Unser Meer, unsere Ertrunkenen

von Gerhard Preußer

Recklinghausen, 11. Mai 2016. Ohrenbetäubendes, schepperndes Getöse – so beginnt der Abend. Wir sitzen im Cockpit eines abstürzenden, führerlosen Flugzeugs, dessen Insassen Tiere sind, vom Kaninchen bis zum Walross, die uns anstarren. Mit Theaterdonner (genauer: Musik von Markus Steinkellner) und Alpträumen startet man in die Uraufführung von Sascha Hargesheimers "Die europäische Wildnis, eine Odyssee". Was folgt, ist aber eher die halbszenische Rezitation eines vielschichtigen Textes.

Europa, das wilde Meer

Das Stück nimmt Homers "Odyssee" nur als Folie, die Antike ist ein ferner Hintergrund, präsent nur durch steife Statuen im Museum und in gelegentlichen Anspielungen. Odysseus, der Umgetriebene, das Urbild des bürgerlichen Individuums, irrte im von einem zürnenden Gott aufgepeitschten Mittelmeer umher. Für Hargesheimer ist Europa dieses wilde Meer, die Wildnis. Darin irren wir umher. Für ihn ist Odysseus "der Prototyp einer Zwischenwelt – einer, in der alle reisen, ständig".

Wildnis2 560 Birgit Hupfeld uGemeinsam auf Erzählreise: Matthias Scheuring in der Mitte; Justus Pfankuch, Verena Bukal, Carina Zichner und Heidi Ecks an ihn gelehnt © Birgit Hupfeld

Mare Nostrum – "Unser Meer", der lateinische Name für das Mittelmeer im Römischen Reich. Das ist das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele in Recklinghausen. Dort hat Hargesheimers neues Stück im Kleinen Theater Premiere, als Produktion des Frankfurter Schauspiels, unter maßgeblicher Beteiligung von vier Mitgliedern des dort eingerichteten Schauspiel-, Regie- bzw. Autorenstudios (u.a. Autor und Regisseurin). Wenn das Mittelmeer noch unser Meer ist, dann sind es unsere Flüchtlinge, unsere Ertrunkenen, unsere Leichensäcke. Im Stück geht es auch um vertauschte Leichensäcke. Wer oder was ist unser? Hargesheimers Figuren wissen es nicht mehr.

Urwald der Konsequenzen

Zwei Handlungsstränge stehen im Zentrum, verwoben mit Episoden: Ein Politiker mittleren Ranges reist ans Mittelmeer, um drei deutsche Segler, die im Mittelmeer umgekommen sind, nach Deutschland zu holen. Aber am Strand werden zufällig die Leichensäcke vertauscht und er betrauert aus Versehen ertrunkene Flüchtlinge. Es waren gar nicht unsere Toten. Der Politiker weint vor der Presse. Damit ist der Politiker erledigt.

Die Journalistin führt ein Interview mit einem Filmregisseur und wird von ihren Chefredakteur gemaßregelt, weil sie dem scheinheilig um politische Korrektheit bemühten Regisseur gesagt hat, er könne von ihr aus "seinen Film gerne ausschließlich mit schwarzen schwulen Moslems besetzen".

Daneben: Träume (eine Welt ohne Menschen, nur Tiere bewohnen die Ruinen), Alltagsszenen, Verhandlungen mit dem Tierheim über einen bissigen Hund, eine Frau, die sich in einen Afrikaner verliebt und enttäuscht wird, Verhandlungen mit der Krankenkasse über die Kosten der medizinischen Versorgung der alten Mutter. Die unüberschaubare Welt, in der wir leben, in der "die Konsequenzen sich fortpflanzen wie ein wild sprießender Urwald". Und alle leiden an "gleichbleibender, betäubender Erschöpfung".

