Puppenstube - Tilo Nest inszeniert die deutschsprachige Erstaufführung von Lillian Hellmans "Toys in the Attic" in Wiesbaden
Kirschgärtchen in New Orleans
von Shirin Sojitrawalla
Wiesbaden, 23. April 2016. Wenn Lebenslügen Tiere wären, könnte man sie sich durchaus als kleine miese Moskitos denken, die den Menschen um den Verstand schwirren und einfach keine Ruhe geben. Nervtötend, enervierend, nicht auszuhalten. Die "Puppenstube" bevölkern die Biester in Massen, ständig wedeln die Akteure mit den Händen herum, um sie zu verscheuchen.
Doch weder die Mücken noch die Lebenslügen geben klein bei. Dabei formen sich aus den genervten Armbewegungen hübsche Choreografien des exaltierten Überdrusses und der divenhaften Überspanntheit. Darüber hinaus charakterisiert die Mückenplage den schwülen Ort der Handlung: New Orleans. Dort hausen die beiden Schwestern Berniers in ihrem Elternhaus, das man sich so vorstellen darf, wie die typischen Häuser der Südstaaten, zu denen eine ausladende Veranda mit obligatorischem Schaukelstuhl gehört. Auch so ein einfaches, aber wirksames Symbol, diesmal fürs Nicht-vom-Fleck-kommen bei ständigem Bewegungsdrang.
Grashalm und Megäre mit Bruder
Stefan Heyne stellt eine ganze Schaukelstuhl-Armada zur Verfügung, später rotieren ebenso viele Ventilatoren von der niedrigen Decke. Ansonsten gestaltet er die Bühne als holzvertäfelte Terrasse. Dort verschaukeln die beiden Schwestern, die von Europa träumen wie Tschechows "Drei Schwestern" von Moskau, ihr Leben.
Ulrike Arnold spielt die Ältere, Anna, eine spitzgesichtige, sarkastische Frau, die schauen kann wie ein geknickter Grashalm. Zu großer Form läuft sie auf, wenn sie ein Tänzchen an der Bühnenrampe wagt. Sólveig Arnarsdóttir spielt Carrie indes als gallig energetische Megäre mit kräftiger Stimme, die sich immer mehr in ihre Bestandteile aufzulösen scheint. Sie ist von kleinauf verliebt in ihren Bruder, und schon von daher sehr allein. Bei Arnarsdóttir verströmt die Ungeküsste viel Sex-Appeal und verliert an Haltung, je länger der Abend dauert. Gegen Ende ragt sie quasimodohaft schräg in die Dialoge hinein, so als fehle ihr ein Schultergelenk.
Anna und Carrie – zwei alt gewordene einsame Frauen, deren Lebensinhalt auf den Namen Julian hört. So heißt ihr Bruder, der nichts auf dem Kasten und meist auch nichts auf dem Konto hat. Michael Birnbaum spielt ihn als uneleganten Aufschneider mit Bluthochdruck und Bauchansatz. Zu Beginn kehrt er wieder nach Hause zurück, diesmal mit einem Sack voller Geld sowie seiner jungen Frau Lily, und das Stück nimmt seinen langen Lauf, an dessen Ende Julian pleite und geschlagen auf den Bühnenstufen hockt.
Puppen an Fäden
"Puppenstube" ist das letzte Stück der amerikanischen Schriftstellerin Lillian Hellman (1905 bis 1984), deren Dramen in jüngster Zeit wieder entdeckt werden. Den Titel (im Original "Toys in the Attic") nimmt Regisseur Tilo Nest in Wiesbaden zum Anlass, Julians kindsköpfige Ehefrau Lily (Barbara Dussler) gleich als personifiziertes Spielzeug zu inszenieren. Ein Püppchen, das sich rückgratlos durch seine Ehe zappelt und notfalls in einem Umzugskarton Platz findet. Auch Carrie sitzt am Ende ratlos da wie eine Puppe im Regal, andere Figuren bewegen sich wie an unsichtbaren Fäden hängend durch den Abend.
Nicht einmal 24 Stunden nimmt die Handlung in Anspruch und doch ist die Geschichte länglich und auch ein bisschen langweilig, wie das auch schon "Die kleinen Füchse" waren. Hier wie dort überzeugen aber die extrem schmissigen Pointen Hellmans sowie ihre unwiderstehlich trostlosen und bösen Frauenfiguren.
Tschechowianismus mit Rassentrennung
Lilys Mutter Albertine betritt dabei in Gestalt der Schauspielerin Evelyn M. Faber so matronenhaft präsidial und behost die Bühne wie Hillary Clinton die Wahlkampftribüne. Mit derselben verächtlichen Selbstverständlichkeit, mit der Albertine vielen ihrer Sätze ein böses "hehe" hinterher schickt, hält sie sich einen schwarzen Liebhaber. Dem zeitgeschichtlichen Kontext der Rassentrennung begegnet die Inszenierung auch mit Schildern, die vorgeben den linken und den rechten Theatereingang nach Hautfarbe zu separieren. Das wirkt als Einfall etwas schultheaterhaft, im Gegensatz zum dunkelhäutigen Statisten-Chor, der das Geschehen auf der Bühne stumm kommentiert.
