Rassismus im Guckkasten

von Geneva Moser

Zürich, 4. Mai 2016. Ein schneeweisses Andorra, frisch geweisselte Zäune und Mauern – das ist das Raster, durch das die Geschichte von Andri zu betrachten ist, Hauptfigur in Max Frischs Parabel vom Whitewashing, wie man heute, 55 Jahre nach der Uraufführung von "Andorra" am Schauspielhaus Zürich, wohl sagen würde. Dieses weisse Raster ist natürlich noch mehr als das effektvolle Bühnenbild der Andorra-Inszenierung von Bastian Kraft.

Es ist der metaphorische Rahmen, der Boden und auch die Grenze dieser Inszenierung: Ein begehbares Holzgestell, Bilderrahmen und Baugerüst, hier und dort Glassflächen, nach und nach mit weissem Anstrich versehen, mehrteilige Wand, Guckkasten und Projektionsfläche zugleich. In und auf diesem Rahmen bewegt sich der Aussenseiter Andri, in diesen Glasflächen spiegeln sich Videoprojektionen des Andorranischen Personals, von ihnen schauen die zahlreichen Blicke auf Andri, von ihnen sprechen die Konstrukteure seiner multiplen Identität, jene umkämpfte Identität, die in aller Fragmentierung doch immer auf die antisemitische Formel, "der Jud", reduziert bleiben muss.

Wie man Seinesgleichen wird

Regisseur Kraft bleibt nah an Frischs Vorlage: Der Tischlerlehrling Andri (Claudius Körber) lebt im Glauben, ein jüdisches Findelkind zu sein, vor dem Pogrom im faschistischen Nachbarstaat gerettet durch den Lehrer Can. Im Gegensatz zu diesem Nachbarstaat hat man in Andorra nichts gegen Juden. Es gibt hier ja auch keine, ausser eben Andri und der ist eine Ausnahme von "Seinesgleichen", so die Andorraner.

Andorra 3 560 Toni Suter TTFotografie USchöne, video-gerahmte Andorra-Welt © Toni Suter / T+T Fotografie

Andri lernt schnell, wie Seinesgleichen zu sein hat und ist sich in jedem Moment bewusst: Er ist Jude. Oder besser: Il le devient – er wird es. Fähigkeiten werden ihm zu oder abgesprochen, Ängste werden auf ihn projiziert und jeder seiner aufkeimenden Versuche von Widerstand kann immer nur in jener Sprache sprechen, die ihm zugesprochen wird. Einzig der Blick von Barblin (Henrike Johanna Jörissen) widersetzt sich dieser zunehmend diskriminierenden und gewaltvollen Identitätskonstruktion. Sie liebt Andri.

An Stereotypen festhalten

Diese Liebe zwingt den Lehrer Can schliesslich die wahre Herkunft seines vermeintlichen Pflegesohnes zu offenbaren: Andri ist sein unehelicher Sohn, gezeugt mit einer Frau aus dem bedrohlichen Nachbarstaat. Diese Aufdeckung beendet nur die Möglichkeit der Liebe zwischen Andri und seiner Halbschwester Barblin, nicht aber die gewaltvolle Spirale der Marginalisierung.

Weder die Andorraner_innen noch Andri sind bereit, von den rassistischen Zuschreibungen loszulassen. Zu existenziell sind sie ihnen geworden. Auch das Auftauchen von Andris Mutter, der Senora (Susanne-Marie Wrage), vermag die Spirale nicht mehr zu durchbrechen. Sie wird erschlagen, Andri in einer "Judenschau" als Jude "identifiziert" und ebenfalls getötet. Schuld ist niemand – und alle zugleich.

