Wo haben die sich hinverfickt? 

von Anne Peter

Berlin, 28. April 2007. Sie sucht Augenkontakt, fixiert einzelne Gesichter. Lea Draeger hält dem Berliner Schaubühnen-Publikum als Ältere Schwester eine Eintrittskarte zur Steinigung ihrer jüngeren Schwester Mary hin: das vermutlich ausverkaufte Spektakel "Stoning Mary".

Damit durchstößt Draeger die Mattscheibe, vor der wir täglich das Elend der Welt beglotzen. Oder eben gähnend wegzappen. Wir Theaterzuschauer, die hier plötzlich einen Moment lang gezwungen werden, uns als Voyeure zu fühlen. Nur zwölf haben Marys Gesuch unterschrieben, 6000 hätte es gebraucht. "Was ist mit – / Den Schlampen, die für andere Schlampen einstehen?" fragt Mary. Ja, was ist mit den Wir-verbrennen-unsere-Büstenhalter-Schlampen, den rebellischen Schlampen, die es lieben, zu studieren, den voll-von-Meinungen-Schlampen, den Schlampen mit Gewissen? "Wo ham die sich hinverfickt?"

Wütende Verfluchungsarie 

Battle-like steigert sich die beeindruckende Noch-Ernst-Busch-Schülerin Elzemarieke de Vos in diese wütende Verfluchungsarie der Wohlstandsgesellschaft aus der Feder der afro-britischen Autorin Debbie Tucker Green. Enorm ist der Text, den sie dem Theater auf die Bretter knallt. Extrem sind die Situationen, in die ihre Figuren geworfen sind und die im Menschen das Erbärmliche hervorkehren. Ein Mann und eine Frau, die mit dem HI-Virus infiziert sind, können sich nur ein Rezept für die lebenswichtigen Medikamente leisten. Mutter und Vater müssen damit fertig werden, dass ihnen der Sohn weggenommen und zum Kindersoldaten umfunktioniert wird. Mary soll wegen dem Mord an einem Mörder gesteinigt werden und wünscht sich einen letzten Besuch von ihrer Schwester.

Provokantes Gedankenexperiment

Wie fatal diese drei Geschichten zusammenhängen, enthüllt sich erst ganz am Ende. Bisher hat Tucker Green ihre Stücke nur für schwarze Schauspieler zugelassen. "Stoning Mary" hingegen, 2005 uraufgeführt am Londoner Royal Court und bei F.I.N.D.6 schon als szenische Lesung vorgestellt, soll in dem Land spielen, "in dem es aufgeführt wird", "alle Personen sind weiß". Was also wäre wenn … wenn der Kindersoldat blond wäre und die AIDS-Epidemie Westeuropäer zu Tausenden dahinraffte? Ein so simples wie provokantes Gedankenexperiment. Was man getrost mit afrikanischen Bürgerkriegsländern assoziierte, ist kurzerhand in die Erste Welt verfrachtet. Dort streitet man sich an der Oberfläche über billige Parfums oder hässliche Brillen und es braucht Worte, Worte, Wortfetzen, immer wieder dieselben, variierten, gesampelten Fetzen, Zerfetzendes, um durchzustoßen zum Konfliktkern. Der blitzt meist nur kurz und angedeutet auf inmitten der durchrythmisierten Sprachsalven, die sich die Figuren gegenseitig an den Kopf werfen.  

Gottverlassenes Halbrund

Benedict Andrews, australischer Regisseur und bereits seit einiger Zeit Spezialist für zeitgenössische Dramatik an der Schaubühne, hat ihnen – nicht gerade einfallsreich – zur Verstärkung vier Mikros ins gottverlassene Betonhalbrund gestellt. Alle 13 Darsteller wurden von Magda Willi (Bühne und Kostüme) einmal durch den Altkleidercontainer gejagt und dann zu permanenter Anwesenheit auf kleingruppierten, frontal stehenden Stühlen platziert. Dort warten sie auf ihre wohlgetimten Auf- und Abtritte ans Sprachrohr. Viel Regie-Hilfe leistet Andrews nicht, sondern nimmt dankbar an, was der Text ihm bietet. Wo sich die Figuren in sprechendes Ego und handelndes bzw. kommentierendes Alter Ego aufspalten, lässt er noch mal ausspielen, was erzählt wird – und verschenkt damit die Form. Da zittert die Hand und wird der Blick gen Decke erhoben, trotzig auf den Boden gestiert oder hilflos mit der Hand an der Hosentasche genestelt.

