Wie geht's eigentlich der Souffleuse?

von Christian Rakow

Berlin, 28. Mai 2016. Der Szenenapplaus ist zurück. Letztens schon beim Wiener John Gabriel Borkman auf dem Theatertreffen (der in Besetzung und Spielhaltung eigentlich ein Volksbühnen-Abend war), gestern dann am Berliner Ensemble bei den Räubern von Leander Haußmann (Castorfs getreuem Eckart). Und heute nun an der Gralsstätte selbst: in der Volksbühne bei der "Kabale der Scheinheiligen" nach Michail Bulgakow, arrangiert von Frank Castorf himself. Der Applaus schießt hier herein, fast wie Polaroids vor einem Picasso in der Sonderausstellung: Noch flink einfangen, ehe er abgehängt wird.

Nörgeln? Eigentlich verboten!

Es ist bekanntlich Götterdämmerung an der Volksbühne. Kommendes Jahr wird Chris Dercon als Intendant übernehmen. "Verkauft" bannerte die Castorf-Mannschaft, als Berlins Kulturpolitiker über die Zukunft entschieden hatten. Seither höre ich Freunde und Bekannte sagen: Egal wie viele Stunden, egal ob wirr oder wahrhaftig groß (wie zuletzt Die Brüder Karamasow) – ab jetzt ist jeder Castorf Pflicht. Absolut richtig. War auch vorher schon so. Und eigentlich verbietet sich jedwede Nörgelei. Denn um mal einen halbwegs angemessenen Vergleich zu ziehen: Wer würde, wenn das letzte Stündlein naht, zum Grand Canyon fliegen und dort maulen: Also so doll isser nun auch nicht; kann man ruhig planieren.

Und doch muss man sagen, was zu sagen ist. Zwei Stunden in diesem Molière-Abend nach Bulgakow mit Zusätzen von Racine, Corneille, R. W. Fassbinder, Heiner Müller und mutmaßlich vielen anderen beglückten mit spielerischer Brillanz und Witz – aber der Abend hatte ihrer fünfeinhalb. Castorf rahmt das Molière-Drama mit Bulgakows fiktionalisierter Biographie "Das Leben des Herrn Molière" und schießt gleich zum Intro einen Höhepunkt raus, wenn Sophie Rois mit Schmirgelpapier in der Stimme Geburt und Genie des Komödiendichters preist: "Molière ist ... (Kunstpause, als möge bitte der Kronleuchter von der riesigen Wanderbühne rechterhand schicksalhaft herunterkrachen) ... unsterblich."

kabale d scheinheiligen r 560 uJeanne Balibar, Patrick Güldenberg & Alexander Scheer unterm Kronleuchter © Thomas Aurin

Sophie Rois, Alexander Scheer, Georg Friedrich, Lars Rudolph, Patrick Güldenberg – zur finalen Tour de Frank kommen Größen in großer Zahl aus dem weiten Volksbühnenkosmos zurück. Und sei es nur für Stellproben, wie sie Sophie Rois offenbar für diesen Abend absolvierte. Nach dem famosen Intro gibt’s noch zwei Kurzauftritte auf sichtlich gedämpftem Niveau. Womit man wieder beim Szenenapplaus wäre. Er erinnert an Opern, in denen Jetset-Stars mit grenzenloser Stimme und Aura heute hier, morgen dort in statischen Arrangements triumphieren.

"Die Kabale der Scheinheiligen" wäre an sich ein schlanker Vierakter. Bulgakow zeigt den Erfolgsdichter Molière, der vom Sonnenkönig Ludwig XIV. protegiert wird, aber bald die Gunst des Herrschers verliert, weil er mit dem "Tartüffe" den Klerus gegen sich aufbringt. Verhängnisvollerweise hat sich Molière auch noch mit Armande Béjart liiert, von der das Gerücht geht, dass sie seine eigene Tochter ist. In die Enge getrieben, stirbt der Maestro kurz nach einem Auftritt in seinem "Eingebildeten Kranken".

