Dornenkrone aus Stacheldraht

von Falk Schreiber

Hamburg, 21. April 2016. Der White Cube ist die mit Abstand gängigste Präsentationsform für Bildende Kunst: ein leerer, weißer Raum, in dem nichts vom eigentlichen Kunstwerk ablenke. Auch die Hamburger Deichtorhallen haben sich jetzt in einen riesigen White Cube verwandelt, in eine leere Bühne, die mit weißen Vorhängen verhüllt ist, mit weiß gekleidetem Orchester und weiß gekleidetem Chor. Auf dass nichts von "La Passione" ablenke, Romeo Castelluccis Inszenierung von Bachs "Matthäus-Passion" für die Hamburger Staatsoper.

Zur Kreuzigung hängen Statisten am Trapez

1981 choreografierte John Neumeier mit "Matthäus-Passion" eine seiner besten Arbeiten fürs Hamburg Ballett, ein Dauerbrenner, der immer wieder ins Programm rutscht – kommenden Sonntag ist Wiederaufnahme. Es wäre ästhetisch wie inhaltlich sinnlos gewesen, am gleichen Haus eine Konkurrenzproduktion zu programmieren, also wurde "La Passione" fernab vom Opernhaus entwickelt, in den Deichtorhallen, einem Ausstellungskomplex am Rande der Hafencity. Nicht als szenische Bebilderung wie bei Neumeier. Sondern als Bildermusiktheater.

Passione4 560 BerndUhlig xGroße Bilder auf weißem Grund – weniger Überwältigungsästhetik als stille Mehrdeutigkeit
© Bernd Uhlig

Das Konzept ist dem Spielort angemessen. Castellucci inszeniert ein Stück in Nachbarschaft zur Installation, der Abend ist der Bildenden Kunst näher als dem Musiktheater. Will sagen: Das Philharmonische Staatsorchester spielt unter Leitung Kent Naganos, während im Vordergrund 18 allegorische Bilder auf- und wieder abgebaut werden. Bilder von Krankheit, Zerstörung, Trauer und Tod sind das, kaum der Überwältigungsästhetik verhaftet, die man von Castellucci kennt, meist stille, mehrdeutige Bilder, die sich unspektakulär in den Szenen entwickeln und ebenso unspektakulär wieder verschwinden. Als Abendmahl wird das letzte Essen eines Todkranken präsentiert. Zur Kreuzigung hängen Statisten an einem Trapez, bis die Körper schlappmachen. Starke Bilder sind das, aber es sind Bilder, die sich nicht aufdrängen, die ihr Geheimnis wahren, das ein Mitleiden überhaupt erst ermöglicht.

Festung Europa im Elektrolyse-Bad

Manchmal scheitert die Regie freilich an der eigenen Raffinesse. Im Bild zur Dornenkrone wird Stacheldraht entrollt und in einem elektrolytischen Bad vergoldet. Das ist klug gedacht, gemahnt in seiner politisch aufgeladen Materialität gar an die sich abschottende Festung Europa, bloß: Man sieht Weißkittel in Schutzbrillen, die sich an technischen Geräten zu schaffen machen. Die man erstens nicht versteht und zweitens von der Publikumstribüne aus gar nicht genau erkennen kann. Also konzentriert man sich auf die Musik, was zwar lohnt, allerdings ist's ein wenig schade um den Aufwand, den Castellucci hier betreibt.

Die musikalische Ebene ist jedoch tatsächlich spektakulär. Nagano treibt Bachs Komposition vielleicht ein Stück zu forciert in den Wohlklang, konzentriert sich sehr auf die lyrischen Passagen und vernachlässigt die Dramatik. Einerseits geht er damit sensibel auf die Akustik des Ortes ein: Ein Ausstellungsraum ist kein Konzertsaal, stille Passagen funktionieren hier gut, während die lauteren Momente, wenn Orchester und Chor gemeinsam anheben, auf der Tribüne eine Tendenz zum Klangbrei zeigen. Andererseits ist besagte Tribüne gerade bei den lyrischen Momenten wirklich ein Problem, verstärkt sich auf ihr doch die kleinste Unruhe im Publikum zum Knirschen und Knacksen. Was man natürlich mit Dramaturg Johannes Blum auch als "Scandalon" lesen kann, als Stolperstein, der dem rein kulinarischen Musikgenuss im Weg steht.