Atemlose Lyrics 

Die Künstlichkeit der atemlosen Tucker Greenschen lyrics versucht man zum realistischen Sprechen herunterzubrechen. Manchmal gelingt dabei Eindringlichkeit, besonders bei Jule Böwes nuancenreicher Gestaltung der Mutter. Ihre Stimme scheut vor keinen Brüchen, sie spannt den Bogen von erschütternder Verletzlichkeit zu mütterlichem Besserwissen. André Szymanski gibt dazu den genußvoll gemeinen Gatten. In der zweiten Hälfte des Abends hat der Regisseur dann noch ein paar wirkungsvolle Einfälle: de Vos muss als Mary in ein immer wieder runter rutschendes Mikro sprechen, Lea Draeger raucht lautstark, bevor sich die beiden im Rollentausch-Duell die Worte abschneiden. Der Kindersoldat wetzt seine Machete übers Mikro, ähnlich grausig verstärkt sich am Ende ein Rasierapparat zum Henkers-Haarschnitt. Der erste Stein liegt bereit.

 

Stoning Mary
von Debbie Tucker Green
Deutsch von Anja Hilling
Regie: Benedikt Andrews, Bühne und Kostüme: Magda Will, Dramaturgie: Maja Zade.
Mit: Bettina Hoppe, Katrin Keller, Christoph Gareisen, Robert Beyer, Jule Böwe, André Schimanski, Rafael Gareisen, Islav Tillack, Lea Draeger, Eva Meckbach, Elzemarieke De Vos, Stefan Hufschmidt, Rafael Stachowiak, David Ruland.

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

Wer über Debbie Tucker Green etwas erfahren will, muss Tom Mustrophs Artikel in der Frankfurter Rundschau (4.5.2007) lesen. Unter der Überschrift "Es gibt ein Theater nach Sara Kane" schildert er kenntnisreich und ausführlich den Werdegang der schwarzen Londoner Autorin, deren Mystifikation der eigenen Person stark an Thomas Pynchon erinnere. Das Stück Stoning Mary sieht Mustroph als geglückten Versuch, "drei miteinander verwobene existenzielle Auseinandersetzungen zwischen einem AIDS-kranken Paar, der Familie eines Kindersoldaten und einer zur Steinigung verurteilten Mörderin" aus dem "afrikanischen Kontext in das Land der Aufführung zu transponieren." Tucker Green, schreibt Mustroph, kreiere in ihren Stücken eine "Gegenöffentlichkeit, die sich sowohl dem Nachrichtenmainstream verweigert als auch dem überkommenen Gutmenschbesserwissen." Ihre Charaktere seien aufgespalten, führten mit sich selbst innere Dialoge, Gedanken würden in Schleifen geführt. "Tucker Green arbeitet mit Abbrüchen und Wiederholungen. Ihre Texte sind rhythmisiert. Sie ähneln mehr Songtexten als aristotelisch gebauten Dramen. Trotz aller Auflösungstendenzen entstehen packende Figuren, die sich in einem Kampf befinden, dem einmal nicht mit der blasierten Universalwaffe der Relativierung beizukommen ist."

Im Berliner Tagesspiegel (30.4.2007) schreibt Christine Wahl : "Andrews hat sich für die komplette Reduktion – fast könnte man sagen: Verweigerung – szenischer Vorgänge entschieden". Die serielle Choreografie des Aufstehens, ins Mikro Sprechens, Hinsetzens befindet Wahl als einleuchtend, wenn auch nächstliegend, "insofern eine verhältnismäßig leichte Regieübung". Dann folgt ein etwas rätselhafter Schluss: Wahl spricht einerseits von "überzeugender Intensität", die den Schauspielern gelegentlich gelingt, dann aber wiederum von "Betroffenheitstheater", das durch diese überzeugende Intensität momentweise hervor gebracht würde. Mhmm.