Nonsens mit herrschaftskritischem Impetus

Aus der mutmaßlich inzestuösen Beziehung des Stücks gewinnt Castorf den Bezug zur "Phädra" von Molières Kontrahenten Racine. Dutzende Minuten lang hämmern Jeanne Balibar (mit hölzernem Klassizismus) und der herrlich springteuflische Jean-Damien Barbin den Racine im französischen Original – dankenswerter Weise übertitelt – auf die bunt bemalten Bretter der Wanderbühne, die Bühnenbildner Aleksandar Denić nebst Videoleinwand und Zelten wie für einen osmanischen Feldzug hereinfahren lässt. Mit Fassbinders Film "Warnung vor einer heiligen Nutte" blendet man ins forcierte Spiel im Spiel rüber. Alexander Scheer zelebriert einen Regie-Autokraten bei einer Filmproduktion, der das Geld ausgegangen ist. Scheer ist hier natürlich auch Frank Castorf: "Lass das Messer und den Uterus! In was für eine Rolle steigerst du dich da?", ranzt er Balibar in ihren Phädra-Exzessen an. Und ja, Scheer ist göttlich, ein wahrer Molière, schwitzend unter seiner Barockperücke, aber cool im Management des Chaos: "Wie geht’s eigentlich unserer Souffleuse, lange nichts von ihr gehört."

kabale d scheinheiligen 1 560 uGötterdämmerung in der Volksbühne? © Thomas Aurin

Doch trotz eines Scheer in Höchstform, trotz des bestechenden Georg Friedrich als Sonnenkönig, der mit trockenstem Wiener Kellnergegrantel seine Pointen aus der Hüfte schüttelt (und sich dabei im Wesentlichen auf diversen Liegemöbeln aalt), und trotz des glorios verschlagenen Lars Rudolph als Erzbischof gelingt Castorf gerade der zentrale Sprung nicht: die Auseinandersetzung des Künstlers mit der Macht. Bulgakow hatte seine "Kabale" 1929/30 verfasst, um bei Stalin gegen das Klima von Intrige und Denunziantentum (u.a. in der Russischen Assoziation Proletarischer Schriftsteller) vorstellig zu werden. Sein Stück wurde 1936 uraufgeführt und ob seines herrschaftskritischen Impetus sogleich verboten.

Castorf lässt Scheer zwar einige launige Invektiven zur Enteignung der Volksbühne übermitteln und gelenkig dozieren, "warum Frank keine Tragödie kann". Aber die mächtige Positionierung der Künstlerautorität quer durch die Zeiten bleibt er in allen vagen Anspielungen schuldig. So fließt der Abend mit aufbrandendem Spielwitz im ersten Teil und einem zähen, bilderarmen Rinnsal im zweiten seinem späten Ende weit nach Mitternacht entgegen. "Du musst zugeben, dass das Wort 'Nonsens', wenn es durch Nase und Kehle gesprochen wird, etwas hat, das den Worten 'Ewigkeit' und 'Chaos' nicht nachsteht“, sagt Alexander Scheer einmal. Wo aber Nonsens zum Nümmerchen schrumpft, da sind die großen Dimensionen ganz weit weg. Da bleibt nur Szenenapplaus.

 

Die Kabale der Scheinheiligen
von Michail Bulgakow
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga, Kostüm-Mitarbeit: Sasha Thomsen, Licht: Lothar Baumgarte, Musik: Sir Henry, Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz, Kathrin Krottenthaler, Videoschnitt: Jens Crull, Ton: Klaus Dobbrick, Tobias Gringel, Tonangel: Dario Brinkmann, William Minke, Dramaturgie: Sebastian Kaiser.
Mit: Sophie Rois, Alexander Scheer, Georg Friedrich, Jeanne Balibar, Hanna Hilsdorf, Lars Rudolph, Jean-Damien Barbin, Patrick Güldenberg, Rocco Mylord, Daniel Zillmann, Frank Büttner, Brigitte Cuvelier, Jean Chaize, Sir Henry.
Dauer: 5 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 