Fast unerträglich mit Bedeutung aufgeladen

Ein tatsächlich eingeplanter Stolperstein ist Ian Bostridge als Evangelist. Der lässt seine Tenorstimme immer wieder ins Raue kippen, zeigt, dass es hier um Schmerz geht und um Leiden, während Philippe Sly sich als Jesus stärker auf seinen warmen Bass verlässt. Wobei "La Passione" immer um mehrere Ecken denkt, man könnte in dieser Besetzung auch ein inhaltliches Zeichen suchen: Kommt Slys Jesus vielleicht deswegen schöntönender daher, weil der Beobachter viel stärker leidet als der Gekreuzigte? Das ist das Problem des White Cube: Wo alles Störende eliminiert wurde, ist das, was noch da ist, fast unerträglich mit Bedeutung aufgeladen. Dass Nagano sich zu Beginn die Hände wäscht – heißt das, dass der Dirigent mit Pontius Pilatus identifiziert wird? Steht der umgekippte Reisebus im Bild "Ecclesia" für die Gemeinschaft der Gläubigen? Und weswegen kämpfen zwei Ringer im Bild "Einsamkeit"?

Alles ist geprägt von heiligem Ernst. Das ist in Castelluccis Konzept nachvollziehbar: Es geht hier darum, die Passion als ultimative Verlusterfahrung, als Trauerarbeit am Menschen zu skizzieren, da haben Subversion und Ironie keinen Platz. "La Passione" ist beeindruckendes Bildertheater, das zwar Raum zur Interpretation lässt, die Grundkoordinaten, nach denen es hier ernst zuzugehen hat, allerdings vorgibt. Das letzte Bild gehört dann noch einmal Tenor Bostridge: Der tritt vor, ohne Gesang, ohne Musik. Und verschwindet hinter einer Maske. Ein stummer Schrei, endloses Leid.

 

La Passione
von Johann Sebastian Bach
Musikalische Leitung: Kent Nagano, Konzept, Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht: Romeo Castellucci, Künstlerische Mitarbeit: Silvia Costa, Mitarbeit Bühnenbild: Maroussia Vaes, Dramaturgie: Piersandra di Matteo.
Mit: Ian Bostridge, Hayoung Lee, Christina Gansch, Dorottya Láng, Bernard Richter, Philippe Sly, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Audi Jugendchorakademie.
Dauer: 3 Stunden, keine Pause

www.staatsoper-hamburg.de

 

Im deutschsprachigen Raum war von Romeo Castellucci in den letzten Jahren u.a. Hyperion. Briefe eines Terroristen (F.I.N.D. der Schaubühne Berlin, März 2013), Le Sacre du Printemps (Ruhrtriennale, August 2014) und Ödipus der Tyrann (Schaubühne, März 2015) zu sehen.

 

Kritikenrundschau

Wener Theurich von Spiegel-Online (aufgerufen am 22.4.2016) erlebte eine "szenisch gedachte Bach-Passion, die von Anspielungen, Querverweisen, Assoziationen und scheinbar themenfremden Denkanstößen nur so strotzte". Der Zugriff Castelluccis auf den Stoff bestehe darin, "Leiden als das 'Anstößige' (Skandalon), als existentielle, individuelle Erfahrung, die nur im Ritus - vielleicht - nachvollziehbar gestaltet werden kann" zu zeigen. Wenngleich der Abend "über Strecken einen sehr kryptischen Eindruck bot, so verließ man das stille Spektakel berührt und nachdenklich. Nicht das schlechteste Ergebnis nach einer Aufführung des Leidens Christi."

