Der ganz große Coup / Sibylle Berg im Interview

von @regenbericht

18. April 2016. Aufregung in der Redaktion! @SibylleBerg hatte sich kurzfristig zu einem Interview bereit erklärt.

"Wer?", fragte der Heiner Müller-Experte?
"Na, Sibylle Berg. DIE Sibylle Berg.“
"Macht die Theater?"
"Halbtags", sagte die Chefredakteurin. "Vor allem ist sie ein Social-Media-Star, ein richtiger Klickgarant. Die hat fast 50.000 Follower auf Twitter und eine Spiegel-Kolumne. Und sie schreibt immer über ganz heikle Themen."
"Über die Unverzichtbarkeit der Utopie des Sozialismus? Oder die Funktion der Kunst als Unmögliches der Wirklichkeit?“, fragte der Heiner Müller-Experte.
"Nein, meistens über weiße, dumme Männer."
"Und worüber will sie mit uns sprechen?"
"Sie will ihr erstes Gedicht promoten.“

"Aber wir sind doch nachtkritik.de und nicht lyrikline.org", wandte die Chefredakteurin ein.
"Ist mir doch egal", zischte die Geschäftsführerin. "Ein Interview mit der Berg verschafft uns mehr Likes und Herzchen als ein Selfie von Kim Kardashian mit Tierbabys aus Idomeni."

So war es also beschlossene Sache.

Der Jungredakteur und die Niedersachsen-Beauftragte sollten das Interview führen. Die Niedersachsen-Beauftragte, weil sie eine glühende Verehrerin Sibylle Bergs war und der Jungredakteur, um den investigativen Schliff in das Gespräch zu bringen und außerdem, weil er die kürzeste Salzstange gezogen hatte.

Die beiden hatten vor Nervosität schon die ganze Packung aufgeknabbert, als Sibylle Berg herself endlich in die Redaktion rauschte.

In der ihr eigenen Ambivalenz aus Esprit und Phlegma ließ sich die Grande Dame der Retweets auf einen Freischwinger fallen.

"Frau Berg, wie schön, dass Sie kommen konnten. Ich habe auf Twitter gesehen, dass Sie im Urlaub waren. Wie war das Wetter?", begann die Niedersachsen-Beauftragte das Interview so unverfänglich, wie sie es an der Volkshochschule Hildesheim gelernt hatte.

"Hervorragend“, nickte sie eifrig. "Kommen wir nun zu etwas eher Heiklem. In der letzten Woche gab es in den sozialen Medien nur ein beherrschendes Thema…"

"Ich wollte auf etwas anderes hinaus“, stotterte die Niedersachsen-Redakteurin.

"Wir nähern uns an“, lachte die Niedersachen-Beauftragte befreit. "Also, was sagen Sie zur Causa Böhmermann?"

"Damit ist wohl alles gesagt."
"Unsere nächste Frage: Wie kommen Sie auf die Ideen für Ihre Texte? Wo finden Sie Inspiration?"

"Wie interessant", strahlte die Niedersachsen Beauftragte. "Dann vielleicht jetzt etwas Persönlicheres: Sie kämpfen an allen Fronten gegen die Unterdrückung der Frauen, den Terror und die ganze Ungerechtigkeit der Welt. Gibt es irgendetwas, wovor Sie sich fürchten?"

"Vielleicht kommen wir zum eigentlich Zweck Ihres Besuchs", blieb der Jungredakteur professionell. "Wir haben die große Ehre, heute exklusiv auf nachtkritik.de Ihr erstes Gedicht zu präsentieren. Würden Sie es vortragen?"

Sibylle Berg nickte feierlich, stand auf, faltete die Hände vor dem Schoß und blickte ihrem Publikum so zuversichtlich entgegen wie eine Erstkonfirmandin in Erwartung des Geldsegens. Mit fester Stimme begann sie zu sprechen.

Erwartungsvoll sah Frau Berg auf die Redakteure hinab.
"Wow", rief die Niedersachsen-Beauftragte höchstens drei Millisekunden zu spät.
"Irre", pflichtete der Jungredakteur bei und klatschte versuchsweise in die Hände. "Und es hat sich sogar gereimt."

Der Jungredakteur flüchtete vor Frau Bergs stechendem Blick hinter seinen Spiralblock. "Vielleicht macht meine Kollegin einfach hier weiter. Ich muss es eh noch eine Kampagne gegen Peymann lancieren-“, aber Frau Berg hielt ihn zurück. 

"Entschuldigen Sie meinen Kollegen! Er hat keine Ahnung von Lyrik", beeilte sich die Niedersachsen-Beauftragte zu versichern und stieß ihrem Kollegen #AUA einen Faber-Castell-Stift in die Seite.

Aber Sibylle Berg hatte sich schon abgewendet und ließ zerknirscht die Schultern hängen. Überbetont höflich bat sie darum, das Interview abzubrechen.

Als sie ging, war die Stimmung in der Redaktion am Tiefpunkt. Nur die Geschäftsführerin frohlockte: "Was für ein Coup! Ich sehe schon die Schlagzeilen. 'Eklat auf nachtkritik.de'. 'Dramatikerin prüft rechtliche Schritte'. 'Gedichtverbot für Berg'!"

"Aber damit kriegen wir doch keine Herzchen von ihren Followern", wandte die Chefredakteurin ein.
"Ach, wer braucht schon Herzchen, wenn er einen Shitstorm haben kann? Auf Twitter ist Hass sexy. Hass klickt gut!“, rief sie und ihre Augen funkelten wie die Strasssteine einer pubertierenden Nemesis.

Sibylle Berg derweil stromerte wütend und enttäuscht zugleich durch Berlin, ließ ihren Taxifahrer für einen Zehner extra dauerhupen, aber es half alles nichts.

Erst im Hotel fand sie eine passende Antwort auf das Banausentum der Redaktion.