Kritikenrundschau

"Neu" ist für Irene Bazinger von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online 29.5.2016), dass Frank Castorf über Alexander Scheer seine "Wirkungsästhetik" hier "plastisch erklären lässt": Man lerne, "auf der Banane ausrutschen ist besser als Textanalyse oder Psychologie. Das castorfgestählte Ensemble weiß damit viel anzufangen, braucht keinen langen Anlauf, um in Rage und außer sich zu geraten, hysterische Anfälle so sicher wie ausgedehnte Sterbeszenen hinzulegen." Mit seiner "inspiriert polymorphen wie beherzt maßlosen Collage" überfordere Castorf alle auf und vor der Bühne und "bewährt sich dabei als aufgeklärter, absoluter Künstler“. Fazit: "Auch wenn seine Inszenierungen nicht immer rundum gelungen sein mögen, muss man ihm doch Dank zollen dafür, dass er die Volksbühne nie ins hauptstädtische touristenkonforme Wellness-Programm eingegliedert hat, wie das der Berliner Senat gern gehabt hätte und mit dem Kuratoren-Intendanten Chris Dercon von 2017 an versuchen wird".

Peter Laudenbach nutzt seine Kritik in der Süddeutschen Zeitung (30.5.2016) für Spitzen gegen den "alerten Kulturmanager Chris Dercon", der Castorf in der Intendanz der Volksbühne nachfolgen wird, und gegen "Noch-Kulturstaatssekretär Tim Renner", der ebenjenen inthronisierte. Der Abend kreise um die "feindliche Übernahme der Volksbühne" ohne sie direkt anzusprechen. "Für weniger spottbegabte Regisseure hätte diese autobiografisch grundierte Versuchsanordnung zur schlimmen Larmoyanz-Falle werden können: der Künstler als Opfer der Macht. Aber Castorf hat entschieden keine Lust auf die Opfer-Rolle. Also inszeniert er einen über weite Strecken böse-heiteren Abend, bei dem sich die Melancholie angesichts des nahenden Endes der Volksbühnenparty eher nebenbei einschleicht. Theater ist hier natürlich nicht nur große Kunst, sondern auch und vor allem: offensive Schmiere, schamfreies Gaukler-Gewerbe und garantiert nicht edel."

Ulrich Seidler widmet seine Kritik in der Berliner Zeitung (30.5.2016) schon dem Rückblick auf die Ära Castorf an der Volksbühne und schreibt zu diesem Abend: "Es gibt viel zu rätseln, zu fiebern und zu lachen in diesen fünfeinhalb Stunden, man muss auch einiges aushalten an Sterbenslangeweile, an illustrativer Corneille- und Racine-Tragödien-Deklamiererei, dann schießen einem wieder Geistesblitze in die Erschöpfung. Man hat wohl tiefere Freude und auch mehr Schmerz mit diesem Abend, wenn man die Texte kennt und wenn man ein Stück des Lebens mit der Castorf-Volksbühne verbracht hat. Das Beste sind wie immer die Spieler, an ihnen hängt alles, und sie schleppen und schleudern die Textbrocken über die Bretter."

"Bitte lasst Frank Castorf Opern inszenieren, Filme, irgendwas! Es ist nicht mit anzusehen, wie er Texte schreddert, kompiliert, aufeinander loslässt, und nichts passiert. Stundenlang passiert nichts“, stöhnt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (30.5.2016). Auch wenn er die Schauspieler eigentlich ausnahmslos großartig findet, resümiert der Kritiker doch: "Fünfeinhalb Stunden. Breit gelatscht, ohne Rhythmus. Textausstoß bis zur Heiserkeit" – und "dankbar lacht das Publikum, harrt geduldig aus in der Volksbühne, die es immer wieder schafft, die Family zusammenzuholen und die Geister zu beschwören, die man nicht rufen muss. Sie sind immer schon da."

Wenn sich Alexander Scheer "in den Wahn des Regisseursmonstrums Rainer Werner Fassbinder hinein imaginiert", wird es für Michael Laages vom Deutschlandfunk (29.5.2016) "richtig grandios". Das "höchst animierte Ensemble" begeistert den Kritiker. Der Abend werde "immer zugänglicher, immer munterer rotiert Castorfs szenisches Schnitzelwerk". Fazit: "Der Abend mag noch lange nicht zu Ende inszeniert sein; aber das ist ja öfter so. Er macht allerdings mächtig viel Appetit auf ein entspanntes letztes Jahr."

Eine "Selbst-Bespiegelung" ohne "Biss", dafür "viele Hänger, Längen und regelrechte Energielöcher" hat Ute Büsing vom Inforadio des rbb (29.5.2016) in der Volksbühne erlebt.