Doris Meierhenrich beschreibt in der Berliner Zeitung (30.4.2007) beeindruckt Tucker Greens "Sprech-Fugen". Auch die Skepsis der schwarzen Autorin gegenüber Interpretationen ihrer Texte, besonders wenn sie von weißen Zeitgenossen versucht werden, erwähnt sie. "Doch gerade in der Durchkreuzung 'schwarzer'-'weißer' Perspektiven liegt die Stärke ihrer Texte". Die reduktionistische Regie in der Schaubühne nennt sie "messerscharf ausgedacht" und der "unterschwelligen Brutalität des Abends" förderlich. Schwarze, stinkende Fußmatten erkennt sie als Sinnbilder dafür, wie Europa mit "Afrika-Geschichten" umgeht. Allerdings gingen die "Bedeutungswechsel" von Tucker Greens Text in der "linearen Frontstellung" der Inszenierung verloren.

Frank Dietschreit in der Märkischen Allgemeinen Zeitung (30.4.2007) schreibt Benedict Andrews inszeniere ein "Hörspiel", oder ein "Oratorium aus Stimmen, die sich ergänzen, widersprechen, überlagern". Schauspielerisch biete die Inszenierung "fast nichts", weshalb es geraten sei, einfach die Augen zu schließen und zuzuhören. Vielleicht vergesse man dann auch den intellektuellen Quark, den Tucker Green angerichtet habe, indem sie behaupte, das Stück spiele in dem Land, in dem es aufgeführt werde. "Über Steinigung, Kindersoldaten, Knappheit an Aids-Medikamenten können weiße, deutsche Darsteller noch so lange reden, es bleiben trotzdem Probleme Afrikas".

Wer Stoning Mary von Debbie Tucker Green lesen will, teilt Katrin Bettina Müller in der taz (2.5.2007) mit, findet es im April-Heft von Theater der Zeit. In allen drei Geschichten, die Tucker Green erzählt, "schlägt Verzweiflung in Vorwürfe um. Die Attacken richten sich immer gegen den Nächsten ... Das Erschreckende an diesen scharf ausgeleuchteten Verhältnissen ist, dass Kategorien wie Freundschaft, Solidarität oder Liebe in ihr nicht mehr vorkommen." – "Die Schauspieler ... stehen schmal, bleich und hart an den Mikrofonständern und gehen ganz in der Anstrengung der zornerfüllten Rede auf. Die Körper ihrer Figuren sind dabei irgendwie schon aus dem Spiel, entmachtet, nicht mehr Teil des Erzählbaren. Gerade darin trifft diese strenge Inszenierung von Benedict Andrews etwas Wesentliches des Textes - sind doch in "Stoning Mary" fast alle Auftretenden Menschen, denen ihr eigenes Leben oder das ihrer Angehörigen gewaltsam genommen wird."

Voll des Lobes ist Irene Bazinger in der FAZ (3.5.2007) für Autorin und Regisseur gleichermaßen. Tucker Green schreibe Szenen, die "nichts erklären, aber alles erzählen", befindet Frau Bazinger, auch der Kunstgriff, die hierzulande weitgehend ignorierte Seuche AIDS den Zuschauern an den Hals zu wünschen, indem man schwarze Figuren zu weißen macht, findet Bazingers Zustimmung. Die "poetisch verknappte, musikalisch strukturierte Sprache" Tucker Greens entfalte in der "unterkühlten Kargheit der Inszenierung von Benedict Andrews suggestive Eindringlichkeit. Seine glasklare Choreographie des Untergangs, in der das Grauen weder schöngeredet noch routiniert überspielt wird, ist so minimalistisch wie inständig – und tut weh."

Kommentare  
Stoning Mary
Sehr ergreifend, der Abend. Der Reduktionismus funktioniert, weil der Text so intensiv ist. Ich finde es auch keinen "intellektuellen Quark", sondern spannend von Anfang bis Ende, egal, ob man sich auf die Spielerei mit den Regieanweisungen ("es spielt in dem Land, in dem es aufgeführt wird" u.a.) einlässt. Man muss ja nicht immer alles *verstehen* damit es *wirkt*. Es scheint aber nicht auf Publikum zu treffen, denn die Vorstellung in der ich war, war halb leer... Bewahrheitet sich darin die These vom "vergessenen Kontinent"?? Schade.
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