Töt' erst sein Weib - Im Nürnberger Dokuzentrum Reichsparteitagsgelände macht Stefan Otteni aus drei "Leonore"-Fassungen Beethovens ein neues Stück über politische Gefangenschaft
Zwei Frauen gegen den Rest der Welt
von Dieter Stoll
Nürnberg, 6. Juni 2016. Nebenan in den weiten Hohlräumen des Nazi-Colosseums hatten 2009 die aussterbenden Zeitzeugen mit dem Text von Peter Weiss' verdichteten Auschwitzprozess-Protokollen zum Ortstermin Nürnberg gebeten. Es war eine lange nachwirkende Gedenkmarsch-Inszenierung von Die Ermittlung durch Kathrin Mädler, die jetzt grade als Intendantin in Memmingen antritt. Stefan Otteni rückt mit seiner bis nach Guantánamo reichenden Verlängerung eines hausgemachten Extrakts von Beethovens "Leonore"-Experimenten (vor dem Einrasten ins heute gängige "Fidelio"-Opernformat) in der backsteinrohen Ausstellungshalle des Dokuzentrums nicht bloß räumlich nah an dieser Erinnerung – er bleibt auch nahe bei sich. Der Regisseur suchte in den letzten Jahren immer wieder mit der Aufhebung der Sparten den neuen Blick. In Nürnberg zuletzt mit einer Schauspieler-"Bohème", einem von Gegenwart bedrängten Händel-"Judas Maccabäus", kürzlich in Bamberg in der Verbindung von Theater und Symphonikern für einen Befund "Von deutscher Seele". Otteni setzt auf offene Grenzen.
Mehrere Dimensionen von Geschichte
Der Spielort, die Institution am ehemaligen Reichsparteitagsgelände, wo der Größenwahn noch im Verfall an der Fassade klammert, hatte auch architektonisch die eindeutige Antwort gefunden. Wie ein Pfeil bohrt sich der neue Eingang des Dokuzentrums in die alte Gebäude-Hülle. Wer zur Uraufführung der "Leonore"-Adaption "Töt' erst sein Weib" über die Treppe aus der Gegenwart in die fixierte Vergangenheit schreitet, betritt mehrere Dimensionen von Geschichte. Nicht nur die anmaßende von Ideologen, auch die zeitweise hilflose beim Umgang mit deren Resten. Das aufklärerische Musik/Theater-Projekt und seine Verfolgung von Spuren politischer Gefangenschaft bis in die Gegenwart passt da geradezu unheimlich. Es wird durch weit gestreute Zitate belegt, aber ein Spiel will es ja trotzdem bleiben.
Der Weg des Zuschauers führt, sobald er die Simulation von Sicherheitskontrolle überstanden hat, durch ein Labyrinth von Gefängniskäfigen. Einzelzellen im Grundriss Guantánamo, hinter deren Maschendraht die Opfer mit verbundenen Augen kauern. Auf einer Seite der langgestreckten Halle sind die jungen Musiker (das Orchester der Hochschule unter der befeuernden Leitung von Guido Johannes Rumstadt) platziert, daneben und gegenüber wandert das Publikum mit kleinen Hockern entlang am Randplatz der Ereignisse. Zu sehen sind irritierend bekannte Szenen, schaukelnd auf der Kippe zwischen Nachrichtenlage und Kunstverklärung.
Biedermann & Bösewicht
Eine Frau sucht ihren verschwundenen Mann, wohl ein Opfer der politischen Machthaber. Es ist nicht Leonore, sondern "die Frau" von heute, die nicht akzeptiert, dass ein Mensch einfach verschwinden kann. Die Schauspielerin Elke Wollmann drängt als nahe kommende Leitfigur vorbei an den pathetischen Stillständen der Handlung (die Text-Bearbeiter unterbrechen die Klänge unwillig, wenn sie voreilig abzuheben versuchen) und findet zur Partnerschaft der Ermutigten mit der Opernfigur (Margarita Vilsone). Ein suggestives Bündnis von zwei Frauen gegen den Rest der Welt, das in der Kunst siegt und in der Realität zerrinnt. Wenn am Ende Florestan von und für Leonore befreit ist, zieht die Frau der Gegenwart allein weiter mit ihrem Vermissten-Suchbild. Sie war nicht im kurz aufgeblendeten Fokus der Macht.
