Im Defekteffekt

von Christian Rakow

Cottbus, 21. Mai 2016. “Kinder”, seufzt Polonius einmal, der hier in Cottbus als Frau besetzt ist (Susann Thiede), mit der Anmutung einer Internatsvorsteherin. Und es klingt so genervt wie verzweifelt, denn diese "Kinder" sind natürlich ganz besondere Problemfälle. Ophelia etwa (Lucie Thiede), die eingangs noch ihrem Bruder Laertes im Fechtkampf und beim Boxen Paroli bietet, aber dann doch auf die schiefe Bahn der Tragödie gerät und, irre geworden, Unflätigkeiten ins Rund posaunt – und sich anschließend ertränkt. Oder eben Laertes (Henning Strübbe), der gerade mit einem schwulen Lover im Bett kuschelt, als Mutter Polonius ihn anskypt, und der später im Zorn über den Tod seiner Angehörigen die Giftintrige gegen Hamlet ausführen wird. Kinder, Kinder.

"Ein Mensch sein oder nicht"

Und natürlich Hamlet, das Trotzkind schlechthin. Johannes Kienast stellt ihn beim ersten Auftritt wie einen Konfirmanden vor, mit verschränkten Armen hinterm Rücken, während sein Stiefvater Claudius (Amadeus Gollner) und Mutter Gertrud (Heidrun Bartholomäus) zur Staatsfeier bitten. Konfirmanden sollen ja ihren Glauben bezeugen, in einem Alter, wo man für gewöhnlich vom Glauben abfällt. "Die Zeit ist aus den Fugen", weiß Hamlet und zweifelt voll jugendlichem Furor an allem: am Staat, an der Mutter, die sich nach des Vaters Tod zu schnell neu vermählte, und auch an dem – vom Geist des ermordeten Vaters eingehauchten – Auftrag, das Attentat des Claudius zu rächen.

Hamlet1 560 Marlies Kross uJohannes Kienast als Hamlet in Cottbus  © Marlies Kross

So wenig Glauben Hamlet hat, so viel bringt sein Spieler Kienast auf. Zum Beispiel den Glauben, dass wer über einen breiten Instrumentenkasten verfügt, auch kräftig auspacken sollte. Also springt der junge Konfirmand nach seinem Auftakt zu einem Schlagzeug im Orchestergraben und bringt sich in Wallung. Die großen Monologe werden bebend an die Rampe geklotzt ("Oh schmölze doch dies allzu feste Fleisch"; "Sein oder Nichtsein" hier in etwas irritierender Übersetzung als "Ein Mensch sein oder nicht"). Den vorgetäuschten Wahnsinn Hamlets chargiert er nackt bis auf die Unterhose im Herrschermantel unter einer Pappkrone. Mit Laertes testet er ironisch eine schwule Liebesszene an, mit Ophelia geht’s anfangs in die süßliche Vorabendserientändelei, später fast in die Vergewaltigung. Jede Szene ist neu gestimmt. Aber beherzt in die Klaviatur zu greifen, macht noch keine Melodie. Es fehlt ein Grundmotiv, ein Tenor, aus dem heraus die Variationen der Figur stimmig entfaltet werden könnten.

Konfektionierte Genre-Bilder

Regisseur Mario Holetzeck ist derweil damit beschäftig, das lose Gewirr um diesen Helden mit weiteren faserigen Fäden anzureichern. Vater Hamlet (Gunnar Golkowski) geistert im Generalsmantel andauernd umher, um seiner Order – Räche mich! – Nachdruck zu verleihen. Auf der Bühne, die wie das Innere eines schon mit Grünspan überzogenen Flakturms ausschaut, hängen Videoscreens, die etwas Überwachungsstaatsatmosphäre einspeisen, ohne dass diese in der Figurenhaltung einen Nachklang fände. Claudius und Gertrud seifen das Publikum mit Schlagerfröhlichkeit in der Manier eines Florian Silbereisen ein. Wenn’s zwischen Gertrud und Hamlet kracht, hockt Mutter im Morgenmantel und greift nach einer Flasche Johnny Walker. Konfektionierte Genre-Bilder der Verzweiflung.Hamlet3 560 Marlies Kross u Hamlet (Johannes Kienast vorne), mit Claudius (Amadeus Gollner) und Gertrud (Heidrun Bartholomäus), dazwischen Polonius (Susann Thiede)  tot in der Karre.  © Marlies Kross 

