Draußen auf dem Platz

von Stefan Schmidt

Bremen, 15. Juni 2016. Vincent rennt. Immer weiter. An den Außenlinien des Sportplatzes entlang. Eine Runde, zwei, drei, vier. Irgendwann, es muss um Runde acht herum sein, bölkt ihn eine Frau in einem Trainingsanzug durch ein Megafon an: "Du wirst nie glücklich sein!" Und plötzlich sind sie wieder da: die Erinnerungen an grausame Momente der Verzweiflung damals im Sportunterricht. Gleichzeitig kommen sich in dieser Szene die Inszenierung und ihre Romanvorlage so nah wie sonst selten an diesem Abend unter freiem Himmel am Bremer Weserstadion.

Folterknechte an der Seite

"Torture the Artist" (in der deutschen Ausgabe: "Vincent") von dem US-amerikanischen Jungautorenshootingstar und Punksänger Joey Goebel handelt von einem Jungen, der durch Leid und Qual zum Künstler alter Schule heranwachsen soll, eine dystopische Horrorgesellschaftsatire, Coming of Age mit einem Folterknecht an der Seite, der Kummer, Sorgen und Entbehrung zugunsten ästhetischer Exzellenz garantiert.

Die Prophezeiung über ausbleibendes Lebensglück stammt aus einem Brief, den der spätere Leidensmanager im Roman dem zu dieser erzählten Zeit gerade mal sieben Jahre alten Vincent im Suff schreibt: damit das Kind weiß, was mit Einwilligung der eigenen Mutter auf es zukommt. In dem perfiden Versuch, die letzte Verantwortung für die bevorstehenden Qualen auf das heranwachsende Talent abzuwälzen, das aber in dem Moment einfach nur froh ist, überhaupt mal die ernsthafte Aufmerksamkeit eines Menschen zu haben.

Qual der jungen Künstler

Am Theater Bremen lässt sich Regisseur Alexander Giesche mehr von dem Roman inspirieren, als dass er den Versuch unterninmt, seine Vorlage zu adaptieren oder gar deren erzählerischen Linien zu folgen. Sein Ansatz ist zunächst schlüssig: Substitution von Spaß, (Lebens-)Freude und sozialer Eingebundenheit durch Effizienzdenken, (Karriere- wie Lebens-)Planung und zielgerichtete Leistungsorientierung – dafür lassen sich natürlich auch in der Fußballkunst unserer Tage Beispiele finden, ohne gleich den so titulierten Söldner Robert Lewandowski bemühen zu müssen als jemanden, der im Sinne des Systems funktioniert, ohne dass uns mögliche menschliche Einbußen interessieren, die damit zusammenhängen könnten.

Torture1 560 Joerg Landsberg uDer Ball ist rund, der Platz ist groß, bengalische Feuer leuchten den Weg: Justus Ritter in
"Torture the Artist" © Jörg Landsberg

Die Frage nach dem Preis der Exzellenz, nach dem Trugpotential von Träumen – sie stellt sich hier wie dort. Und das früh. Nicht umsonst steht auf Platz 12 des Werder-Geländes, dem Aufführungsort des Abends, ein Aufsteller, der darauf hinweist, dass es sich (bei Fußball) um ein Spiel handle, die Schiedsrichter Menschen seien und die Akteure Kinder – Warnhinweise an hysterische Eltern bei Nachwuchspartien.

Hoffnung auf eine Chance

Der Clou der Inszenierung besteht darin, dass sie die Zuschauer offensiv zu Voyeuren der ausgestellten Verausgabung macht. Zwischendurch werden Würstchen mit Ketchup oder Senf verteilt, später Bier. Ein gemütliches Event im Grünen. Obwohl kurz vorher noch ein Regenguss heruntergekommen ist, sitzt es sich bequem auf den grünen Plastiksesseln der Platztribüne, während Schauspieler Justus Ritter im Werderdress mit "VINCENT"-Schriftzug über den matschigen Rasen trabt, seine Gesichtsfarbe ein immer tieferes Rot annimmt, ihm der Schweiß aus den Haaren spritzt: ein Auswechselspieler im orangefarbenen Überziehleibchen oberhalb des blauen Trikots, ein Typ, der sich am Rand des eigentlichen Geschehens abstrampelt, in der Hoffnung auf seine Chance.

