"Die Erde ist keine Heimat"

von Dieter Stoll

Erlangen, 4. Juni 2016. Die Musik steht für alles, was das Leben für den Pankraz an zerstörten Hoffnungen, gerafftem Trost und letztem Gruß bereit hat. Gesangs-Künstler darf er nicht sein, weil er auf Anordnung des Vaters die Seewirtschaft der Familie weiterführen muss. Der Kirchenchor lindert seine Sehnsucht notdürftig. Die Anschaffung eines eigenen Musikschranks für den Genuss von Klassik-Platten ist auch eher Seelenmöblierung als  Befreiungsschlag. Am Ende senkt sich das Brahmsrequiem als bleierne Totenmesse über ihn. Da hat er, der doch "heraus aus allem, was ich muss" fliehen wollte, nicht nur das Erbe des Vaters verflucht und das eigene Glück verpasst, sondern eben auch schon die Existenz des Sohnes verpfuscht.

Drei Generationen drängen sich in Josef Bierbichlers ländlich-bayrischer Saga "Mittelreich" durch zwei Weltkriege und die Rätsel der neuen Zeit. Anders als Anna-Sophie Mahlers zum Theatertreffen eingeladene Inszenierung an den Münchner Kammerspielen, die mit klingender Poesie die Hoheit über wuchernde Handlungsstränge gewann, möchte Thomas Krupa in seiner Erlanger Bühnenfassung nah am Original bleiben.

Mittelreich6 560 Jochen Quast uBei Tisch wird nicht geträumt: Matthias Breitenbach, Mario Neumann, Uta Krause © Jochen Quast

Auf der weiträumig leeren Bühne des Markgrafentheaters stehen lediglich Klavier, Tisch und Stühle. Man spricht über Verstärker, was den gleitenden Übergang, hin und her zwischen Nach-Erzählung und Dialog, schnell als verfremdendes Stilmittel etabliert. Das wird ausgereizt, wenn das ganze Ensemble die Daten der ersten Weltkriegsschlachten im Chronisten-Spalier runterrattert und dabei plötzlich übergangslos kniegebeugt in die kollektive Schutzmantel-Hymne "Gegrüßet seist du Maria" verfällt. Voll der Gnade, ja, das wär's! Später kommen Spiegelflächen für erweiterte mystische Ahnungen dazu, ein kleiner Vorhang  weht wie ein Hauch von "Hier gilt's der Kunst" nach undurchschaubaren Gesetzen auf und zu durch die Aktionen und immer wieder wird die Bühnentechnik mit ihren Beleuchtungsbrücken wie für Leerlauf-Demonstrationen des Gegenwartstheaters in Bewegung gesetzt.

Man stirbt im Schicksalstakt

Der Seewirt Pankratz von der mittleren Generation, dem das Leben zerstört wird und der absolut nichts daraus lernt (Matthias Breitenbach zeigt ihn, den Gefangenen der eigenen Verdrängungen, vor allem als aufbrausenden Schwadroneur, weniger als betrogenen Träumer), ist umgeben von den schwarzen Schatten zweier bigotter Schwestern, der verhuschten Lebensrestverwertung seiner gepeinigten Ehefrau und der unzerstörbaren Pragmatiker-Moral seines schlesischen Knechts (Frank Albrecht verzichtet auf Dialekt-Gegenfarbe). Das Zentrum der Dramatik kann er nicht immer verteidigen, gegen die Vernichtungs-Attacken von Sohn Semi (Mario Neumann, eindrucksvoll in kalter Wut gegen die Eltern-Generation der Verführer und Versager) wird seine Haltung sowieso nichts ausrichten. Am Ende, wenn der zornige Junge mit der bitteren Internats-Erfahrung den Kinderschänder in der Mönchskutte bestialisch ermordet hat und rundum im Schicksalstakt altersgerecht gestorben wurde, fällt der vorletzte Satz des Romans wie ein Fallbeil in die Aufführung: "Die Erde ist keine Heimat". Bierbichler war das im Buch dann doch zu melodramatisch und er schrieb hintendran: "Im Taubenschlag lässt sich's gut warten …"