Unernstes Spiel zu tiefsinnierendem Text

Katrin Plötners Inszenierung folgt Hargesheimers Erzählung genau. Die Mischung aus anonymem Erzähler-Ich, identifizierbarem Figuren-Ich und gelegentlichen Dialogfetzen wird getreulich reproduziert. In kühlem Blau leuchtet die Bühne, auf der nur eine lange, niedrige Bank steht (Bühne: Daniel Wollenzin). Das ist eine Erzählbank, nur selten eine Spielbank. Drei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler sprechen ohne feste Figurenzuteilung, mimen aber immer auch Reaktionen, imitieren Aktionen, kommentieren gestisch das Gesagte. Dieses semimimetische Spiel bewirkt einen heiteren, distanzierenden, leichtsinnigen Unernst, der angenehm mit der trostlosen, tiefsinnierenden Gegenwartsanalyse des Textes kontrastiert, ohne sie preiszugeben für Amüsement.

Das gelingt vor allem in zwei Episoden: in der gemeinsam durchgesprochenen Bombenpanik in der U-Bahn, weil ein Mann sich auffällig an seine Sporttasche klammert. Hier wird eine Erfahrung, ein alltägliches Dilemma, mikroskopisch genau durchdacht und untersucht und dann auf der Bühne wieder gestisch vergrößert. Und in Carina Zichners Monolog der Journalistin über ihr fatales Interview, in dem sie alle Reflexionsschleifen durchläuft, in den sie aber auch alle Wut, allen Selbsthass, alle Selbstbehauptung dieser Figur hineinsteigert bis zum Szenenapplaus des Premierenpublikums.

Wildnis1 560 Birgit Hupfeld uCarina Zichner als Journalistin zwischen Wut, Selbsthass und Selbstbehauptung © Birgit Hupfeld

Am Schluss verlieren sich Stück und Inszenierung, die so präzise Verhaltensanalysen zeigten, in vagen Lyrismen. Der Politiker / Odysseus kehrt zurück zu seiner Frau / Penelope: Seine Geschichte sei nun auserzählt. Übrig bleibt im Epilog, zu Gitarrenakkorden im Dunkeln aus den Lautsprechern quellend, eine "Sehnsucht, die nicht veränderbar ist", das "pure Fehlen". Ja, das hätte fehlen können.

 

Die europäische Wildnis, eine Odyssee
von Sascha Hargesheimer*
Uraufführung
Regie: Katrin Plötner*, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Lili Wanner, Musik: Markus Steinkellner, Licht: Jan Walther, Dramaturgie: Henrieke Beuthner
Mit: Verena Bukal, Heidi Ecks, Carina Zichner*, Justus Pfannkuch*, Matthias Scheuring
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

*Mitglieder des Schauspiel-, Regie- bzw. Autorenstudios am Schauspiel Frankfurt

www.schauspielfrankfurt.de
www.ruhrfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Katrin Plötner setzt sorgfältig ein Prinzip um, das Autor Sascha Hargesheimer schon in seinem Text angelegt hat, der keinen einzigen Absatz einer festen Figur vorschreibt", so Christiane Enkeler von Deutschlandradio Kultur (13.5.2016). Formal stehe so zur Disposition, worum es hier thematisch gehe: "Identitäten. Grenz-Ziehungen." Von einer Figur werde erzählt, eine andere übenehme die wörtliche Rede, wieder eine andere das Spiel. "Und manchmal begreift sie erst langsam die Zuschreibung, findet sich hinein und 'improvisiert' (sichtlich sorgfältig geprobt)." Dabei entstehe die melancholische Leichtigkeit eines Episodenhaften, das der Text bereits angelegt habe. So sei ein "netter, leichter Abend" entstanden. "Mit einem untergründigen, alptraumhaften Grollen."

"Verunsicherte, verwirrte Menschen bevölkern seine "Hargesheimers" Nummern-Revue, die sich klischeehaft, oberflächlich an den Zeitgeistthemen im Schnelldurchlauf abarbeitet", beginnt Britta Helmbold von den Ruhrnachrichten (12.5.2016) ihren Verriss. "Das sprachlich langweilige Stück besteht über weite Strecken aus Prosatext - mit ein paar eingestreuten Dialogen. Dazu ist Regisseurin Katrin Plötner dann auch nicht viel eingefallen." Die uninspirierte Regie arbeite mit Stereotypen, der Abend sei zäh.