Daniel Kaiser vom NDR (aufgerufen am 22.4.2016) sah eine "Passion aus dem Chemie-Baukasten, eine Labor-Revue zu Bachs Musik: Die Anatomie des Dr. Castellucci." Manche Chemiekunststücke würden banal wirken, "Castellucci gelingen aber auch beklemmende, rätselhafte Bilder - wie das der Frau, die minutenlang in einem Plastiksarkophag gesperrt wird". Er wolle das Leiden wörtlich verstehen. Der Abend wanke zwischen ergreifenden Bildmeditationen und Übungen, "die so auch auf Konfirmandenfreizeiten stattfinden könnten". Letztlich seien die Bilder aber zu gefällig geraten. "Kunst, die Leiden in Szene setzen will und dabei nicht verstört, verletzt und aufwühlt, hat etwas falsch gemacht. Diese Passion tat niemandem weh."

Einer "dreistündigen Sitzparty für Cliquenesoteriker" hat Jan Brachmann beigewohnt, wie er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.4.2016) schreibt. "Im Vergleich dazu könnte keine konventionelle Aufführung des Werkes so museal sein in dem Sinne, dass sie uns und die Kunst wechselseitig unberührbar füreinander machte." Der Abend pendle "zwischen Lächerlichkeit und Langeweile, dessen zeremoniöse Betulichkeit die Banalität nicht verdecken kann".

Milder urteilt Elmar Krekeler in der Welt (23.4.2016): "Braucht es das? Nein. Aber interessant ist es schon." Castellucci liefere ein vergleichsweise zahmes dreistündiges Paradoxon. Eine musikdramatische Ausstellung von Bildern, Elementen, Objekten eines säkularen Kreuzwegs. Manchmal sei der Abend relativ albern. "Manchmal schön und rätselhaft. Man lernt viel."

"Unaufgeregtes Denktheater" hat Reinhard J. Brembeck gesehen und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (27.4.2016): Castellucci verweigere sich konsequent dem herkömmlichen, einfühlend nachschöpfenden Theater, er löse die Matthäus-Passion aus der "in ihrem Fall so befremdlichen Konzertästhetik" und stelle damit den "ursprünglichen, also unmittelbaren Bezug zwischen Publikum und Passion gleichsam wieder her. Der Regisseur will keinen Kunstgenuss, sondern Lebensbefragung", so Brembeck. Das wirke enorm befreiend: "Das bürgerliche Publikum trampelt am Ende begeistert wie nach einem Popkonzert."

Castellucci schaffe "bewegte Szenen und szenische Installationen", "aufgeladen mit Assoziationen", die jeden Einzelnen dazu verleiten sollten, "sich selbst Gedanken zu machen über das Gesehene und Gehörte", schreibt Christian Wildhagen auf der Website der Neuen Zürcher Zeitung (30.4.2016). Seine Bilder erreichten allerdings nicht die "Intensität und gleichnishafte Stimmigkeit" früherer Arbeiten. Manche dieser Assoziationen erschienen "nicht nur hermetisch, sondern auch ein bisschen flach".  Wie so oft balanciere Castellucci mit seinen Einfällen "auf Messers Schneide – zwischen Stimmigkeit und Banalität".

