Zweifelhafte Rechtsstaatlichkeit

von Otto Paul Burkhardt

Karlsruhe, 12. April 2008. Die "Orestie", gern als Gründungsmythos der Demokratie zelebriert, hat heute ein Problem. Es ist der dritte Teil, das Eumeniden-Finale: Vom Sieg der Zivilisation über die Blutrache ist da die Rede, von der Einführung des Rechtsstaats, vom Ende des Kreislaufs der Gewalt. Von dieser euphorischen Sicht, die Aischylos 458 v. Chr. notiert hat, ist heute, rund 2500 Jahre später, wenig übrig geblieben. In neueren Aufführungen gleicht der "Orestie"-Schluss einer Dauerbaustelle – kaum eine Inszenierung, die dem gelackten Gründungsmythos nicht kräftige Kratzer verpasst.

Genauso macht es auch Sandrine Hutinet in Karlsruhe. Die 34-jährige, aus Frankreich stammende Regisseurin, die mit Arbeiten in Rostock, am Gorki Theater Berlin, in Esslingen und Karlsruhe auffiel, inszeniert die Grundsteinlegung der modernen Demokratie als üble Farce. Apollon und Athene, die diese Menschheitsreform vorwärts pushen, sind bei Hutinet wenig vertrauenserweckende Gestalten.

Burka müssen die Erinnyen tragen

Jochen Neupert gibt dem Apollon das Charisma eines zynischen, die Masse bei Laune haltenden Talkmasters, und Teresa Trauths Athene erinnert vom Outfit her an die Militärpolizistin Lynndie England, die im Zusammenhang mit dem Abu-Ghuraib-Folterskandal verurteilt wurde. Die zur Zeit arg wohlfeile Idee, in nahezu jedem Theaterstück ein Statement zum Irakkrieg abgeben zu müssen, scheint auch Sandrine Hutinet beflügelt zu haben. So müssen die Erinnyen in Karlsruhe Burka tragen, was wiederum nur suboptimal zu diesen, von Aischylos als frei, körperpräsent und männerunabhängig geschilderten Matriarchats-Vertreterinnen passt.

Von solchen vorhersehbaren und deshalb nicht stimmiger werdenden Bildern mal abgesehen, inszeniert Sandrine Hutinet ihre "Orestie" optisch recht karg, streng und statisch – gespielt  wird die sachlich grundierte Übersetzung von Dietrich Ebener. Vor allem im ersten Teil führt dieser wortoratorische Stil zu erheblichen Längen. Es wird vornehmlich im Stehen rezitiert, und der viel zu häufig strapazierte Brüllton wirkt behauptet und nützt sich sehr schnell ab: Weniger wäre hier eindeutig mehr gewesen.

Gewalttätiger Wiedersehens-Quickie

Doch insgesamt gelingen der Regisseurin dann doch immer wieder schlüssige, treffende Bilder. Ihr Grundansatz ist einleuchtend und erzählt die "Orestie" aus einer eher ungewöhnlichen Perspektive: aus der Sicht Klytaimnestras. Die ist bei Katja Teichmann eine bis zur akustischen Verständlichkeitsgrenze intensiv leidende, verstörte, meist im beschleunigten Staccato sprechende Person, irreparabel verletzt von einem Gatten Agamemnon, der die gemeinsame Tochter geopfert hat, um bei den Göttern günstigere Winde für seine Kriegsflotte zu erbetteln, der zehn Jahre weg bleibt und dann noch stolz eine Geliebte als Trophäe mitbringt.

Jochen Neupert muss diesen Rüpel spielen, der auf einem dröhnenden Panzer ins Bühnenbild rollt und erstmal eine routinierte Mikrofonansprache ans Volk hält, bevor er seine Gattin zu einem gewalttätigen Wiedersehens-Quickie nötigt. Inszenatorisch derart vorbereitet, erscheint Klytaimnestras Doppelmord an Agamemnon und dessen Geliebter Kassandra (bei Javeh Asefdjah eine steinewerfende Intifada-Rebellin) wie ein Befreiungsschlag.

Die Bühne wird dominiert von einer riesigen, massiven, meist leeren Tribüne, die sich später spaltet und schließlich notdürftig wieder überbrückt  wird – Sinnbild für die düster grundierte Macht des Volkes, das zunehmend gegen die rigide Herrschaft Klytaimnestras aufbegehrt.

Dünner Firnis der Zivilisation

Sandrine Hutinet erzählt die "Orestie" als das Leiden der Klytaimnestra – gedemütigt vom Mann, gehasst vom Volk. Das wiederum entwickelt sich unter einem aufwieglerischen Chorführer (Sebastian Kreutz) zu einer machtvoll im Marschschritt stampfenden Hassphalanx, die offen zum Rachemord an Klytaimnestra aufruft und die von Orest (Thomas Birnstiel) vollzogene Tat mit lautem Gejohle bejubelt.