Die Trostlosigkeit der vorgeführten Familienaufstellung erinnert in ihrer komischen Tragik an Tschechow, und auch der bunte Brummkreisel könnte gut und gerne von ihm stammen. Julian bringt ihn vor der Pause im Scheinwerferlicht zum Durchdrehen. Auch das Zuhause der Berniers steht schließlich auf dem Spiel. Was Hellman und Tschechow bei aller Unterschiedlichkeit im Temperament verbindet, ist die Einsicht in die entsetzliche Schwierigkeit, glücklich zu sein. An diesem Abend aber vertreibt fiebrige Nervosität die Traurigkeit darüber.
Puppenstube
von Lillian Hellman
Deutsch von Bernd Samland
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Tilo Nest, Bühne: Stefan Heyne, Kostüme: Anne Buffetrille, Musik: Heiko Schnurpel, Dramaturgie: Katharina Gerschler.
Mit: Sólveig Arnarsdóttir, Ulrike Arnold, Evelyn M. Faber, Lassana Justin Yao, Michael Birnbaum, Barbara Dussler und Statisterie.
Dauer: 2 Stunden und 30 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-wiesbaden.de
"Insekten stören. Einen ganzen Abend lang zwingen sie zu allerlei von graziösen bis bizarren Wedelbewegungen", so Viola Bolduan im Wiesbadener Kurier (25.4.2016). Das führe Regisseur Tilo Nest wie einen feinen roten Faden durchs Stück, der sich im Knoten von Enttäuschung, Wut und Selbsthass verfangen muss. "Es geht um familiäre Abhängigkeit – der Bruder von den Schwestern, die Tochter von der Mutter, die auf beiden Seiten zu Abnormalitäten führt. "Puppenstube" sei aber auch ein Stück der ziseliert gezeichneten Frauenfiguren. "Die Inszenierung eine mit starken Darstellerinnen. Bisweilen etwas laut. Applaus fürs Ensemble, Produktionsteam und dem dunklen Chorus der Statisterie."
"Ein unheimlich interessantes Stück, in dem sich Autobiographisches und Gesellschaftliches treffen", findet Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (24.4.2016). Nest tue Hellman den Gefallen, sich nicht mit einem gut gebauten Konversationsstück zu begnügen, sondern der schillernden Ebene Raum zu geben. Die Kostüme und Frisuren unterstützten "den starken Eindruck eines unzuverlässigen Realismus".
Ein "verhaltenes Familiendrama amerikanischen Zuschnitts, durch hübsche Bonmots zusammengehalten", so bewertet Eva-Maria Magel im Regionalteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.4.2016) die Ausgrabung. Tilo Nest habe sehr genau hingesehen und versucht, "in diesem nicht ganz Tschechowsche Dimensionen erreichenden Stück um einen mitteljungen Taugenichts und seine mittelalten Schwestern, die ihr Leben lang für sein Wohlleben sorgen, die unterschwelligen, größeren Dramen zu zeigen". Aus der schwülheißen Südstaaten-Atmosphäre entwickelten sich nicht nur die Entblößungen des Leibes, sondern auch die der Seele.
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danke für die Richtigstellung, habe nämlich des Nachts noch den "Kirschgarten" nach dem Kreisel durchforstet und konnte ihn nicht finden, weswegen mein diesbezüglicher Satz auch eher vage formuliert ist. Ich werde ihn trotzdem ändern.
Dabei meine ich mich zu erinnern, den Kreisel auch schon in der einen oder anderen Kirschgarten-Inszenierung gesehen zu haben, aber vielleicht trügt mich auch da mein Gedächtnis.
Schöne Grüße, Shirin S.
Mit dieser vermeintlichen Gewissheit habe ich den Text redigiert. Bei der jetzt fälligen Nachprüfung des Sachverhalts stieß ich auf diese Kritik von Benjamin Henrichs in der Zeit (10.2.1984) zu Peter Steins "Drei Schwestern" von 1984, eine Inszenierung, die ich damals auch gesehen habe:
"Dann geht man gemächlich, zum Frühstück. Zwei Soldaten stürzen herein, bringen Blumen für Irina, die heute Namenstag hat. Sie haben ein Spielzeug dabei: einen großen Brummkreisel, den sie nun in Bewegung setzen. Und da passiert etwas wahrhaft Mysteriöses. Alle verlassen ihre Plätze, schauen, starren das kreisende Kinderspielzeug an, hören auf seinen wundersamen Klang – es ist, als würde die Luft selber singen. Das ist, nach einer Theaterstunde der größten Leichtigkeit, Heiterkeit, Beiläufigkeit, ein beinahe unendlicher Moment der Erstarrung und Verzauberung. Seltsam alt sahen die Leute auf der Bühne aus, auch schon die Jungen. Doch nun stehen sie da wie die Kinder, vor Schrecken und Staunen gelähmt."
In der "Kirschgarten"-Inszenierung von Tamás Ascher, letztes Jahr in Bochum, gab es übrigens auch einen Brummkreisel, wenn auch nicht so prominent wie weiland bei Stein.