Mittelreich11 560 Jochen Quast uEine schwierige Vater-Sohn-Beziehung: Matthias Breitenbach, Mario Neumann © Jochen Quast

Dürre Worte im Wind

Ganz so viel Fallhöhe im Sarkasmus wollte der so sehr um Werktreue ringende Thomas Krupa aber nicht. Zwar nimmt er in seiner Inszenierung mit neun Darstellern für achtzehn Figuren die satirischen Signale auf, aber diesem wie aus dem Nichts schnalzenden Pathos widersteht er. Man spürt die  Distanz auch, wenn die Musik eher zögerlich als Ersatz-Religion akzeptiert und umgesetzt ist. Da wird zwar das dünnstimmige "Stille Nacht" der säuselnden Seewirts-Sippe weggefegt von der brausenden LP-Konserve der "Missa Solemnis", doch die wildeste Gesangs-Szene des Originals gibt es nur als harmlosen Wortbeitrag. Wo der Pankraz im Roman vor Naturgewalten ausflippt und Wagners erlösungsgierige "Holländer"-Arie der realen Unwetterfront entgegen brüllt, rezitiert er in Erlangen nur dürre Worte in den Wind.

Die überlange Erlanger Inszenierung pflegt den ständigen Wechsel zwischen spannenden und verrutschten Szenen, punktet oft mit den Schauspielern (Hermann Große-Berg als flüsterndes Fräulein Zwittau im Häkel-Look), verblüfft bei diversen Abwechslungs-Angeboten wie einem Schattenspiel und  dem Chor-Zwischenspurt mit Einar-Schleef-Aufmarschrhythmik, bastelt an einem Sketch-Solo im Polt-Format und kann den Grundsatz-Fehler nicht ändern, dass der Textbearbeiter mit seinem mangelnden Mut zur Lücke dem gleichnamigen Regisseur das Handwerk versaute. Der Beifall war trotz Spuren von Erschöpfung sehr freundlich.

 

Mittelreich
nach dem Roman von Josef Bierbichler
Bühnenfassung von Thomas Krupa
Regie, Bühne: Thomas Krupa, Kostüme: Nina Hofmann, Musik: Mark Polscher, Dramaturgie: Linda Best; Karoline Felsmann.
Mit: Frank Albrecht, Matthias Breitenbach, Hermann Große-Berg, Uta Krause, Lea Schmocker, Mario Neumann, Ralph Jung, Stephan Weber, Violetta Zupancic.
Dauer: 3 Stunden und 10 Minuten, eine Pause

www.theater-erlangen.de

 

Kritikenrundschau

"Der Abend zieht sich in die Länge, man schaut verstohlen auf die Uhr" schreibt Michaela Höber in der Nordbayerischen Zeitung (6.6.2016), bilanziert dann aber trotzdem: "'Mittelreich' ist ein wortgewaltiges Sittengemälde, voller Brüche, mit Ecken und Kanten, das getragen wird von einem starken Schauspieler-Ensemble."

"Zwar macht Krupa mit sachten Verfremdungseffekten den Versuch, diesen ganz speziellen, zwischen Realismus und Künstlichkeit changierenden Bierbichlerschen Erzählduktus zu visualisieren, doch das Schicksal dräut allenthalben", schreibt Manfred Koch in den Nürnberger Nachrichten (6.6.2016): "Die Lakonie der Vorlage, wie in der Vorlage, kriegt die Regie nicht in den Griff." In der Erlanger Fassung herrsche "das Melodram mit veritablem Trauerrand" vor, die "beim Idyllenzertrümmerer Bierbichler streckenweise aufscheinende hinterlistige Ironie" komme nicht zur Geltung.

 

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