 

Kommentare  
La Passione, Hamburg: Hinweis mit Video
Bostridge! Bostridge heißt das! Es ist zum Verzweifeln! Kein Bastridge! Bostridge! Bostridge!!!

https://www.youtube.com/watch?v=Pms_S7v247E

(Werter Röschenhof, vielen Dank für den Hinweis! Wir haben's korrigiert. MfG, die Redaktion)
La Passione, Hamburg: ganz spezifische Menschen
Bei der Aufführung am 21.4. 2016 wurde nicht das letzte Abendmahl "eines Todkranken" präsentiert sondern die letzte Mahlzeit von Olaf Salon, der am 3.4. an einem Hirntumor im Alter von 65 Jahren im Hamburger Hospiz Leuchtfeuer gestorben ist. Das konnte und sollte man ausdrücklich während der Aufführung in einem Begleitheft lesen. Kein Involvierter blieb an diesem Abend anonym. Name, Alter, Gewicht, Größe und Geschlecht wurde fast durchweg angegeben. Und das war für mich der springende Punkt der Aufführung. Die Erfahrung der Passion Christi in einem ganz spezifischen Menschen unter uns, der gestorben, geboren oder verletzt wurde. Ein für mich schockierendes Erlebnis.
La Passione, Hamburg: Bach-Interpretation
Mich würde interessieren, was genau am musikalischen Teil dieser Aufführung „spektakulär“ gewesen sein soll. Nagano hat für manche Choräle („Wer hat Dich so geschlagen“) teilweise unfassbar langsame Tempi ausgebreitet, wie sie – aus gutem Grund – seit Jahrzehnten kein bedeutender Bach-Interpret mehr wählt, er hat andererseits manche Chöre („Andern hat er geholfen“) geradezu absurd schnell durchgehetzt und dafür die wirklich dramatischen Turbae (die beiden „Kreuzige“-Chöre) vollkommen harmlos runtergepinselt. Das alles kann und darf man selbstverständlich mögen.
Doch wenn keine einzige dieser vielen krassen Ideen auch nur als Beispiel erwähnt wird, wenn außerdem verschwiegen bleibt, dass Jesus und Petrus sonst (auch das aus gutem Grund) nirgendwo von ein und demselben Sänger gegeben werden, und wenn Naganos offenkundige handwerkliche Schwächen beim einzigen einigermaßen heiklen Übergang („Sind Blitze, sind Donner“) ungenannt bleiben, dann drängt sich mir der Verdacht auf, dass der Rezensent keine Aufführung eines maßgeblichen Bach-Dirigenten als Vergleichsgröße im Kopf hatte, als er den Text schrieb.
La Passione, Hamburg: Nachfrage
Lieber Beckmesser, aus welchen guten Gründen wählt heute kein bedeutender Bach-Interpret diese langsamen Tempi mehr?eh Ich fand das toll!
La Passione, Hamburg: a lifetime event
La Passione, Hamburg: Kunst. Dieses Konzept ist für mich Kunst. Voller Skepsis -diese Passion kennend - bin ich in das Konzert gegangen und habe nach 5 Minuten begonnen, mich der Darbietung in seinen verschiedensten Ebenen hinzugeben. Es ging gar nicht anders. Geist, Augen, Konzentration, Verstand, Gefühl, Ohr....alles wurde in mir angesprochen. Ich bin noch immer erfüllt. Danke.
Großen Respekt vor den Entwicklern und Umsetzern und Helfern dieser Idee. This was a life time event. I will remember it well.
La Passione, Hamburg: aus der Tiefe des Seins
