Die Schmerzen der Fantasie vom eigenen Leben

von Andreas Wilink

Recklinghausen, 8. Juni 2016. Der erste Satz lautet "Schön, dass es weitergeht". Das bezieht sich auf: alles. Auf ein bald zu erwartendes neues Leben. Auf einen Gedanken, der keimt und sich fortpflanzt. Ein Alter, der noch den nächsten Morgen erlebt, kann ihn sagen. Für einen Theatermenschen meint der Satz das jüngste Stück, den folgenden Akt, die abendliche Premiere.

Liebe als erstes und letztes

Eine schwangere Frau auf einer Parkbank (offenbar in Düsseldorf) und ein Mann, der dazu kommt und sich neben sie setzt. Kein Paar. Oder doch eines, das 30 gemeinsame Jahre und mehr auf dem Buckel hat. Ihr Gespräch beginnt ohne Prolog, platzt laut mitten hinein ins Volle. Es geht um das Baby, um dessen Vater, um Verstehensprobleme (dafür steht die Fremdsprache "Kisuaheli"), um das Verhältnis von Mann und Frau, um Scheitern und Missverstehen, ums Reden, Schweigen, Zuhören. Um Liebe als erstes und letztes für zwei Möglichkeitsmenschen. Und um die Schmerzen der Fantasie, um Reminiszenzen (auch einige des Autors), Themen und Variationen: Toskana oder Castrop-Rauxel, Moskau oder Marrakesch, Alter und Jugend, Nähe und Entfernung, Trennung oder Verbleib. Es gibt einen Sohn: Ganymed, genannt "Ganny", wobei sich über den Reifegrad dieses Götterlieblings – wie über das Meiste andere in Tankred Dorsts Stück, das "bis in den Tod und darüber hinaus" reicht – eindeutige Auskunft nicht gewinnen lässt.

"Alles ist wahr, auch die Lügen", zitiert Dorst gern seinen Zauberer "Merlin", wissend, dass die Diskrepanz zwischen dem, wie jemand sein möchte, und wie er scheinbar tatsächlich ist, das Leben eines jeden bedingt. Das Mehrdeutige, Widersprüchliche, moralisch Unzuverlässige, das Rollenspiel hat die Aufnahmelust des Dramatikers immer befördert und ihn motiviert. Nicht nur im großen historischen Rahmen, auch in der kleinen Einheit und Zweiheit betrachtet, sind es Erzählungen scheiternder Utopie. Ein weiteres zentrales Motiv, das sein Werk bestimmt und sich ihm auch in Bayreuth in Wagners "Ring" erschloss, ist das der Zeit. Dorst verdichtet und verschiebt deren sonderbares Wesen entlang einer nach hinten wie nach vorn hin offenen Zeitstruktur. Auch in "Das Blau in der Wand", entstanden nach mehrjähriger Pause. Doch wird hier aus dem luftigen Spiel das Drama des Ich-Schwunds und sich selbst Fremdwerdens, des Verlusts von Erinnerung, Ordnung und Struktur, Zusammenhang und Gegenwart.

DasBlau 560 MatthiasHorn uLesestunde: Karin Pfammatter & Heikko Deutschmann © Matthias Horn

Der unsichtbare Dritte

Heinz Hauser hat im kleinen Festspiel-Theater ein neuronales Netz gespannt, das sich perspektivisch verjüngt unter dem Scherenschnit einer magischen Lampe. In dem zerebralen Raster zappeln die Zwei, Karin Pfammatter und Heikko Deutschmann: tänzeln, scherzen, slapsticken, kobolzen, scharmützeln, markieren und mokieren sich über Beschwernisse, die Qual der sich leerenden eigenen Geschichte und die Entknüpfung der Synapsen. Es herrscht Zettelwirtschaft im Kopf. Papier wird beschrieben, Bücher werden aus einer Schubkarre ausgeschüttet auf der Bühne. Linearität verläuft im Zickzack. In der Chronologie klaffen Lücken.