"Frank Castorf spiegelt sich an diesem mit viel Wohlwollen aufgenommenen Abend in Molière, in Bulgakow, in Fassbinder, in Racine eher nicht. Das Genie und seine Verbote, das ist eine groß ausgerollte Folie, um dann doch in gut gelaunt wirkenden Witzen den eigenen Abschied von diesem Haus vorzubereiten. Erstaunlich." So berichtet Katrin Bettina Müller in der taz (31.5.2016). Den "Schluss der Inszenierung" habe sie "vergessen", gibt die Kritikerin zu. "Da wurde viel gestorben", und dann "war auch mal von der ermordeten Kunst die Rede, erst unter Stalin, dann auch hier in Berlin. Da fehlt was, da fehlt was ganz eindeutig. Aber macht nichts, am Ende viel Applaus."

 

Kommentare  
Die Kabale der Scheinheiligen, Berlin: Zustimmung
Große Zustimmung zu dieser Nachtkritik

Aus dem Starensemble ragten vor allem zwei heraus:

"Gleich zum Einstieg ein längerer Monolog von Sophie Rois (als Michail Bulgakow), die allerdings bis 23 Uhr in der Versenkung verschwand und alle Zeit der Welt hatte, das Champions League-Finale der beiden Lokalrivalen aus Madrid zu verfolgen. (...)

Vor allem aber mitten in dem Castorf-üblichen Gewusel sich gegenseitig als hysterisch beschimpfender und – diesmal vorzugsweise auf Französisch mit Übertiteln – schreiender Schauspieler der Volksbühnen-Heimkehrer Alexander Scheer (als Jean-Baptiste Poquelin de Molière)."

Zu den beiden letzten Absätzen: Ja, die erwartete Auseinandersetzung mit Bulgakow/Stalin, dem Verhältnis Kunst/Macht, kam zu kurz.

Stattdessen: "Einen roten Faden gibt es in diesem Nebel sich überlagernder Diskurse: die trotzige, aber auch selbstironische Haltung, mit der sich die Volksbühne ein Jahr vor dem Ende der Castorf-Ära selbst feiert. In Erinnerung bleiben vor allem die Momente, in denen Alexander Scheer weniger den Molière, sondern vielmehr Frank Castorf spielt und sich als „Stückezertrümmer“ bezeichnet. Kurz vor der Pause spricht er über die Philosophie des Hauses und stichelt gegen die Säulenheiligen anderer Theatertraditionen, namentlich werden Klaus Maria Brandauer und Ulrich Matthes genannt. Aber auch alte Weggefährten wie Henry Hübchen werden durch den Kakao gezogen."

Widerspruch zur Kritik an einer Stelle: Eine von Christian Rakow vorgeschlagene Glanzlichter-Best-of-Fassung des Abends würde eher nur eine oder höchstens anderthalb Stunden dauern. Das wäre dann aber natürlich nicht mehr Castorf, da sind wir uns sicher wieder einig.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/05/29/premierenkritik-kabale-der-scheinheiligen-an-castorfs-volksbuehne/
Kabale der Scheinheiligen, Berlin: kongeniales Bild
"Seine [Ludwigs] Persönlichkeit ist groß, weil sie mit seiner Zeit übereinstimmt." - Georg Friedrichs Satz erfährt spät am Abend leider keinen wohlverdienten Szenenapplaus.

Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen, was Irene Bazinger in der FAZ notiert: "Da [Molière] auch Tragödien von Pierre Corneille aufführte, werden zum Beispiel lange Passagen aus „Phèdre“ zitiert. Jeanne Balibar tut dabei mit Ironie und Grazie genau das, was man der französischen Klassik vorwirft, nämlich herumstehen und rezitieren. Die Längsseite einer überdimensionalen Kutsche wurde dafür als Plattform heruntergeklappt und ein Kronleuchter vom Kutschendach gekurbelt."

