Ein Fall fürs Musiktheater

Mülheim an der Ruhr, 27. Mai 2016. Wolfram Höll gewinnt mit seinem Stück "Drei sind wir" den Mülheimer Dramatikerpreis 2016. Der Preis ist mit 15.000 Euro dotiert und gilt als wichtigste Auszeichnung für deutschsprachige Gegenwartsdramatik. Das Stück des 1986 in Leipzig geborenen Autors wurde am Schauspiel Leipzig von Thirza Bruncken uraufgeführt. Es thematisiert das Leben mit einem Kind mit Chromosomendefekt (einer Form von Trisomie).

Über die Preisvergabe entschied eine Preisjury wie üblich in Mülheim in einer öffentlichen Diskussion, moderiert von dem Theaterkritiker Michael Laages. Der Preisjury gehörten in diesem Jahr an: Benjamin von Blomberg (Chefdramaturg der Münchner Kammerspiele), Regina Guhl (Dramaturgin, seit 2013 Professorin für Dramaturgie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover), Anne Lenk (Regisseurin), Hubert Spiegel (Literaturkritiker, Frankfurter Allgemeine Zeitung) sowie als Vertreter des Auswahlgremiums: Franz Wille (Theaterkritiker, Leitender Redakteur von "Theater heute").

Hoell Affolter Savolainen xWolfram Höll © Affolter Savolainen

Wortfeldakrobatik mit Freiräumen

Wolfram Höll gewinnt bereits zum zweiten Mal den Mülheimer Dramatikerpreis. 2014 war er mit "Und dann" erstmals zu dem renommierten Wettbewerb eingeladen und siegte sogleich. Im darauf folgenden Jahr erhielt er den Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Höll studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und Theater an der Hochschule der Künste Bern. Er lebt in Biel.

Hölls Siegerstück wurde von der Jurorin Anne Lenk für seine "Freiräume" gewürdigt, es zelebriere den "Sprachverlust". Dramaturg Benjamin von Blomberg sieht es als idealen Stoff für musikalische Regisseure wie David Marton oder Christoph Marthaler an. Literaturkritiker Hubert Spiegel hingegen empfand den Text in seiner "Wortfeldakrobatik" als "dauerpathetisch".

3:2 Sieg im Finale

Mit "Drei sind wir" setzte sich Höll gegen sechs weitere Wettbewerbsstücke durch. In die finale Runde der Diskussion rückten neben "Drei sind wir" auch Sibylle Bergs Und dann kam Mirna vom Gorki Theater Berlin, das zwei Juror*innenstimmen erhielt, Thomas Melles Bilder von uns vom Theater Bonn, für das zunächst ein Juror stimmte, und Fritz Katers Buch (5 ingredientes de la vida) von den Münchner Kammerspielen/Schauspiel Stuttgart. Um die Pattsituation zwischen Sibylle Berg und Wolfram Höll aufzulösen, verabschiedete sich der Juror Franz Wille von seinem Kandidaten Thomas Melle. Für Wolfram Hölls "Drei sind wir" stimmten somit drei Juror*innen: Anne Lenk, Benjamin von Blomberg und Franz Wille.

Der Publikumspreis ging in diesem Jahr an Sibylle Berg für "Und dann kam Mirna".

Der mit 10.000 Euro dotierte KinderStücke-Preis wurde bereits am 13. Mai 2016 verliehen. Es gewann wie im Vorjahr Carsten Brandau, mit seinem Stück "Himmel und Hände" (inszeniert von Winfried Tobias am Theater der Stadt Aalen).

Die Preisverleihung wird am 12. Juni 2016 in Mülheim stattfinden.

(chr)


Anm. Redaktion, 30. Mai 2016. Korrektur: In einer ersten Version dieser Meldung hieß es, Höll sei 2014  in der Kritikerumfrage des Fachmagazins "Theater heute" zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt worden. Das ist nicht richtig. 2014 erhielt Ferdinand Schmalz die Auszeichnung "Nachwuchsdramatiker des Jahres".


Presseschau zum Mülheimer Dramatikerpreis 2016

Dass Wolfram Hölls Stück "aus Sieben zum Besten ernannt wurde, schien am Ende fast eine Zufallsentscheidung. Zwei Stunden lang quälte sich die Jury in monologartigen Lobpreisungen jedes einzelnen Dramas. Klar war zum Schluss: Die Siegerin hätte ohne Weiteres auch Sibylle Berg heißen können", so berichtet Dorothea Marcus über die Jury-Diskussion im Deutschlandfunk (27.5.2016).

Mit "Drei sind wir" gewann "das unpolitischste, das am wenigsten welthaltige Stück", das gleichwohl über eine "hochartifizielle Sprache" verfüge, berichtet Martin Burkert im Gespräch für die Sendung "Mosaik" von WDR 3 (27.5.2016) Das "Kopf-an-Kopf-Rennen" in dieser "ganz komische(n) Jurysitzung" überraschte den Kritiker: "Es wurden dauernd Stücke gelobt, die nachher nicht gewählt worden sind." Als Trend der Gegenwartsdramatik gemäß dem Tableau der sieben Einladungen zeichnet sich für den Kritiker der Hang zur "Satire" ab, es fehlte weitestgehend der "politische Aspekt".

Wenn "das traditionsreiche Mülheimer 'Stücke'-Festival ein Spiegel der Gegenwartsdramatik sein will, dann ist der Wettbewerb 2016 diesmal wohl gegen die Wand gefahren", sagt Bernhard Doppler im Standard (online 29.5.2016). Den Kritiker "befremdet" die Abwesenheit des Hitstücks der Saison "Terror" von Ferdinand von Schirach ebenso wie das Fehlen von Peter Handkes "Die Unschuldigen". Statt solcher vielgespielten und auf großen Bühnen präsentierten Werke dominierten in Mülheim in diesem Jahr Arbeiten aus "Nebenspielstätten oder Werkstätten" mit nur recht kleinem Publikum. Den Abdruck sämtlicher eingeladener Stücke im Fachblatt "Theater heute", wo Auswahl- und Preisjuror Franz Wille als leitender Redakteur arbeitet, nimmt Doppler zum Anlass für die Frage: "Mülheim die Bühne eines Journals?" Das Ausscheiden von Ferdindand Schmalz’ Stück "Dosenfleisch" quittiert der Kritiker mit Kopfschütteln. Aber: "Bei der Beliebigkeit der Jurorenurteile schien der Gewinner 2016 ein Glücks-, vor allem aber ein Zufallstreffer."

Christian Rakow, der die Jury-Debatte für nachtkritik.de am Livestream und via Twitter begleitete, kritisiert im nachtkritik.de-Podcast von Georg Kasch (29.5.2016) die neue Politik der "Affirmation“ auf dem Festival: Mülheim "sollte aufhören, sich wie ein kuratiertes Festival zum empfinden."


nachtkritik.de-Podcast zur Kritik an der Jury-Diskussion 2016

 

 

Gesammelte Tweets zur Jurydiskussion

 

 

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