Mach Mensch!

von Eva Biringer

Wien, 13. Mai 2016. Regelbruch: Blickkontakt aufnehmen, sich beschnüffeln lassen, dann die Hand in den Hundekäfig strecken. Anders als angekündigt wird die Hand nicht gebissen, sondern geleckt, von einem Hund in Menschengestalt. Kurz zuvor wurde er ausgezogen, auf ein Klappbett geschnallt, gewaschen und für mangelnden Gehorsam ausgepeitscht. "Pax" gehört angeblich zu den schwierigen Fällen im Zwinger, jenem Kellerraum eines unscheinbaren Wiener Wohnhauses, aus dem man am schnellsten wieder weg will, nicht zuletzt wegen des Gestanks nach frisch gebratener Leber. Bei mir ist Pax komischerweise ganz brav. So oder so würde ich keinen Gebrauch von dem Elektroschocker machen, der mir beim Betreten des Zwingers ausgehändigt wurde. Dass er voll funktionsfähig ist, gehört zum Konzept von "Wir Hunde/ Us Dogs", der neuen Produktion von Signa.

Das dänisch-österreichische Performancekollektiv ist bekannt für seine begehbaren, bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Hyperrealitäten, die Zuschauer zu Mitspielern machen. Bei Club Inferno war es ein von Dante inspiriertes Bordell, bei Das ehemalige Haus ein Wohnheim für verfluchte Kinder. Das neue, von den Wiener Festwochen und dem Volkstheater Wien koproduzierte Stück entwirft den Verein "Canis Humanus". Dessen Sitz ist ein zweistöckiger, leicht baufälliger Altbau, so aufwändig gestaltet, wie man es von Signa gewohnt ist. Was dessen Mitglieder bewegt, ist schnell klar: Hunde, Hunde überall, von bellenden Welpenrobotern über hüfthohe Porzellanretriever bis hin zum Schnapsglas mit Lassie-Konterfei.

Tierische Transgender mit emotionalem Vorsprung

Am Tag der offenen Tür sollen Besucher in Vorträgen und beim gemeinsamen Musizieren an das Leben mit "Hundschen" gewöhnt werden. Hundsche sind Hunde in menschlicher Form, geboren im falschen Körper, eine Art tierische Transgender. Gründer des Vereins ist der im Sterben liegende Graf Trenck von Moor. Gäste empfängt er vom Bett aus, die Astrologiesendung in Blick- und den Marillengeist in Reichweite. Während er meine Hand und das wirre Haar der sabbernden Performerin neben ihm tätschelt, betont er, wie sehr Hundsche auf uns angewiesen seien. Weil sie ihrem Gefühl statt dem Verstand folgten, seien sie dem Menschen überlegen. Das ist ungefähr das Gegenteil von dem, was ein Stockwerk tiefer Margo Marmelstein bei Kokosmakronen und Filterkaffee über ihre beiden Töchter klagt, die im Teenageralter zu Hundschen wurden: "Dann weißte plötzlich, warum die nie laufen gelernt haben. Und dann stehste da."

Us Dogs 560 Erich Goldmann uPerverse Zivilisation © Erich Goldmann

Und ja: Da steht man nun vor Darstellern, die sabbern, rülpsen und aus Näpfen saufen, zu Whitney Houston heulen und die Hand lecken, die sie mit Hundekeksen füttert. Es ist diese unheimliche, in manchen Momenten perfekte Aneignung tierischen Verhaltens, die "Wir Hunde / Us Dogs" so beklemmend macht. Hier in Wien darf ruhig einmal Freud zitiert werden: "Unheimlich" bedeutet für ihn die Angst vor etwas Vertrautem, das in veränderter Form erscheint. Dass zwei gegenseitig ihre Genitalien beschnüffeln, ist ja erst dann verstörend, wenn es keine Hunde, sondern Menschen sind, zu allem Überfluss beinahe noch Kinder.

Die abschließende Verpflichtung

Halbnackte Jugendliche, die an Halsbändern über den Boden geschleift werden, erinnern unweigerlich an "Die 120 Tage von Sodom". Anders als im Film ist Weiterspulen hier keine Option. Signa und Arthur Köstler zwingen den Zuschauer, sich zu verhalten: Lässt er sich den Schoß vollsabbern oder schützt er den Hundsch vor den Demütigungen seines Herrchen? Vom im Programmheft behaupteten Mitgefühl ("Schaut doch mal bei uns herein, denn unsere Hundsche haben's fein") ist nämlich wenig zu spüren. Krümelt der Gast mit den Hackfleischhäppchen, muss der Vierbeiner die Reste fressen. Kauert Bello einen Moment zu lange im überheizten Häkeldeckchenwohnzimmer, wird er zum Kartoffelschälen verdammt.