La Passione, Hamburg: Kommentar zur Bach-Interpretation-halblang
Ja, Herr Beckmesser, das sehe ich genauso, das langsame Tempo hat mich sehr berührt, mir kamen unaufhaltsam aus der Tiefe meines Seins Tränen....Schade, dass es Sie nicht berührt hat. Interpretation hat doch immer was Eigenes....und die jeweilige Idee/Interpretation kommt beim Hörer an-wozu vergleichen oder es besser wissen wollen....Das Jetzt im Kontext ist doch entscheidend, die Aussage von Text, Musik und Bild als Zusammenspiel......
La Passione, Hamburg: verkitschtes Bach-Bild
Lieber halblang, lieber C.Friedrichsen, auf Ihre Nachfragen versuche ich so kurz wie möglich zu antworten, obwohl es natürlich ein sehr komplexes Thema ist. Ganz vereinfacht gesagt, sind SO extrem langsame Tempi eine romantische Projektion, die Bachs Musik etwas überstülpen, was gar nicht in ihr steckt. Sie bedienen ein verkitschtes Bach-Bild, das wenig mit Barockmusik und deren ganz eigener Ausdruckskraft zu tun hat. Barockmusik ist gerade nicht glatt, weichgekuschelt und gleichförmig, sondern oft eckig, spröde, uneben, und sehr nach der Sprache modelliert. Das alles hat Nagano plattgebügelt und dem Stück damit seine ureigene Ausdruckskraft geraubt. Das nehme ich ihm übel, und zwar nicht aus Besserwisserei oder musikhistorischem Fliegenbeinzählen, sondern weil da zu spüren ist, dass er die Musik und ihre Klangsprache nicht wirklich ernst nimmt. Nagano hat in den genannten Chorälen einfach ein uraltes Bach-Klischee bedient und dicke Soße drauf gegossen. Das ist das eine Problem mit den überlangsamen Tempi. Das andere liegt darin, dass die Musik dadurch unglaublich schwerfällig wird. "Mache Dich mein Herze rein", diese wunderbare Arie kurz vor Schluss (die mich eigentlich immer zu Tränen rührt), hatte überhaupt keine Richtung und stand nur auf der Stelle. Ist mir völlig schleierhaft, wie man sich von dieser Musik nicht inspirieren lassen kann. Und wenn er denn konsequent auf die Langsamkeit gesetzt hätte, wäre es mir immer noch fremd gewesen, aber man hätte eine Art Handschrift, eine Idee erkennen können. Doch auf der anderen Seite gab es ja dann diese grotesk schnellen Tempi in manchen Chören und die furchtbar manierierte, mitunter weit ins Krähen abgleitende Darbietung von Ian Bostridge - auf der anderen Seite aber die an Harmlosigkeit nicht zu überbietenden "Kreuzige!"-Chöre. Kreuzige!! Wie kann man das, was Bach da an schneidender Brutalität komponiert hat, so verharmlosen?? Das alles passte, kurz gesagt, überhaupt nicht zusammen, sondern wirkte deshalb auf mich total wirr und planlos zusammengeschustert. Ich bin auch in die Aufführung gegangen, um mich berühren zu lassen, natürlich, ich war voller Neugier und fand einige Bilder von Castellucci auch ziemlich gelungen. Aber mit einer Reihe von wirklich tiefen, starken Bach-Deutungen aus Konzerten und Aufnahmen im Hinterkopf bzw. im Ohr (die ich ja nicht einfach löschen kann!) konnte ich leider nicht anders, als mich mehr und mehr