Matthias Manz als Horatio mit einem Look wie Hermes Phettberg und einer Bluesgitarre in den Händen hat sich komplett in der Tür geirrt. Seine erdige Witzbolderei würde für einen passablen Mercutio in "Romeo und Julia" taugen. Holetzeck dichtet Horatio zur allgemeinen Verblüffung einen Tod im finalen Fechtduell an. Ebendort erfährt der Usurpator Claudius eine Aufwertung, wenn er mannhaft selbst vom Giftbecher trinkt, statt von Hamlets Hand zu fallen. Andere hatten sich vorher disqualifiziert: Ophelia verabschiedete sich mit breit ausgewalzten Obszönitätskapriolen – "Horatio Fellatio" – und dem erwartungsgemäßen Vers zur Satirecausa dieser Wochen: "Der König vögelt gerne Enten, fast wie osmanische Präsidenten". Tja.

Nach knapp dreieinhalb ebenso hochtourigen wie schleppenden Stunden ist Schluss. Hamlet alias Johannes Kienast nimmt einen Strauß Blumen mit nach Hause, der ihm aus dem teils stehende Ovationen spendenden Publikum zugeworfen wurde. Der Kritiker nimmt das schöne Wort "Defekteffekt" mit. "Der Defekteffekt hat einen Grund", hatte Polonius gesagt. Wie wahr. Viel Effekt ergibt Defekt. Kinder, Kinder.

 

Hamlet
von William Shakespeare, Deutsch von Angela Schanelec und Jürgen Gosch
Fassung von Mario Holetzeck
Regie: Mario Holetzeck, Bühne: Juan León, Kostüme: Susanne Suhr, Musik: Hans Petith, Dietrich Petzold, Kämpfe: Alister Mazzotti, Video: Ron Petraß, Dramaturgie: Bettina Jantzen, Sprecherziehung: Peggy Marmuth, Regieassistenz: Maria Bock.
Mit: Johannes Kienast, Gunnar Golkowski, Amadeus Gollner, Heidrun Bartholomäus, Susann Thiede, Lucie Thiede, Henning Strübbe, Matthias Manz, Kai Börner, Michael von Bennigsen.
Dauer: 3 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-cottbus.de

 

Kritikenrundschau

Mario Holetzeck habe eine sehr heutige, spannende Inszenierung geschaffen, die dennoch nah bei Shakespeare sei, lobt Renate Marschall in der Lausitzer Rundschau (23.5.2016). "Holetzeck verdeutlicht, was Manipulation aus Menschen macht." Johannes Kienast rage aus dem großartigen Ensemble als moderner Hamlet heraus. Marschall schließt: "Ein besonders Theatererlebnis, das man sich nicht entgehen lassen sollte."

Für Stefan Amzoll vom Neuen Deutschland (25.5.2016) ist diese Inszenierung so "scharfsinnig" wie "überschäumend im Gebrauch der theatralen Mittel“. Sie hole ihre "Tonfälle" aus "elisabethanischer Vergangenheit und neoliberaler Gegenwart" und "enthüllt ein System, worin jeder gegen jeden steht, niemand vor dem anderen sicher ist und der Pegel der Angst steigt".

Von einer "klug aktualisierten Inszenierung" mit einem "ausgezeichnet" besetzten Hamlet berichtet Irene Bazinger in der Berliner Zeitung (26.5.2016). Der Titelheld sei "kein Intellektueller, sondern ein allein gelassenes, stets überwachtes Kind". Shakespeares Geschichte werde von dem Cottbusser Ensemble "logisch und plastisch" auf die Bühne gebracht. Im Ganzen überzeuge der Abend als "abgründiger Bilderbogen über die Macht, ihren Preis und ihre Kollateralschäden – einst wie jetzt".

Einer "sehr poppigen bis schrillen, manchmal lauten, musikalisch vielfältig kommentierten Inszenierung" hat Tomas Petzold von den Dresdner Neuesten Nachrichten (26.5.2016) beigewohnt. Regisseur Mario Holetzek suche "nachvollziehbare Erklärungsmuster" für Hamlets "Tollheit mit Methode". "Das gelingt über weite Strecken, wenn auch nicht ohne Brüche, Widersprüche und eine gewollte Doppeldeutigkeit, ohne die sich wohl eine allzu einfache Lösung aufdrängen würde".

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