Das große Eintauchen

von Esther Slevogt

Berlin, 24. Mai 2016. In der letzten Zeit wird im Theaterwesen viel mit einem neuen Wort gewedelt, das eigentlich so neu nicht ist. "Immersion" ist das Wort, es bedeutet ungefähr so viel wie Einbettung oder Eintauchen. Und es ist anscheinend ein neues Zauberwort. Sogar auf dem Netzkongress "Republica" (der bisher nicht durch besonderes Kunstinteresse aufgefallen ist) hat man sich in diesem Jahr dieses neuen Trends angenommen und die "Performersion" erfunden: ein Programm, das die "Immersion" mit der "Performance" amalgamiert und das als Kontakthof für Leute aus der künstlerischen Praxis, Theoretiker und digitale Forscher*innen und Technologieentwickler*innen gedacht war.

Reingehen statt Anschauen

Auf dem gerade zu Ende gegangenen Theatertreffen war "Immersion" ebenfalls ein großes Thema. Denn die Berliner Festspiele haben unter der Überschrift "Immersive Künste" ein neues Programm aufgelegt, das im Herbst an den Start geht und das "Foreign Affairs"-Festival ablösen wird. Statt auf die ästhetische Reise nach außen geht es also jetzt auf eine Reise nach innen?

"Immersiv arbeitende Künstler*innen schaffen Welten, die sich der/die Zuschauende nicht von außen anschaut, sondern betreten und beeinflussen kann", wird die Angelegenheit auf der Internetseite der Festspiele anmoderiert, und als Referenz der amerikanische Aktionskünstler Allan Kaprow (1927-2006) zitiert: "Go in instead of look at".

Computerspiele, Audiowalks, Shoppingmalls

Attraktiv scheint an dieser Kunstform also vor allem zu sein, dass sich das einzelne Individuum in das Kunstwerk einbetten lässt wie ein Code in eine digitale Textur. Dass es also Teil des Werkes wird, das sich ihm gar nicht mehr anders vermittelt: weil das Individuum dem Kunstwerk nicht mehr als autonome Einheit gegenübertritt, wie es die Aufklärung einmal mit der bürgerlichen Öffentlichkeit als Ideal der Kunstbetrachtung hervorgebracht hat.

kolumne 2p slevogtDie Arbeiten der Performancegruppe Signa zum Beispiel sind immersiv. Sie kreieren eine Welt, die sich am Ende nur denen erschließt, die die Spielregeln als allgemeine Geschäftsbedingungen des Kunstdeals bedingungslos anerkennen. Beeinflussen kann man hier als Zuschauer gar nichts: Man wandelt ja auf vorgeschrieben Pfaden und legt nur durch beherztes Kratzen an der versiegelten Oberfläche die dahinter verborgene Inszenierung frei. Auch Computerspiele sind immersiv angelegt, weil sie die Spieler zum Teil des Skripts machen, sich die Erzählung ohne Spielerbeteiligung gar nicht erfüllt. Ebenso kann man Stadtspaziergänge, sognannte Audiowalks, in die immersiven Künste einsortieren: die Wirklichkeit eines sozialen und öffenlichen Raums wird gekidnappt und mit einer künstlerischen Fiktion atmosphärisch überschrieben. Kunst schafft hier also zunächst einen Entfremdungszusammenhang, in dem sie sich dann breit macht.

Aber auch Shoppingmalls arbeiten hochimmersiv: Ihre ganze Dramaturgie ist darauf gerichtet, die Besucher*innen in das Shoppingerlebnis eintauchen zu lassen – auf dass sie möglichst wenig denken und viel fühlen und dann noch mehr kaufen.

Das Ikea-Erlebnis

Die größten Immersionsspezialisten sitzen wahrscheinlich bei IKEA, deren Inszenierungen sich gelegentlich auf 200.000 Quadrameter Fläche erstrecken und denen sich selbst hartgesottene Ego-Shooter selten entziehen können. Sprich: mit Dingen nach Hause kommen, die sie vorher niemals kaufen wollten. Bis Ikea sie auf dem Weg der Immersion davon überzeugte, dass ihr Leben ohne so ein Ding mit komischem Namen vollkommen sinnlos ist. "I-dioten K-aufen E-infach A-lles" wird IKEA deswegen auch gerne übersetzt.

Bert Brecht hat ja, nachdem Deutschland im Immersionsprojekt Nationalsozialismus untergegangen war, gefordert, eine Inszenierung müsse als Inszenierung stets erkennbar sein. Vielleicht muss man mal wieder im "Kleinen Organon" lesen. Auch wenn Brechts Theater so, wie er es sich wünschte, selbst nur auf dem (Thesen)Papier funktionierte. Aber zumindest hat er auf mündige Zuschauer als Gegenüber gesetzt.

 

esther slevogtEsther Slevogt ist Redakteurin und Mitgründerin von nachtkritik.de. In ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben untersucht sie: Was ist eigentlich mit der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihren Repräsentationspraktiken passiert?

 

Zuletzt vermied Esther Slevogt es in ihrer Kolumne Aus dem bürgerlichen Heldenleben, über Jan Böhmermann zu schreiben.

Über Immersion im Kontext von Computerspielen, Theater und Brechts epischer Theatertheorie hat Christian Rakow im November 2012 den Essay Die Ritter der Interaktivität. Computerspiele und Theater – Wie die neue Medienkunst die Bühnenwirklichkeit verändert geschrieben. Mehr zum Game-Theater im entsprechenden Lexikoneintrag.

 

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