Damit sind wir fast schon im letzten Drittel der Aufführung angelangt. Und das gelingt der Regisseurin – nach viel Stehtheater und bemühter Expressivität – wesentlich besser. Die Gründung der Demokratie, der viel gepriesene Paradigmenwechsel der Menschheitsgeschichte, ist ein schlechter Witz, moderiert von Teresa Trauths Athene mit dem straffen Charme einer Militär-Schulungsoffizierin. Eine Wahl, die keiner Prüfkommission standhalten könnte.

Der Sieg einer von Anfang an zweifelhaften Rechtsstaatlichkeit geht einher mit einer nachhaltigen Niederlage des uralten Mutterrechts. Der Firnis dieser so genannten zivilisatorischen Errungenschaft ist sehr dünn: Am Ende, wenn alle im selbstgerechten Jubel erstarren, taucht Klytaimnestra wieder auf – als einzig Lebende, als fragendes, umherirrendes Unruhegespenst.


Die Orestie
Tragödie von Aischylos
Übersetzung von Dietrich Ebener
Regie: Sandrine Hutinet, Bühne: Henning Schaller, Kostüme: Christine Haller, Chöre: Matthias Bauerkamp, Dramaturgie: Donald Berkenhoff.
Mit: Christian Sprecher, Sebastian Kreutz, Katja Teichmann, Christian Sprecher, Jochen Neupert, Javeh Asefdjah, Stefan Kreißig, Thomas Birnstiel, Teresa Trauth.
Chöre: Hartmut Atsma, Stephan Renke, Gert Dieter Hohenhöcker, Siegbert Rauch, Gerd Ziegler, Manfred Pfisterer, Colett Sternberg, Maria Lampert-Füllbeck, Andrea Baumann, Dagmar Hock, Barbara Butzer, Helga Klee, Sylvia Bachofer und Rebecca Ruder.

www.staatstheater.karlsruhe.de

 
Mehr über Inszenierungen der Orestie auf deutschen Bühnen in den letzten zwölf Monaten lesen sie hier, wo es um Lars-Ole Walburgs Düsseldorfer Spielart geht, hier um Markus Heinzelmanns Open-Air-Orestie in Jena, hier um Wolfgang Engels Inszenierung in Leipzig und hier Michael Thalheimers Schlachtfest am Berliner Deutschen Theater.


Kritikenrundschau

In der FAZ (15.4.2008) schreibt Gerhard Stadelmaier eine seiner flammenden Anklagen gegen das zeitgenössische Theater. Diesmal geht es um die Orestie, dieses "Geschenk, überreicht gleich zu Beginn der abendländischen Bühnengeschichte", mit dem das Theater "den Rechtsstaat" feiere. "Ein für alle Mal. Es spielt ihn vor. Freut sich an ihm. Bejubelt ihn: gegen alle möglichen, kommenden Unrechtsstaaten." So wenigstens sollte es sein. Aber – die schnöde Wirklichkeit bleibt hinter der Möglichkeit zurück. Denn: die Bühnen nähmen das "Geschenk des Aischylos nicht an". Oder legten "es höhnisch zur Seite." In Karlsruhe etwa werde am Ende "einer kreuzbraven Inszenierung" die "Rechtsstaataktivistin Athene" zu einer "lächerlich im Berliner Prenzlauerbergton piepsenden amerikanischen Army-Blitzmaid mit Käppi und Zack-zack-Gruß", Apollon zu einem "Dandy-Lügen-Schluri mit Sonnenbrille" und der Rechtsstaat sei nur "ein Terrorkuhhandel à la Amis im Irak". Das letzte Wort habe "die tote Klytaimnestra im Abendkleid": Ein "feministischer Schluss, immerhin." Wie in Karlsruhe setzten die Theater, die die Orestie aufführten ein "misstrauisch besserwisserisches 'Unmöglich!' hinter alles, was nach Recht riecht."

Andreas Jüttner schreibt in den Badischen Neuesten Nachrichten (14.4.2008): Obwohl die "Orestie" als eine Art "Geburtsurkunde" der Demokratie gelte, sei das Stück nicht "heutig". Auch die Inszenierung von Sandrine Hutinet schütte die "Kluft zwischen den Epochen" nicht durch "leichtfertige und leicht konsumierbare Aktualisierungen" zu. Zeitgemäß wirke die Aufführung am ehesten hinsichtlich ihrer "Skepsis" gegenüber "dem glücklichen Ende", eine Skepsis, die auch andere Inszenierungen aus jüngerer Zeit auszeichne. Hutinet konzentriere sich auf die "im Stück erzählte Ablösung des Matriarchats durch das Patriarchat", die sie als "Mechanismus einer Unterdrückung" lese. Am Schluss stehe nicht die Besänftigung der Erinnyen durch Athene, stattdessen "schleicht Klytaimestra als Geist durch die Szene und modelliert der Anführerin der Erinnyen den Arm zur geballten Faust gegen Apollon." Die starken Textkürzungen und unverständliches Sprechen eines Teils der Schauspieler machten den Abend indes über weite Strecken zu einer "arg spröden Angelegenheit." Nur der letzte Teil stäche da positiv hervor.


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