Die Längs(!)seite(!) einer überdimensionalen(!) Kutsche(!). Was für ein kongeniales Bild!
Kabale der Scheinheiligen, Berlin: lohnend, und doch
Tja, was soll man nun davon halten? Während des Stücks zu wenig, in der Summe definitiv genug. Die Schauspieler begeistern, werden aber über weite Strecken neutralisiert, da Castorf lieber mittelmäßiges Fernsehen anstatt Theater produziert. Die Bilder, die er entwirft, sind grandios, als Erzähler hingegen begeistert er einfach nicht, der Abend schleppt sich dahin. Das Bühnenbild ist sehenswert, einige der vielen Umstellungen sind albern, weil sowieso nur wieder hinter irgendwas weitergespielt wird.
Ergo? Ja, lohnend. Und doch: Vielleicht sollte Castorf nach seinem Weggang mal eine Weile an einer kleinen Bühne inszenieren - wo es einfach nicht diese vielen technischen Möglichkeiten gibt.
Kabale der Scheinheiligen, Berlin: Atemlose Unterhaltung
Mit beeindruckender Konsequenz unterläuft Die Kabale der Scheinheiligen sich immerzu, feiert das pure, regel- und zügellose Theater im gleichen Moment, wie es sich selbst ironisiert und verspottet. Zweifellos “scheitert Frank an der Tragödie”, wie Scheer einmal sagt, zielführendes Theater wäre ihm auch zu einfach. Stattdessen ist dieses Theater zweierlei: Pure, atemlose Unterhaltung und anarchistisches Möglichkeitsspiel. Was für ein Spaß, wenn Scheer als Fassbinder-Widergänger wütet, sich mit dem jugendlichen Talent Rocco Mylord als Molières Ziehsohn ein Nachplapper- und Grimassenduell liefert (das Theater als Ort der Nachahmung, als immer schon Kopie des Lebens!) oder Georg Friedrich sich als Ludwig den ganzen Abend über in ausgestelltem Ennui herumfläzt und in breitestem Wienerisch durch die Welt- (und Theater-!)Geschichte grantelt. Und die wahnwitzigen Kostüme (Adriana Braga) erst! Alles wird Ziel des Spotts – Molière, Bulgakow, Castorf selbst, die Macht, Fassbinder – und doch ist dieser Abend kein nihilistischer. Er feiert das Theater als Ort der Freiheit und das Scheitern als Grundelement eben dieser Freiheit. Das ist nicht neu und kommt doch mit einer Konsequenz, einer Vehemenz und einer Kompromisslosigkeit daher, dass der rückwärtsgewandte “offene Brief” schnell vergessen ist. Dieses Theater bildet sich nicht ein, die Welt ändern zu können, aber es will und kann sie ärgern. Der Künstler ist kein Genie, sondern ein Arbeiter im Weinberg des “Geht’s nicht gibt’s nicht”. “Bringen wir die Sache zu Ende, so gut wir können”, heißt es an einer stelle. es gibt schlechtere Motti.

Frank Castorfs letzte Inszenierung seiner vorletzten Spielzeit hätte ein exemplarischer, ein essenzieller, ein großer Castorf-Abend werden können – wenn er sich erlaubt hätte, ihn nach zweieinhalb Stunden zu beenden. Doch auch für einen Castorf gelten Regeln und eine heißt halt: Unter vier Stunden geht nichts. Und so gibt es einen zweiten Teil, der entsetzt. Durch seine Blutleere, seine komplette Energiefreiheit, seine Ideenlosigkeit. Alles scheint gesagt und so verfolgen wir endlose Wiederholung auf Sparflamme. Da hilft auch der wunderbare Daniel Zillmann nicht, der Mylords Rolle als erwachsener übernimmt, und richtet auch Sophie Rois’ Rückkehr nach fast zwei Stunden mit einem erschreckend plakativen Stalin-Bulgakow-Exkurs eher noch mehr Schaden an. am Ende versucht es Castorf nochmal mit Rätselhaftigkeit, Nonsens und einem grotesken Totentanz, doch da ist schon sämtliche Luft raus, alle Energie verpufft. So sehr die erste Hälfte den geist des Castorfschen Theaters vehement wiederbelebt und als grandioses Scheiternmüssen vorführt, so sehr durchzieht den zweiten eine Erschöpfung, Müdigkeit und leere, die man nach 25 Jahren fast erwartet. So ist dieser Abend sowohl ein Aufbäumen des Theaters wie sein Offenbarungseid. Und irgendwie ist das natürlich auch im Sinne Castorfs.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/06/26/5666/
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