Stefan Otteni, zusammen mit Kai Weßler und Christina Schmidl für die in Zitaten schärfende Neufassung verantwortlich (dazu psychisches Folterverhör, das wie Waterboarding in Wortgewalt wirkt), hat auch Arien zur besseren Schlagkraft umgestellt und die brave Vater-Figur Rocco mit dem verbrecherischen Kommandanten Pizzarro zum vereinigten Prototyp Biedermann & Bösewicht umgebastelt. Damit überfordert er den Sänger und die Zuschauer. Anders als den Gefangenen Florestan (Sunggoo Lee), der 90 Minuten lang tapfer hoch droben an der Decke der Halle im Netz zappelt, buchstäblich im Geflecht der Ungerechtigkeit, und dann nicht nur die große Arie sondern auch das karge Wort der Wahrheit ergreift. Nicht, dass es viel nützen würde.
"Ich hab die Regeln nicht gemacht"
Da musste das Publikum schon vorher aufstehen und Nelken fassen, weil "der Minister kommt", und die frohe Botschaft vom faulen Kompromiss mitbringt. Von da an mag der Regisseur, der für die Niedlichkeiten der spielopernseligen Glücks-Beschwörung milden Spott hatte (die Familienidylle rollt als fahrbares Rasenstück herbei), nicht mehr auf seinen Nachschlag an Staatsverdrossenheit verzichten. Der Politiker lädt am Staatsmanns-Mikrophon ein paar Floskeln aus dem echten Fundus unserer Bundesregierung ab, verschwindet schnell wieder und überlässt den Bürokraten das Feld. Die Gefangenen werden zurück in die Käfige getrieben, der Wachmann sagt achselzuckend "Ich hab' die Regeln nicht gemacht". Blackout. Der Jubel vom holden Weib wieder demnächst in diesem Theater.
Es ist eine ergreifende, manchmal versonnen abdriftende, am Ende verzweifelnde Aufführung. Statt "Fidelio"-Hoffnungsfanfare der Sturz ins Ungewisse. Aber halt, "die Frau" hat alles fotografiert und protokolliert – sie wird nie nachgeben.
Töt' erst sein Weib
Musik-Theater nach "Leonore" von Ludwig van Beethoven
Regie: Stefan Otteni, Musikalische Leitung: Guido Johannes Rumstadt, Bühne und Kostüme: Peter Scior, Ayse Özel Dramaturgie: Kai Weßler, Christina Schmidl.
Mit: Margarita Vilsone, Daniel Dropulja, Wonyong Kang, Sunggoo Lee, Franziska Zwink, Daniel Thomas, Ning Lu, Benedikt Al Daimi und den Schauspielern Elke Wollmann und Stefan Herrmann.
Dauer: 1 Stunde, 45 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
"Eine absolut sehens- und hörenswerte Aufführung", lobt Uwe Mitsching von der Bayrischen Staatszeitung (10.06.2016). "Man erfährt viel in diesen anderthalb Stunden über Haft und Folter, über staatliche Willkür und Vollzugsterror und wie das alles gerechtfertigt wird." Sehr intensiv sei das alles, eine packende Zustandsbeschreibung, dicht verwoben mit der Leonoren- und späteren Fidelio-Musik, die Rumstadt mit dem Hochschulorchester und viel Gespür für düstere Poesie dirigiere.
Die Produktion wirke insgesamt sowohl zu wenig didaktisch, um etwa Schulklassen den Bogen zwischen NS-Diktatur, heutigem Folter-Horror samt Staatsterror und Beethovens künstlerischer Durchdringung erfahren zu lassen, andererseits als 'Opernstudio'-Aufführung nur "bemüht innovativ" – aber wenig ergiebig, schreibt Wolf-Dieter Peter in der Neuen Musikzeitung (8.6.2016). "Was blieb, war die Freude zu hören, wie Guido Johannes Rumstadt mit dem Orchester der Musikhochschule den noch weicheren, noch weiter ausholenden Beethoven von 1805 zum Klingen brachte – und so mehrfach innerlich mitschwingen ließ."
