Das Gespenst Afrikas

von Thomas Rothschild

Pforzheim, 3. Juni 2016. Ein Romanstoff aus den Eingeweiden von Paris ist nun abseits der Metropolen in einer Bühnenfassung sehen. Es handelt sich um Aufzeichnungen aus einem Auto, in dem der Ich-Erzähler zu verharren beschlossen hat, nachdem ihm seine Wohnung gekündigt worden ist. Von hier aus entdeckt er eine ansonsten verborgene Welt, die Welt der Erniedrigten und Beleidigten, die Welt "Am Boden“, wie Maxim Gorkis Obdachlosen-Drama "Nachtasyl“ im Original heißt. Und er bleibt nicht Beobachter: er wird Teil von ihr.

So trifft der Protagonist Jean Deichel auf die "bleichen Füchse", eine nach einer Gottheit der Dogon benannten Vereinigung von Immigranten aus Mali, die einen Protestmarsch organisieren, nachdem zwei Flüchtlinge aus Mali von der Polizei gejagt und dabei in der Seine ertrunken sind.

Fuechse2 560 Theater Pforzheim xDas  Gespenst der Revolte? © Theater Pforzheim

Das Theater Pforzheim stellt seine Uraufführung programmatisch in den Kontext der sozialen Realität der Stadt mit einem Anteil von fast 50 Prozent Migranten und 20 Prozent Russlanddeutschen, die, je nach Ideologie, mal als Migranten und mal als Deutsche zählen, in der die AfD bei den Landtagswahlen mit 24,2 Prozent der Stimmen als stärkste Partei renommieren und ein Direktmandat erringen konnte.

Im Zeichen der Kakerlake

Tom Gerber hat sich in seiner Bühnenfassung für die Form einer Montage aus kurzen Szenen entschieden. Yannick Haenels Vorgaben setzt er geschickt um. Zwei Müllmänner sprechen Passagen aus "Warten auf Godot" (der Protagonist hat eine Ausgabe des berühmten Dramas im Handschuhfach) und verleihen Becketts Stück, das Haenel als eine seiner Bezugsgrößen leitmotivisch durch den Roman zerrt, somit eine Konkretheit, die es eigentlich nicht besitzt. Nicht nur werden Marx und Robespierre zitiert – eine Schrift an der Wand erinnert an Generalstreik und Revolution, und das geheimnisvolle Zeichen einer Kakerlake begleitet den Slogan "Tod der Gesellschaft". Dem sind gehässige Sprüche gegen Obdachlose und Außenseiter gegenübergestellt. Sie decouvrieren sich selbst.

"Die bleichen Füchse" sind in Pforzheim ein Stück über die Rebellion derer, die man zum Schweigen verdammt, über ihre Berechtigung, aber auch ihre Hilflosigkeit. Nicht alle Einfälle können überzeugen. Wenn eine Frau mit einem Kasten über dem Kopf als Fernseher auftritt oder der französische Staatspräsident als grotesk angedeuteter Hitler, wirkt das, mit Verlaub, bloß läppisch. Aber solche Ausreißer sind eher die Ausnahme als die Regel. Gespielt wird im Podium, der Studiobühne des Pforzheimer Theaters, auf einer Spielfläche aus weißen Brettern, an deren Längsseiten die Zuschauer in drei Reihen sitzen. Auch Jean Deichels Auto ist eine schlichte Konstruktion aus Holzbrettern.

Stück der Stunde

Was für die Pforzheimer Inszenierung und den ihr zugrunde liegenden Roman einnimmt, ist die politische Dimension: dass das, was als Rückzug aus der Wirklichkeit einsetzt, sich zunehmend öffnet für die Welt da draußen, und zwar für jene Welt, die unsere Gesellschaft verdrängt, marginalisiert, ignoriert oder, im Gegenteil, dämonisiert. Nicht nur in Paris und nicht nur in Pforzheim. "Die bleichen Füchse" sind ein Theaterstück der Stunde. Leider. Aber es ruft auch auf zur Solidarität mit jenen, die sich wehren. Nicht mit der AfD, sondern gegen sie.

Zu den sechs Schauspielern, unter ihnen Sergej Gößner, der auch als Autor reüssiert und eben erst mit seinem Stück "Mongos“ zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen wurde, kommt eine größere Gruppe von Pforzheimer Bürgern. Sie schlurfen als Flüchtlinge auf Lampedusa durch den Raum, falten als Volk die Hände im Nacken, verbrennen ihre Pässe und verschwinden in der Anonymität. "Identität = Fluch" lautet ein Slogan, und die Masken der Rebellen sind Ausdruck des Versuchs, sich der Kontrolle und der Überwachung zu entziehen.

Direkte Agitation

Der stärkste Moment des Abends tritt ein, wenn sich jene Figur, halb Rousseau, halb Robespierre, die die ganze Zeit am Rand der Bühne gestanden und sich ab und zu eingemischt hat, die Latexmaske vom Gesicht reißt und der schwarze Frankfurter Schauspieler Jean-Claude Mawila zum Vorschein kommt. In dieser Geste trifft alles zusammen – das Theater, zu dessen Wesen die Maske gehört, die politische Metapher und eine zentrale Aussage des Stücks, die den berühmtesten Satz von Karl Marx in unsere Zeit transferiert: "Ein Gespenst geht um in Frankreich, das Gespenst Afrikas."

Ganz am Schluss wenden sich die Pforzheimer Bürger als Sprechchor mit direkter Agitation an das Publikum. Volker Lösch hat Schule gemacht.

 

Die bleichen Füchse (UA)
nach dem gleichnamigen Roman von Yannick Haenel
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Bühnenfassung von Tom Gerber
Regie und Bühne: Tom Gerber, Kostüme: Christine Haller, Dramaturgie: Peter Oppermann.
Mit: Sergej Gößner, Henning Kallweit, Tobias Bode, Antonia Schirmeister, Jula Zangger, Jean-Claude Mawila a.G.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theater-pforzheim.de

 

Kritikenrundschau

"Was schon an dem Roman und nun auch an der Pforzheimer Spielfassung irritiert, ist die allzu romantische Koppelung von (...) entrückter Utopie und nacktem Kampf", schreibt Rainer Wolff in der Pforzheimer Zeitung (6.6.2016). "Denn was der Aussteiger Jean Deichel, der 'Held' des Romans, da am Rande der Pariser Gesellschaft erlebt, ist eher eine albtraumartige Abfolge von Traumata, in denen das trübe Schicksal der Außenseiter, unter denen er sich findet, mit dem der (meist afrikanischen) Flüchtlinge, die in anonymer Illegalität ihr Heil suchen, eine beklemmende Verwandtschaft aufweist – mit dem Unterschied, dass Deichel den Ausstieg will, während die zuströmenden Flüchtlinge erst noch anzukommen wünschen." Gerbers Fassung wie auch seine Inszenierung führen diese unterschiedlichen Linien "mit dem lärmenden Pathos ideologischer Emphase so hochtourig nach, dass darüber die Handlung des Romans leicht in den Hintergrund gerät", so Wolff: Dabei erliege er "im Streben nach praller Theatralität einem geradezu bildungsbürgerlichen Furor, der das Werk zu einem Fundus halb versteckter und variierter, aber doch auch eitel ausgestellter Zitate für Kenner" mache.

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