Der Dialog ist komprimiert. Knapper, losgelöster geht es kaum. Ein pointillistisches Resümee, in dem Wahn und Sinn, Erfindung und Behauptung, Rück- und Vorschau, Jahr und Tag, die großen weltbewegenden Fragen von Einst und skizzierte Gewaltszenarien sich berühren und ineinander verschwimmen. Hier ein Zitat aus dem mythenkritischen Opus magnum "Merlin", das 1981 am Düsseldorfer Schauspielhaus (dem Koproduzenten dieser Ruhrfestspiel-Premiere) uraufgeführt worden ist; eingespielte Arien ("Quanto è bella", "Una furtiva lagrima") aus Donizettis "Liebestrank" sowie aus Purcells "King Arthur"; ein Gedicht und barockes Memento Mori des Andreas Gryphius. Eine Parabel über die kostbare Entleerung der Welt. Der Tod bleibt der unsichtbare Dritte in dieser Spielanordnung über die Gebrechlichkeit des Lebens –"la vita pericolosa" – und seine doch wiederum kosmisch unvergängliche Dimension.

Der Mann, den die Frau Hans nennt, gibt sich redselig, offenbart sich als Schriftsteller und darin als Enthusiast des Wirklichen, der, obgleich Pazifist, um das Leben als Roman spüren zu können, ein Land braucht, "wo Krieg ist", der den Gedanken der Zerstörung schöpferisch und den Tod eine Herausforderung findet. Die Frau braucht so was alles zum Glück nicht. Sie schöpft aus sich. Und ist noch bei sich, während er sich selbst und ihr entgleitet.

David Mouchtar-Samorai, in dessen besten Regiearbeiten sich gleichermaßen die Grenze von Zeit und Raum, Illusionärem und Greifbarem für Traumspiele verwischt, umgibt den saloppen grauwölfischen Heikko Deutschmann in Strickweste und die akkurate, gesellschaftskonformere Karin Pfammatter im eleganten dunklen Kleid mit einem – fast stummen – Partner und Zuträger: eine Art Taschenspieler-Butler, Faktotum und Tanzmeister (Ralf Harster), der mit diesem und jenem zu hantieren hat und das letzte Wort erhält. Wir erleben ein zärtliches, zartbesaitetes vitales Miniatur-Requiem. Es könnte Tankred Dorsts "Das letzte Band" sein.

 

Das Blau in der Wand
von Tankred Dorst (Mitarbeit: Ursula Ehler)
Uraufführung
Regie: David Mouchtar-Samorai, Bühne und Kostüme: Heinz Hauser, Dramaturgie: Robert Koall, Frederik Tidén.
Mit: Karin Pfammatter, Heikko Deutschmann, Ralf Harster.
Dauer: 70 Minuten ohne Pause.

www.ruhrfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

Cornelia Fiedler von der Süddeutschen Zeitung (10.6.2016) sah einen "unzuverlässig durch die Zeiten geisternde(n) Paar-Dialog". "Die eindrucksvollsten Momente des Abends entstehen allein aus der Sprache." Die Inszenierung stelle alles eins zu eins dar, ohne eine Haltung zu finden.

"Was Tankred Dorst alles kann! Absurdes Theater, Beziehungsdrama, Sozialstück, Gesellschaftssatire, Boulevardkomödie!", staunt Andreas Rossmann in der FAZ (10.6.2016). Er habe ein gedanken- und anspielungsreiches Alterswerk geschrieben, "das, schnell und pointiert, sich alles andere als altmeisterlich ausnimmt: eine Lebenssumme, improvisiert und in Splittern". Jedoch: "Die Lesart, die David Mouchtar-Samorai in seiner Inszenierung entwickelt, ist nicht die einzige und auch nicht die nächstliegende." Das Stück könne mehr.

Beim Lesen des Stücks wirke es "meisterhaft wie Dorst ohne jeden atmosphärischen Aufwand oder psychologische Erklärungen Figuren in den Raum stellt und mit ein paar Sätzen Beziehungen, Berührungen, Konflikte, Geschichten schafft", schreibt Peter von Becker im Tagesspiegel (10.6.2016). In Recklinghausen werde die Vergrößerung zur eher hilfslosen Abstraktion. Das Bühnenbild wirke altmodisch, "die beiden Schauspieler, Karin Pfammatter und Heikko Deutschmann, bleiben in diesem Halbleerraum fast ohne Halt".

Dorothee Krings von der Rheinischen Post (10.6.2016) schreibt, "Das Blau in der Wand" sei ein altersweises, aber keineswegs schwermütiges Werk, das gekonnt mit Auslassungen spielte. Manches mute auch ein wenig bieder an, etwa die Anwesenheit des Todes. "Doch das Stück berührt." David Mouchtar-Samourai inszeniere leise, nachdenklich, ein wenig brav, aber mit großer Achtung vor dem Text.

 

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