Jedes Element für sich betrachtet habe seine Berechtigung. "Aber die dokumentarischen Sprechtexte kommen kaum gegen die Höhe der Beethovenschen Musik an. Geschweige denn, dass hier eine künstlerische Symbiose stattfände", konstatiert Jens Voskamp von den Nürnberger Nachrichten (8.6.2016).
Otteni versuche, die sperrigen Bedingungen des Hallenraums aufzubrechen, indem er das Publikum in Bewegung bringe. "Das versetzt kaum in die Handlung, wirkt schließlich fast wie eine 'Reise nach Jerusalem'", moniert Herbert Heinzelmann von der Nürnberger Zeitung (8.6.2016). Guido Johannes Rumstadt verdunkle die oft unangemessen überstrahlenden Klänge Beethovens wunderbar und habe seinen Projektchor mit stimmlicher Prägnanz ausgestattet. Jedoch verfehle der "sehr konventionell inszenierte Auftritt der Herren doch das Engagement des dramaturgischen Ansatzes".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 23. April 2024 Darmstadt: Neuer Leiter für Schauspielsparte
- 22. April 2024 Intendanz-Trio leitet ab 2025 das Nationaltheater Weimar
- 22. April 2024 Jens Harzer wechselt 2025 nach Berlin
- 21. April 2024 Grabbe-Förderpreis an Henriette Seier
- 17. April 2024 Autor und Regisseur René Pollesch in Berlin beigesetzt
- 17. April 2024 London: Die Sieger der Olivier Awards 2024
- 17. April 2024 Dresden: Mäzen Bernhard von Loeffelholz verstorben
- 15. April 2024 Würzburg: Intendant Markus Trabusch geht
neueste kommentare >
-
Bachmann an der Burg Wo ist das Junge Theater?
-
Intendanz Weimar Kompliziert
-
Medienschau Alexander Scheer Keine Nebelkerzen
-
Intendanz Weimar Eigentor
-
Intendanz Weimar Faktenlage
-
Medienschau Kulturkürzungen Fragen
-
Medienschau Alexander Scheer Exo-Planet
-
Harzer nach Berlin Macbeth?
-
Intendanz Weimar Ruhe
-
Zentralfriedhof, Wien Große Enttäuschung
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
„Die Unterzeile, die bei der jüngsten Mannheimer Opernproduktion dem Originaltitel «Fidelio» beigegeben war, ließ aufhorchen. Sie lautete: «Beethoven op. 72 (1814) bei der NBC New York (1944) Toscanini Reminiszenz 2004». Ein klar verklausuliertes Signal, dass hier keine herkömmliche Auseinandersetzung mit einer klassischen Vorlage geplant war.
Bei seiner ersten Begegnung mit dem Musiktheater hatte der prominente Schauspielregisseur Frank-Patrick Steckel eigenwillige Absichten... Eine Operninszenierung im strengen Sinne fand jedenfalls nicht statt. Gleichwohl ersann und realisierte Steckel – und darauf kommt es an – ein fesselndes, aufregendes theatralisches Ereignis von unverwechselbar eigener Aura. Seine Idee: Im Dezember 1944, während amerikanische Truppen in Europa gegen Nazi-Deutschland kämpften, führte Arturo Toscanini in New York mit seinen NBC-Sinfonikern «Fidelio» in der deutschen Originalsprache auf. Für Steckel eine symbolische Tat des kompromisslosen Antifaschisten und Nazi-Gegners. Ein entscheidendes Stichwort zu seinem Konzept bekam er von einem anderen prominenten Emigranten: Thomas Mann. Der schrieb: «Wie durfte denn Beethovens ‹Fidelio› ... im Deutschland der zwölf Jahre nicht verboten sein? ... Welchen Stumpfsinn brauchte es, in Himmlers Deutschland den ‹Fidelio› zu hören, ohne das Gesicht mit den Händen zu bedecken und aus dem Saal zu stürzen!»