über dieses Missverständnis zu ärgern. Natürlich darf Nagano machen, was er will, aber Ignoranz gegen alle bekannten stilistischen Standards ist für sich ja noch keine Stärke einer Interpretation. In der Tat ist das Jetzt im Kontext entscheidend, wie Sie sagen - aber das Eigene bloß um des Eigenwilligen willen reicht doch noch lange nicht aus. Gerade bei einem so großen Meisterwerk erwarte ich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem, was wir heute über die Musik wissen, und die konnte ich nicht erkennen. Ich erlaube mir, Ihnen wärmstens zu empfehlen, in Aufnahmen von Dirigenten wie Gardiner, Herreweghe, Suzuki oder Bernius hinein zu hören, die der Musik von Bach alle auf sehr unterschiedliche Weise sicher viel näher kommen als Nagano. Wenn Sie sich von der Aufführung berühren lassen konnten, werden Sie da ganz sicher einen viel größeren Reichtum und unendlich mehr Nuancen entdecken, versprochen. Aber selbstverständlich ist es genau so Ihr gutes Recht, einfach Naganos Bach-Aufführung als großartig in Erinnerung zu behalten und die Beckmesserei hier einfach zu vergessen. So, das war jetzt nicht wirklich kurz, aber es ging nicht anders. Gute Nacht.
La Passione, Hamburg: Weiße Anzüge
So oft ich die Matthäus-Passion gehört habe in Sälen: nie, wirklich nie hatte ich das Gefühl, dass der konzertante Vortrag ihr unangemessen, ästhetisch befremdlich wäre. Zu den Bach'schen Tempi: nicht nur bei Bach-Musik beobachtete ich bei meinen letzten Konzerterlebnisse, dass mit Tempi von Solisten und Dirigenten zunehmend manieristisch umgegangen wird - zwischen extrem langsam und extrem schnell gewechselt. Soll das interpretatorische Überraschung garantieren?, fragte ich micht dann. Soweit ich das beurteilen kann, ist es bei Bach-Interpretationen wichtiger als bei anderen Komponisten, möglichst lange melodische Verläufe vorauszudenken und den Atem, den Bogen für diese einzuteilen. Die extremen Tempi zerfasern die Komplexität der Musik, das straft die Komposition sofort ab. Trotzdem wird es immer Phrasen geben in dieser Musik, die auch dann berühren, wenn sie herausgelöst sind aus dem Fluss und für viele waren solche Phrasen ein Einstieg in den Genuss des Bach'schen Universums... Ehrlich gesagt, interessiert mich nach der Kritik vor allem eines: haben die Orchester ihre weißen Anzüge selbst bezahlt oder sind sie als Konstüme angefertigt worden? Im ersten Fall muss man fragen: WARUM??? Im zweiten: mussten die Bach Musizierenden sich extra verkleiden und Bach-Musizierende spielen?? Für wen, außer für Castellucci??? Bisher war mir nicht bekannt, dass Naganao ein herausragender Bach-Interpret gewesen wäre. Es hätte mich gefreut, wenn jetzt doch. Unabhängig von der weißen Weste.
La Passione, Hamburg: Grober Unfug
Chor und Orchester, die ersten Bilder über ein bisschen fahrig, vielleicht lagen die verwaschenen Auftakte auch an Nagano, irgendwie eine seltsame Körperlichkeit beim Dirigat, hatte wohl seinen eigenen Puls.

