Leben vor der Abfahrt in den goldenen Westen 

von Georg Kasch

München, 15. April 2008. Schon beim Einzug des Publikums steht sie da und blickt zu den Sitzreihen hinauf mit ihren großen, dunklen Augen, lächelt, umfasst sich mit den Armen, schaut neugierig, freudig, gluckst, grinst verschmitzt, steckt die Hände in die Hosen, wartet. Während Murena, der schmalbrüstige Glamrock-Gitarrist, in seiner Glitzerkulisse "Where are you now, perfect lover" singt, wird das Gesicht des Mädchens hinten groß an die Wand projiziert: Der Lippenstift ist verschmiert, ein Auge geschwollen, der Blick gebrochen.

Mit Lilja wird es nicht gut enden, dass weiß man schon seit 2002, als der Schwede Lukas Moodysson mit seinem Film "Lilja 4-ever" durch einen trostlosen Realismus schockierte. Hoffnung gab es nur in den Träumen, und selbst die waren so trist wie ein heruntergekommenes Plattenbauviertel.

Wiederbelebungs- und Knutschversuche 

In Roger Vontobels Adaption des Stoffs im Werkraum der Münchner Kammerspiele geht es zwar weniger brutal und stetig zu, aber ebenso gewiss bergab. Die Bühne ist bis auf ein Podest, eine Mülltonne und einen grauen Metallspind leer. Hinten öffnen sich die beiden eisernen Schiebetüren, um wechselnde Interieurs zu zeigen, die aber für die Kinder nur kurz oder gar nicht erreichbar sind.

Ein Kind ist neben der sechzehnjährigen Lilja, die von ihrer in die USA ziehenden Mutter allein in einem ehemals sowjetischen Staat zurückgelassen wird, der um einige Jahre jüngere Volodja. Beide sind sie Wendeverlierer ohne Zukunft und Halt. In ihren Begegnungen zaubert Vontobel Momente von Unbeschwertheit und Zärtlichkeit, wenn Volodjas vermeintlicher Vergiftungsversuch in einen Wiederbelebungs- und Knutschrausch übergeht oder Lilja nach einem Besäufnis in seinem Schoß liegt und er sagt: "Wie eine richtige Familie." Hier scheint eine Utopie auf, die im nächsten Moment zerstört wird, weil Lilja nach anfänglichem Ekel dem Beispiel einer Freundin folgt und sich prostituiert.

Die Körper sprechen Bände 

Daniela Britts Lilja ist ein stolzes, selbstbewusstes Mädchen, das sich zunächst so vehement zur Wehr setzt, ihren Körper zu verkaufen, dass es dann doch verwundert, als es so weit ist. Während man ihr optisch die 16 Jahre noch abkaufen würde, ist es damit bei Lasse Myhr vorbei. Aber spielen kann er Volodja, dass man ihn sofort in den Arm nehmen möchte: nervös an allem rumfummelnd, aufgedreht zwischen Verspieltheit und gerade erwachender Libido. Sein Körper spricht Bände, und wenn er mal wieder nicht zu Lilja durchdringt mit seinen Warnungen und Bitten, verkrampft sich sein Körper, wird sein Blick trotzig-verstört.  

Katharina Schubert und Jochen Noch geben dazu in fliegendem Wechsel pointierte Miniaturen; sie verleiht den ramponierten Frauen (Mutter, Tante, Freundin, Prostituierte) Glaubwürdigkeit, anfangs launisch, dann zunehmend verzweifelt; er gibt den schwanz- oder geldgesteuerten Männern eine kaltschnäuzige Schmierigkeit, ohne sie auf den ersten Blick preiszugeben. Murena zupft und schluchzt einen melancholisch-schönen Soundtrack dazu.

Film ist und bleibt Material

Bevor es mal wieder richtig heftig wird, wechseln die Protagonisten in die zweite oder dritte Person und erzählen die Geschichte, anstatt sie zu spielen. Die Bilder im Kopf sind ohnehin stärker als alles, was man auf der Bühne zeigen könnte. Dennoch gibt es auch dort beklemmende Momente: Wenn Volodja auf der Brücke balanciert, lehnt Lasse Myhr an der Wand und lässt den Metallspind, auf dem er steht, gefährlich weit nach vorn kippen. Wenn er sich nach dem Versprechen, die Augen zu schließen, das Gesicht verklebt und die Streifen mühsam wieder abreißt, während er vom Überfall auf Lilja berichtet. Oder wenn sich Lilja vor der Abreise nach Schweden von Volodja verabschieden will, der sich im Spind versteckt: Da wiederholt sich fast wörtlich der verlogene Abschied ihrer Mutter.

Es ist die dritte Film-Adaption innerhalb eines Jahres an den Kammerspielen; und wie bei Thomas Ostermeiers theatertreffengeadelter "Die Ehe der Maria Braun" und Sebastian Nüblings "Hass" nach Mathieu Kassovitz geht in "Lilja 4-ever" bei der Übertragung auf die Bühne einiges an Unbedingtheit und Wucht der Vorlage verloren. Aber wie den anderen Nacherzählungen gelingt es Vontobels stiller, verdaubareren Version, genuin theatrale Mittel zu nutzen. So entsteht ein erzählerischer Sog, der knapp eineinhalb Stunden fesselt und berührt, ohne derart zu verstören wie Moodyssons Original.


Lilja 4-ever
nach dem Film von Lukas Moodysson
Deutsch von Hansjörg Betschart
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Natascha von Steiger, Kostüme: Eva Martin, Musik: Murena. Mit: Daniela Britt, Lasse Myhr, Jochen Noch, Katharina Schubert und Murena.

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Mehr über die Film-Adaptionen an den Münchner Kammerspielen: Sebastian Nübling inszenierte im Januar 2008 Hass. Thomas Ostermeier brachte im Juni 2007 Die Ehre der Maria Braun auf die Bühne. Anfang dieses Jahres inszenierte Roger Vontobel zuletzt und zwar in Hamburg Ibsens Helden auf Helgeland mit Live-Second-Life-Spiel.

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (17.4.) schreibt Egbert Tholl, dass Roger Vontobel klug jede Anspielung auf die Filmbilder vermeidet. Im Video seien nur manchmal die Gesichter der Schauspieler zu sehen, dann aber riesengroß. "Vontobel vermeidet jedes Pathos. An dessen Stelle setzt er den Schmerz." Jochen Noch und Katharina Schubert spielen virtuos alle Figuren. "Da dauert es eine gewisse Zeit, bis das Theaterhafte dieser Konstruktion, die stellenweise unfreiwillige Komik verschwindet. Je weiter die Aufführung jedoch auf dem Leidensweg Liljas voranschreitet, desto mehr lösen Ort und Zeit sich auf." Das Einzelschicksal werde zum berührenden Menetekel einer herzlosen Gesellschaft erhoben, "da überwindet das Theater die filmische Vorlage."

Michael Stadler schreibt in der az (17.4.), dass sich Roger Vontobel den Film für eine gerissene, berührende Inszenierung zur Vorlage nehme. "Psychologische Vorgänge macht Vontobel in der Metapher sichtbar, bleibt in der Andeutung, wo der Film melodramatisch wird, und gewinnt so angemessene Distanz, um dennoch nah dran zu bleiben." Auf und zu gingen die Schiebetüren auf Natascha von Steigers Bühne – die "Prostitution als Maschine, die den Menschen unaufhörlich einsaugt und ausspuckt."

 

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