Je länger man diesen Mischwesen den Nacken krault, desto zutraulicher werden sie – und desto menschlicher. Plötzlich sprechen sie in ganzen Sätzen, leiern Emailadressen herunter (hundschkommheim@gmail.com), gehen aufrecht und kochen auf "Mach Mensch"-Kommando sogar Kaffee. Nicht alle Szenen sind so abstoßend-genial wie jene, in der sich Hündschin Tapsi mit nacktem Oberkörper an ihr lüsternes Herrchen schmiegt oder die schwäbelnde Vroni den Kopf ihres Lieblings in den Ofen steckt. Insbesondere die religiösen Anspielungen stören das sonst so stimmige Konzept, die bibeltreue Tochter, die Hundsche als Strafe Gottes sieht, das vom ausklingenden Menschenzeitalter brabbelnde Wolfspaar und das Abendmahl am Ende der fünfstündigen Performance: Brioche und Wein für jeden Zuschauer, der sich per Urkunde zum Freund des "Canis Humanus"-Vereins erklärt hat. Bis Mitte Juni werden wir alle telefonisch an unsere Pflichten als Hundschfreunde erinnert werden. Entweder müssen wir ins Vereinshaus zurückkommen oder uns zum Gassi Gehen verabreden. Kein Problem. Ich habe meine Telefonnummer bereits drei Stunden vorher hinterlegt, während ich den nackten, winselnden Pax durchs Gitter streichelte. Das Pflaster, das ich ihm für sein blutendes Knie geben wollte, lehnte er ab. Pax wird mich demnächst besuchen kommen. Natürlich nicht ohne sein Herrchen.

Wir Hunde/ Us Dogs
Von Signa und Arthur Köstler
Co-Regie: Ilil Land-Boss, Buchmitarbeit: Sophia Hussain, Flora Janew, Ausstattung und Kostüme: Signa Köstler, Olivia Schrøder, Yulia Yane, Audiovisuelle Medien: Arthur Köstler, Martin Heise, Dramaturgie Heike Müller-Merten.
Mit: Amanda Babaei Vieira, Franz Josef Becker, Bea Brocks, Hans-Günter Brünker, Elena Carr, Laura Eichten, Freda Fiala, Joachim Förster, Erich Goldmann, Elvis Grezda, Anne Hartung, Martin Heise, Mario Högemann, Sophia Hussain, Flora Janewa, Tabita Johannes, Arthur Köstler, Signa Köstler, Lino Kleingarn, Viktoria Klimmeck, Ilil Land-Boss, Frederik von Lüttichau, Jan Liefhold, Camilla Lønbirk, Vanessa Mazanik, Johanna Mitulla, Siri Nase, Melody Pasanideh, Ilona Perger, Sonja Pikart, Michael Pöpperl, Jos Porath, Agnieszka Salamon, Julian Sark, Rahel Schaber, Jessica Schmitz, Andreas Schneiders, Olivia Schrøder, Helga Sieler, Ivana Sokola, Raphael Souza, Visnja Sretenovic, Simon Steinhorst, Omid Tabari, Luisa Taraz, Steffi Wieser, Cynthia Wijono, Klaus Unterrieder, Marie S Zwinzscher, Yulia Yáñez.
Dauer: 5 Stunden, keine Pause

www.festwochen.at
www.volkstheater.at

 

Kritikenrundschau

"Erst wer diese fünf Stunden erlebt hat, weiß wirklich, was eine immersive Aufführung ist", schreibt Helmut Ploebst im Wiener Standard (16.5.2016). "Die Besucher werden voll und ganz in eine inszenierte Wirklichkeit integriert. Und zwar ganz analog. Im Vergleich mit einer solchen Erfahrung kann all die technisch erzeugte 'virtuelle Realität', in die gerade Unsummen investiert werden, schlicht einpacken."

"Aber was machen diese Leute mit dem Theater? Seinen religiösen, repräsentativen, aufklärerischen Wurzeln – und der moralischen Anstalt?", fragt Barbara Petsch in der Wiener Presse (16.5.2016). Von alldem findet die Kritikerin erstaunlich viel in der Aufführung mit der "überwältigend somnambul anmutende Signa Köstler". Im Grunde gewinne Signa dem Theater alte Werte zurück: "Die Katharsis durch Mitleben und Mitleiden; die Aura, die Sinnlichkeit (dazu gehört auch die olfaktorische Belästigung) und den Erkenntnisgewinn durch spielerisch-verspielte Pädagogik. Machen nicht genau das auch die Hunde mit uns?"

 

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