Ansonsten Ian Bostridges genialen Evangelisten als "krähig" zu bezeichnen, ist grober Unfug, im Gegensatz zu anderen Wohlklangmaschinen jemand der es versteht affektreiche Phrasierungen zu setzen, die dem Text mehr als angemessen sind!
La Passione, Hamburg: ins Krähen abgeglitten
da Sie mich des groben Unfugs bezichtigen: 1) Ich hab Bostridges Evangelisten nicht pauschal als "krähig" bezeichnet, sondern davon gesprochen, dass er "mitunter weit ins Krähen abgleitet". Das ist etwas anderes. Und 2) bin ich auch kein Fan von dem, was sie "Wohlklangmaschinen" nennen. Zwischen diesen Extremen gibt es aber viele, viele Zwischentöne. Und wenn Bostridge bei seinem Bemühen um Ausdruck die Vokale bisweilen grotesk überzeichnet (so dass es mit einer organischen Textbehandlung eben nichts mehr zu tun hat) und dabei seine Stimme in manchen Lagen offenkundig gar nicht mehr im Griff hat, empfinde ich das in der Tat als weit ins Krähen hinein abgeglitten. Verglichen mit dem, wie drei befreundete Sänger nach dem Konzert über ihn geschimpft haben, ist das übrigens eine sehr, sehr nette Umschreibung.
La Passione, Hamburg: Geschmacksdiskussion
Sängerkritiken über andere Sänger, geschenkt, weil neidzerfressenes Pack in einem Ellenbogenkulturbetrieb!: P Okay, Polemik mal aussen vor. Den von Ihnen angesprochenen Kontrollverlust konnte ich bei Bostridge nicht ausmachen, objektiv kommen wir in dieser Geschmacksdiskussion glaube ich nicht mehr auf einen Nenner. Mein Erleben war bis auf einen verhauenen Einsatz recht makellos in der positiven Empfindung.
La Passione, Hamburg: lieber hören
Ich komme gerade aus dem ev. Karfreitagsgottesdienst und habe mich darauf gefreut, noch den Rest der Aufführung in 3SAT hören zu können. Welch eine Enttäuschung, als wären die Worte des Apostels und die Musik J.S. Bach allein für sich nicht eindrucksvoller als je etwas geschrieben wurde! Für mich war es reinster Kitch. Mein großes Vorbild, Professor Kurt Thomas, der spätere Thomaskantor, unter dem ich viele Male Bachs Passionen als Thenor gesungen habe, würde sich im Grabe umdrehen, hätte er sich diesen Jammer ansehen müssen. Allein wie es Thomas schaffte, daß die Zuhörer nach dem großen Schlußchor betroffen und nachdenklich die Kirche oder den Konzertraum ohne Klatschen oder sogar (Trampeln!) verließen, machte optisches Klimbim überflüssig. Ich höre mir heute Abend meine CD an. Da kann ich mich auf die Worte und Musik konzentrieren.
La Passione, Hamburg: bereichert
Ich bin kein so großer Kenner (und leider auch kein Könner), durfte die MP einmal in einem Chor als einer der hinteren Bässe mitsingen. Castelluccis Produktion stößt bei mir eher das (Nach-)Denken als die Anteilnahme an. Nachdenken während des Erlebens reduziert jedoch die Tiefe des Seins im Hier und Jetzt. Das möchte ich im "während/jetzt-Modus" nicht, das NachDenken verstopft in diesem Moment zu viele Kanäle für die AußenWahrnehmung (Musik, Text, evt. Mimik + Gestik von Aufführenden / Dirigent) und behindert meine InnenWahrnehmung (was / wie sehr fühle ich).
Als Beispiel für AW+IW: die Harmonieführung bei "wer hat dich so geschlagen" macht für mich einen Schlag fast schon körperlich spürbar - ich leide mit. Für mich mit ähnlicher Wirkung die Mimik / Gestik von Sänger*innen und Dirigent, wie sie in der Videoaufnahme der MP mit Herreweghe (3sat) zu sehen sind - sie unterstützen bei mir die Wirkung von Musik und Text und Musik, ohne das mich ein/mein NachDenken ablenkt.
An der Stelle brauche ich keinen Bus auf der Bühne und keine Waldarbeiter die einen Baum behauen, oder erklärende Texte über die Physiologie einer Kreuzigung oder einer chemischen Reaktion ....
Da nehme ich lieber als Zuhörer an einer klassischen Aufführung teil .... da bin und fühle ich mehr im Hier und Jetzt und nicht in der Ferne meines NachDenkens gefangen.

oder noch besser: ich singe im Chor mit. Punkt

aber: Im nachhinein hat mich die Rezeption der Castellucci Produktion zum Denken angeregt - also bereichert.

Ein letztes noch: Beifall oder gar Trampeln der Zuhörer/-schauer nach der Aufführung der MP ist zwar an und für die Aufführenden vielleicht nett gemeint, würde von mir als Aufführendem aber eher als Schlag ins Gesicht empfunden,
denn: Ich wollte Erlebnis/Betroffenheit/AnTeilnahme vermitteln / erzeugen - dies hätte seinen Ausdruck in der Intensität (Tiefe und Länge) des Schweigens in der Raumzeit nach dem Ende der letzten Schwingung gefunden (so wie ich es nach der mitgesungenen Aufführung am 18.03.2017 in Schwerin erlebt habe), ganz bestimmt keinen Applaus für eine Darbietung. Im äußersten Falle vielleicht Applaus für den Komponisten - aber nein, der Sache wegen: auch dieser nicht.
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