Ein Stück zur Stunde wolle "Die europäische Wildnis" sein, meint Stefan Michalzik in der Frankfurter Rundschau (27.5.2016). Doch leider sei es "grob gezimmert", "erdrückend mit Klischees beladen und durchwirkt mit Gegenwartsfloskeln und Zitaten". Nicht einen Deut fordere "es den Zuschauer heraus. Alles ist im Übermaß eindeutig und – paradoxerweise – zugleich auch wieder im Wollen, einen gesellschaftspanoramenhaften Rundumschlag zu leisten, zu diffus unbestimmt." Immerhin gelinge es der "konturensicheren Regiehand von Katrin Plöttner", die "durchweg großartigen Schauspieler mit einem zwar pointierenden, im Ganzen aber nicht albernen Spiel ohne Aplomb in Szene zu setzen. Damit leistet sie eine Art von Notdienst am Text und schlägt tatsächlich eine redliche Form von Kurzweil heraus".

"Hargesheimer mag mit den Ängsten kokettieren", in der Aufführung aber bleibe "die Wildnis gezähmt", schreibt Claudia Schülke im Rhein-Main-Teil der Frankfurter Allgemeinen (27.5.2016). Wirklich wild sei "nur das Absturzgetöse am Anfang. Danach folgt knappe anderthalb Stunden lang eine szenische Rezitation von Prosa und wenigen eingestreuten Dialogen." Die Figuren des Stücks litten "an einer 'betäubenden Erschöpfung' am Leben, einer Art kollektiven Burnouts. Das führt beim Zuschauer allerdings eher zum Bore-out."

Kommentare  
Die europäische Wildnis, Recklinghausen: mit der Zipfelmütze
Wenn man Europa - und speziell Deutschland mit seiner zentralistischen Lage - von außen betrachtet, bleibt der Eindruck kleben, das gesamte Europa gibt sich blutleer, stereotyp und farbgeschwächt seinen eigen, selbst inszenierten Problemen hin. Was soll Einem auch dazu einfallen? Langeweile durch den omnipotenten Michel mit Schlafzipfelmütze, durch den Bayerischen, der Alles ab- und wegknallt, was ihm fremd kommt. Melancholie unter qualmenden Schornsteinen und zwischen stinkenden Auspüffen. Apathie zwischen Kloster und Kirche. Desillusionie zwischen Kindergarten und Universität. Wo bleibt die großartige Perspektive aus der Schwärze unserer Verliese heraus? Verliese der Bürgerlichkeit: gespickt mit Gartenzwerge, angereichert mit Betäubungsmittel und Ruhigstellungsstoffen, verharmlost mit Überschrilligkeiten, gedopt mit Journalistik, nur genießbar mit Sarkasmus, Zynismus, Arroganz. Von außerhalb sieht nicht nur Deutschland Blut entleert aus. Es fühlt sich auch genau so an.
Die europäische Wildnis, Recklinghausen/Frankfurt: neugierig
Fein beobachtet. Exakt das rücken Hargesheimer und Plötner auch in den Vordergrund: Nix geht voran, alles stagniert, keine Perspektive, nirgends. Beruflich, privat, politisch überwiegen Angst und Ratlosigkeit. Die lyrischen Qualitäten des Stück, in den Besprechungen nicht wirklich gewürdigt, verstärken diesen Effekt noch. Ich habe lange nicht mehr einen solchen Theaterabend erlebt (ich war in der Frankfurter Premiere) und bin neugierig geworden auf andere Arbeiten von Katrin Plötner. Nach dem, was sie der ZEIT sagte, scheint sie eine interessante Erscheinung zu sein. Kostproben:

"Atomkraft und Raumfahrt waren früher mit großen Hoffnungen verbunden. Heute gibt es keine Utopien mehr. Es existiert nicht einmal das Gefühl, dass die Gesellschaft solche braucht."

"Sinn und Zweck sind verloren gegangen. Der Mensch blickt heute nach unten, flüchtet sich in die private Abgrenzung und verliert den Kontakt zu sich selbst."

"Früher existierte ein Urvertrauen, das abgelöst wurde durch ein Grundmisstrauen. Das beginnt bei einem selber, und deshalb kommt man nicht in Kontakt mit anderen. Aber wenn man immer an sich kleben bleibt, ist die Gesellschaft nicht lebenswert. Sich selber aushalten: Das ist es, was der Mensch am wenigsten kann."

Quelle:
http://www.zeit.de/2016/21/katrin-ploetner-regisseurin-theater
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