Kein Gott nirgends

von Jens Fischer

Bremen, 30. April 2016. Gezündet hat der Funke. Der in Rossitz residierende Schroffenstein-Clan, kenntlich an den türkisenen Karomustern auf ihren Kostümen, beklagt den Tod einer der ihren, verzichtet aber auf kriminaltechnische Ermittler und obduzierende Skalpellkünstler. Natürliches Dahinscheiden, tragischer Unfall oder Mord? ist hier nicht die Frage. Denn in Leichennähe wurden Mitglieder des in Warwand residierenden Schroffenstein-Clans angetroffen, kenntlich an lila Karomustern. Sie verstummten anschließend unter Folter für immer – mit dem Namen ihres Chefs auf den Lippen: "Sylvester". Nur was bedeutet das? Was war die Frage? Völlig egal.

Ein Erbvertrag besagt, bei Auslöschung des einen Familienzweigs gehören alle Reichtümer dem anderen. Eine allzumenschliche Allianz aus Macht-/Geldgier und Furcht vor dem Fremden, ergo den entfernten Verwandten, sorgt daher seit Beginn der Schroffensteiner Tage für gegenseitige Missgunst, Misstrauen, Angst. Wer diese Anspannung entladen will, wird dafür einen Anlass finden, der die wahren Gründe verschleiert. Zwei voneinander unabhängige Eindrücke – toter Sohn, lebendig anwesende Feinde – werden im Hirn solange aufeinander gehetzt, bis Mord kein Verdacht mehr, sondern gefühlte Wahrheit ist. Ein Funke der Reibungsenergie zündet den Hassturbo. "Frevelhaft leichtfertig", wie Heinrich von Kleist formuliert, wird die Eskalation der Familienfehde beschlossen. Die Rossitzer dürsten nach Blut, und der Graf schwört seine Gefolgsleute auf Rache ein.

Der Verhandlungstisch wird zum Opferaltar

Nur der Sohn, verliebt in eine Warwanderin, braucht mehrere Anläufe zum Schwur. Der zwischen den Fronten vermittelnde Jeronimus wagt auch mal zu hinterfragen, wie aus Vermutungen und Hörensagen die Thesen entstehen, die sich zu Irrtümern, Wahnideen und Aberglauben entwickeln. Ein bisschen gutmenschelnd naiv ist er der Kommissar der Aufklärung. Wird aber vom Funkenflug der Lügen hinweggefegt.

Schroffenstein11 560 JoergLandsberg uDie Gewaltspirale dreht sich nicht von selbst, sie wird von Menschen gedreht.
© Jörg Landsberg

Eine Atmosphäre giftiger Andeutungen und scharf gewürzter Gerüchte liegt von Beginn an über der Bremer Aufführung der "Familie Schroffenstein". Ihr ewiger Zwist bekommt Eigendynamik, schaukelt sich vom Streit zum Kampf zum Gemetzel hoch. Immer schneller rotiert die Bühnenbodendrehscheibe, auf die eine (Gewalt-)Spirale gemalt ist. In ihrem Zentrum erhebt sich ein runder Tisch. Als Hoffnungssymbol für gelingende Kommunikation, dem Vermögen des Dialogs, der Diplomatie? Bei Regisseur Alexander Riemenschneider wird der Verhandlungs- zum Opfertisch – der Wahrheit und der Liebe. Kein Gott, nirgends, den Riemenschneider Kleists Pessimismus widersprechen lässt. Wie vom Autor gefordert, dürfen die Liebenden kurz "zittern vor Wollust und Schmerz". Dann müssen sie in Romeo-und-Julia-Manier sterben: durch Ehrenmorde der rasenden Väter. An ein Happy End wollte schon Kleist nicht glauben, gönnte den verfeindeten Vätern aber einen Handschlag. Riemenschneider verweigert jede Art Versöhnung.

Das Licht der Vernunft strahlt hell, aber vergeblich

Mit erbarmungsloser sprachzauberischer Genauigkeit beschreibt Kleist die Kettenreaktion der Mechanik von Gewalt und Gegengewalt. Widerspruch wäre Kitsch, Zustimmung nur eine Art Fatalismus. Riemenschneider bildet die Handlung vor allem mit leidenschaftlicher Sachlichkeit ab. Seine dezenten Versuche, das Groteske der Situationen für Komik zu nutzen, scheitern. Ironische Distanzierungen fallen kaum ins Gewicht. Die Geschehnisse in den Familien sind spiegelbildlich angelegt, damit jede Figur im feindlichen gegenüber sich selbst entdecken könnte – der Regisseur ignoriert diese kühn symmetrische Konstruktion. Sehr solide seziert er hingegen den Krimi-Plot und inszeniert ihn als Rededrama zur allmählichen Verfertigung des Krieges. Betont so die zeitlose Zeitgenossenschaft des Stoffes. Es wird gefoltert, gelyncht, auch schlicht gemordet. Von einem blutspritzenden Ausfall abgesehen, bleibt die Gewalt aber auf der Sprachebene.

Das aus dem Moks-Theater und der Schauspielsparte gemixte Personal bildet ein homogenes Ensemble. Es begibt sich mit bösem Ernst auf den Pfad der Selbstzerstörung ihrer Figuren. Hinreißend wie hassbrausend Nadine Geyersbach eine Lady Macbeth gibt, die ihren Gatten aus "entsetzlicher Gelassenheit" (Kleist), heute würde man von Coolness des Alters sprechen, zur Tat treibt und in dionysische Tragik stürzt.

Um all die geistigen Umnachtungen illuminieren zu können, hängt über der Bühne eine XXXXXXL-Glühbirne, sozusagen das Licht der Vernunft. Wenn besonders üble Vorurteile fanatische Urständ feiern, wird sie extra hochgedimmt. Meist aber leuchtet sie zu funzelig, um Erkenntnishelle zu ermöglichen. Bei den Liebeszenen ist sie ausgeschaltet. Wäre auch Energieverschwendung. Im Rausch tobender Hormone sind Verstand und Vernunft eh nicht ansprechbar.

Die Familie Schroffenstein
von Heinrich von Kleist
Regie: Alexander Riemenschneider, Bühne: Eva Veronica Born, Kostüm: Anna Sophia Röpcke, Musik: Tobias Vethake, Licht: Christian Kemmetmüller, Dramaturgie: Sabrina Bohl.
Mit: Siegfried W. Maschek, Verena Reichhardt, Justus Ritter, Christoph Vetter, Alexander Swoboda, Nadine Geyersbach, Lina Hoppe, Simon Zigah, Benjamin Nowitzky, Meret Mundwiler.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Die "klug durchdachte Inszenierung" von Alexander Riemenschneider am Kleinen Haus des Theaters Bremen spiele gekonnt "mit den inhaltlichen wie sprachlichen Bausteinen und der Dramaturgie des Stücks", so die Kritik im Weser Kurier (2.5.2016). "Dessen Wirkung kann sich durch die Abstraktion als Basis der Inszenierung bestens entfalten. Die Bühne ist eine schwarz-weiß-geringelte Scheibe, auf der die Familien zu Beginn an einem großen runden Tisch sitzen." Sie drehe sich immer weiter, alles wiederholt sich unendlich. "Die Welt der Schroffensteins ist nicht von Weitsicht geprägt, sie ist eine Scheibe." Riemenschneider lasse die präzise wie rasant ­gebauten Dialoge Heinrich von Kleists mit Tempo sprechen, "da wird Hörensagen zu Wahrheit veredelt und schon eskalieren Schlagabtäusche in irrwitzigen Aktionen",

 

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