Aus diesen Anregungen leitete Steckel den Grundgedanken seiner Annäherung ab: «Im Dritten Reich» sei der Inhalt von «Fidelio», Beethovens Hymne an Gerechtigkeit und Menschlichkeit, einfach verdrängt worden, der Emigrant Toscanini habe ihn in seiner New Yorker Aufführung wieder ins Recht gesetzt... Steckels Thema ist die Haltung des Künstlers zu den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen seiner Zeit, wobei er deutliche Parallelen zu unserer Gegenwart zu erkennen glaubt und entschieden die Option verneint, sich auf eine weltferne L’art pour l’art-Position zurückzuziehen.
Die szenische Seite des Projekts bleibt auf wenige Elemente beschränkt: Auf Dieter Hackers nach dem Vorbild der NBC-Studios eingerichteten Bühne nehmen das Nationaltheater-Orchester und das nach der amerikanischen Mode der vierziger Jahre gekleidete Solistenensemble Platz. Im Hintergrund steht der Chor. Die Gesichter der Sänger sind zur Hälfte dunkel geschminkt, wobei die Solisten in Andreas Rehfelds Beleuchtung fast gespenstisch wirken. Orchester, Chor und Solisten geben eine ganz normale konzertante Vorstellung – mit wenigen Strichen (Marsch, Melodram und eine Passage im Finale). Die gesprochenen Dialoge werden dagegen durch die Monologe des «Old Man» alias Toscanini ersetzt, der wie ein Shakespeare’sches Gespenst seine ganze Empörung, Wut, Verzweiflung, Ohnmacht und Entrüstung in den Zuschauerraum schleudert. Schauspieler Jochen Tovote rezitiert mit Ingrimm die teils authentischen Toscanini-Texte. Während der Piano-Stellen werden dann oft Einblendungen aus Originalberichten der NBC aus dem Zweiten Weltkrieg zugespielt, die manchmal störend wirken. Dies in Kauf zu nehmen lohnte sich jedoch allemal, denn das gesamte Arrangement hat zwingende theatralische Dichte, eine frappierend suggestive Atmosphäre und in keinem Moment nachlassende Spannung. Steckels dramaturgische Rechnung geht auf: Seine Produktion konfrontiert die Besucher mit der Geschichte, macht betroffen, gibt Denkanstöße und enthält Zündstoff.“ (Opernwelt, Januar 2005)
Bitte um Verzeihung, aber das mußte sein...
das ist ja schön, daß Sie sich Ihre alten "Fidelio"-Kritiken aufgehoben haben. Aber Sie sind glaube ich nicht der Erste und nicht der Einzige, der diese politische Oper politisch deutet. Mir scheint Otteni weiter gegangen zu sein als Sie. Er hat nicht nur die Haltung der Künstler verhandelt, sondern die reale Möglichkeit des politischen Widerstandes wieder ins Spiel gebracht. Das ist ein politischer Optimismus, zu dem sich Ihre Generation nicht durchringen konnte. Das macht für mich diesen Ansatz aus: Handeln ist nötig und möglich. Das war schon bei Ottenis "Judas Maccabäus" so.
vielleicht müssen Sie auch einfach akzeptieren, dass eine neue Generation von Regisseuren den Fidelio anders sieht als Ihre pessimistische, zynische. Theater muß meines Erachtens auch starke Figuren zeigen, die, als Märchen wie bei Beethoven, oder im realen Syrien wie scheinbar bei Otteni, ihre Kraft aus dem Scheitern ziehen. Oder aus einem "Mir ist so wunderbar". Ich werde da hinfahren.
Wer heute noch einen "Fidelio" erwartet, der in der hehren Kunst bleibt und die Themen nicht weiter nimm, der hat jedenfalls in dem Abed in Nürnberg nichts zu suchen. Das kann ja wohl nicht wahr sein! da gibt's eine Aufführung, die total modern das Thema verhandelt und trotzdem respektvoll der Musik gegenüber bleibt, und dann hat sie SO ein Publikum! Das ist ein Theaterverständnis von 1850, was Sie da propagieren lieber Herr "Fidelio", das ist vorbei. Und das ist gut so.