Andorra 2 560 Toni Suter TTFotografie UNähe suchen: Claudius Körber und Henrike Johanna © Toni Suter TT / Fotografie

Die Andorraner_innen, die Andri zu dem machen, was er glaubt zu sein, sind in Bastian Krafts Inszenierung nur stereotype Facetten von Andri, durchmaskiert und videoprojiziert, alle gespielt von Claudius Körber selbst. Splitscreen – Der Tischler, der ihm das handwerkliche Geschick wider besseren Wissens abspricht: Andri selber. Der Soldat, der ihm Feigheit unterstellt und Barblin vergewaltigt: Andri selber. Der Freund, der ihn verrät: Andri selber.

Perfekte Weiterentwicklung

Bastian Kraft liefert sozusagen die perfekte postmoderne Weiterentwicklung von Frisch. Die Normierung ist internalisiert, das authentische, einheitliche Subjekt dekonstruiert. Die Stereotypen sind starr gespielt, biedere früh-sechziger-Jahre, der Muff von Mustertapeten, hinter Gummibäumchen und Aromatgewürz. Zoom – Erschreckend persistent sind die entschuldigenden Floskeln. "Die Wahrheit wird man wohl noch sagen dürfen", "Ihr versteht ja keinen Spass", "Ich habe nichts gegen Juden, aber...".

Nur die Frauen sind es, die ausserhalb der Konstruktionslogik bleiben. "Wish you were here" singend, im Duett mit den Frauen erst, kann Andri davon träumen, Mensch zu sein, Mensch mit einem Gegenüber, einem anerkennenden "Anderen" und diese Sehnsucht nach Subjekt-Sein, nach Identität darf poetisch-sinnlichen Ausdruck finden. Zweiklang und Goldfisch-Projektion in a fishbowl, fliessend und fragil und hoffnungslos, natürlich, on the same old ground, in the same old fears gefangen. Viel mehr als wahnsinnige Geliebte und liebende Mutter sind auch sie nicht, die Frauen.

Unschuldsbeteuerungen überall

Zweifelsohne, die Bildsprache dieser Inszenierung sitzt. "Andorra" in der Regie von Bastian Kraft ist konsequente installative Videokunst, getragen von der Macht, Bilder zu schaffen, belebt von der Wandelbarkeit eines Claudius Körber. Frischs Sprache dazu seziert messerscharf die Mechanismen, entlarvt die Unschuldsbeteuerungen. Und doch: Es gibt (ausser für einige Schritte der Senora) kein Ausserhalb von diesem geweisselten Rahmen, keine 55 Jahre Geschichte, kein Hier und Jetzt in dieser Inszenierung.

Krafts "Andorra" bleibt historisch verortet im Damals. Der Rassismus ist der Antisemitismus aus Frischs Zeit, Frauen sind eindimensional und Vergewaltigungen werden beflissentlich beschwiegen, die kritische Selbstspiegelung betrifft nur Andri, das Publikum wird auf sicherer Distanz gehalten. Und das ist angesichts der sich aufdrängenden Aktualität fatal: Warum nicht mutiger fragen, nicht mehr Provokation und Risiko eingehen? So bleibt die szenische Reflexion über Rassismen, über todbringende Ausgrenzung, über Angst und Veranderung sehr gefällig. Und Rassismus gefällig abzuhandeln ist purer Hohn in Anbetracht der politischen Situation.

 

Andorra
von Max Frisch
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Inga Timm, Musik: Lars Wittershagen, Video: Jonas Link, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Claudius Körber, Henrike Johanna Jörissen, Susanne-Marie Wrage.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch


Kritikenrundschau

Barbara Villiger Heilig (aufgerufen am 6.5.2016) schreibt in der NZZ, Bastian Kraft streiche das "fingerzeigende() Frisch-Pathos" und mache aus Frischs Märchen "ein strukturiertes Produkt": "Er zerschnipselt die Dramaturgie der Abläufe und montiert sie neu zu seiner kompakten Inszenierung, die das herkömmliche Schauspielertheater einer Multimedia-Installation einverleibt." Im untergründigen Witz des Settings verstecke sich natürlich eine kleine Schummelei, doch seien strukturierte Produkte ohne faule Positionen kaum zu haben. "Never mind; per saldo resultiert ein Gewinn."

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