszinierend-endlos zerfaserte wie diese hannoversche "Brüder Karamasow". Die den Zuschauer noch nach Stunde vier, im Zustand der Kollektiv-Erschöpfung, mit der immer neu aufflammenden Verzweiflung über die Abwesenheit von Gott und geistesgeschichtlichen Theorien traktiert.

Schweigen ernten

Da steht dann der priesterliche Aljoscha in seinem weißen Leibchen vor dem Kreuz und schreit die leichtgewichtige Statue an, warum "er" denn niemals, nur ein einziges Mal mit ihm gesprochen habe. So wie den falschen Glauben reißt er sich die Kleidung vom Körper, kriecht in Unterwäsche über die Bühne, rumort und krakeelt und erntet doch nur Schweigen und Finsternis. Nur auf dem Kirchengestühl sitzt stumm eine schwarze Gestalt. Der illegitime Sohn Smerdjakow (Jakob Benkhofer) schaut der Familie Karamasow lustvoll beim Zerbrechen zu. Dass er der Mörder des Alten ist, weiß niemand, nicht einmal der Mord spielt in den ersten vier Stunden eine Rolle.

In Laberenz' strapaziöser "Karamasow"-Annäherung schaffen die Söhne die Selbstzerstörung in einer gottlosen Welt getrost ganz alleine, dafür brauchen sie auch keinen Vater-Sohn-Konflikt. Und die Zuschauer, die es länger aushalten, gleiten stufenweise immer tiefer mit in diese trostlose Welt, in der spätestens nach der Pause niemand mehr die konkreten Handlungsstränge nachvollziehen kann – sondern sich ein Karussell aus Bildern und Tönen zu einer überzeugenden Dostojewskij-Installation verdichtet. Eine, die den Roman nicht nacherzählt, sondern von ihm ausgehend etwas Neues schafft, das erstmal durchdrungen sein will.

 

Die Brüder Karamasow
nach dem Roman von Fjodor Dostojewskij in der Übersetzung von Swetlana Geier
Regie: Martin Laberenz, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Friederike Bernhardt / Johannes Cotta, Dramaturgie: Johannes Kirsten.
Mit: Lisa Natalie Arnold, Susana Fernandes Genebra, Katja Gaudard, Vanessa Loibl, Jakob Benkhofer, Sebastian Grünewald, Günther Harder, Henning Hartmann, Andreas Schlager, Jonas Steglich sowie den Musikern Friederike Bernhardt und Johannes Cotta.
Dauer: 5 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

"Es scheint legitim, auf eine Atmosphäre der kollektiven Erschöpfung und der Trostlosigkeit abzuzielen, also eher eine Stimmung zu erzeugen als eine geschichte zu erzählen, die brav von A nach B voranschreitet", findet Jörg Worat in der Neuen Presse (18.4.2016). Aber der Abend funktioniere trotzdem nicht. "Denn er ist zu unentschieden. Ernsthafte Dialoge können sinnfrei in Klamauk umkippen, irgendwann gibt es eine Nacktszene, und man weiß nicht, warum. Es kommt zu Textwiederholungen, durch die alles noch zäher wird."

Große Themen werden verhandelt, großartige Schauspieler gibt es zu sehen, und ja, die Maßlosigkeit, die passt auch zum Roman "Die Brüder Karamasow", findet Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (18.4.2016). Kurz: "Der lange Abend ist zwar voll vonstarken Momenten, aber irgendwann fangen der ewig rotierende Kaffeefilter, der ewig wallende Bühnennebel und das ewige Herumgeschiebe der mannshohen Christusfigur auch zu nerven an".

Laberenz' ansonsten gerühmte szenische Fantasie ersticke in Dostojewskis Materialfülle, so Reinhard Wengierek in der Welt (19.4.2016). Das "offensichtlich bis an den Rand der Erschöpfung geprobte Ensemble" bleibe kraftlos, chargiere sich hysterisch kreischend oder unverständlich nuschelnd über die Runden. "Kein explodierendes Zusammenspiel. Keine von Wahn, Gier, Verzweiflung und Sehnsucht getriebene Seelen, kein Fegefeuer von Schuld und Sühne. Höchstens ein funzelndes Lagerfeuerchen, umturnt von lahmen Seelchen, begleitet vom grummelnden Soundtrack zweier Musiker, die aussehen wie in Tschernobyl verstrahlte Zotteltiere."

 

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