Nach jeder Runde wird ihm eine Flasche Wasser gereicht, deren Inhalt er sich zuerst reichlich theatral in den Mund spritzt und mit großer Geste von sich wirft - bis er später wirklich Durst zu haben scheint. Kein Wunder - nach der elften, zwölften, dreizehnten Runde. Das Publikum hat Muße, das alles zu beobachten, eine knappe halbe Stunde lang passiert sonst nicht viel, abgesehen von der einen oder anderen Motivationsfloskel aus dem Megafon ("Der Boden ist nicht dein Feind!").

Torture2 560 Joerg Landsberg uPicknick-Pause für den Trainer: Matthieu Svetchine mittendrin © Jörg Landsberg

Mutig, wie viel Zeit sich der Regisseur da nimmt, wie unaufgeregt er Bilder wirken lässt, wie wenig er sich von der teilweise überbordenden Geschwätzigkeit des Romans treiben lässt. Umso mehr werden die Zuschauer auf sich selbst als willige (Medien-)Konsumenten zurückgeworfen, umso stärker wirken Sätze in Vincents Richtung wie: "Wir werden Dir geben, was Du brauchst, aber versagen, was Du willst."

You'll never walk alone

Vincent läuft durch bengalische Feuer (deren bunter Qualm auch den Zuschauern unmittelbar in die Hälse zieht), Vincent läuft durch anschwellende Fangesänge aus Lautsprechern am Platz, Vincent läuft an einer Trainerkarikatur (Matthieu Svetchine) vorbei, die gut den wild gestikulierenden Jogi Löw in einem seiner Anzüge meinen könnte – aber irgendwann läuft er dann leider doch zu lange ins Leere. Die Gesellschaftsmetapher Fußball für sich genommen erweist sich als nicht (mehr) originell genug, um den Abend zu einem mehr als nur sympathischen Ende zu tragen.

Torture3 560 Joerg Landsberg uAuftritt der Nachwuchshoffnungen: U17-Spielerinnen von Werder Bremen ©  Jörg Landsberg

Dabei wäre mehr drin gewesen: Justus Ritter beweist etwa, dass er trotz der ganzen Rennerei noch genug Puste hat, um sehr präsent, sehr nuanciert, mit feinen Tönen darüber zu sinnieren, wie es sich wohl anfühlt, eine Fledermaus zu sein, anders wahrzunehmen, andere Erfahrungen zu machen, also die Grenzen des Egos, der eigenen Fantasie zu überwinden. Konsequent wird er später im Batmankostüm wieder auftauchen, sich zu den drei anderen Schauspielern auf eine weiße Picknickdecke setzen, von der aus jeder kurz darauf seiner eigenen Wege gehen wird, ein Auseinanderdriften in die Einsamkeit, ausgerechnet zur (Fan-Gemeinschafts-)Mutmachhymne "You’ll never walk alone". Auch in solchen Ironisierungen von Popdurchhalteschmalz (musikalisch lässig augenzwinkernd arrangiert von Ludwig Abraham) weist die Inszenierung in manchen sinnlichen Augenblicken über die selbst gesetzte, irgendwann etwas penetrante, zu wenig ergiebige, allzu schnell auserzählte Ballsportbildlichkeit hinaus.

Mehr Schmerz

Das Finale bestreiten U 17-Juniorinnern, Nachwuchshoffnungen des Sports, die den Platz schnell artistisch für sich einnehmen (und das Publikum sowieso), deren Begabung selbst dem Laien schnell offenkundig wird, die jeden Applaus verdient haben – deren Auftritt aber trotzdem geradezu aus dem Nichts kommt (obwohl er sich akustisch wie auch im Programmheft angekündigt hat) und auch zu nichts führt. Zahlen diese jungen Frauen auch einen Preis für ihre frühe Markierung als Talent? Oder haben sie einfach nur Spaß?

Und wie sieht es eigentlich mit den hier sportlich geforderten Künstlerexistenzen der Schauspieler aus? Wann leidet eigentlich ein Regisseur? Fragen, denen sich die Inszenierung nicht mehr stellt. Und auch auf die Gefahr hin, so zu klingen wie der manipulative Medienmagnat aus der Romanvorlage, der das Lernen durch Leiden erst in Gang setzt: Dieser Abend mit diesem Thema hätte schon zwischendurch etwas mehr weh tun dürfen. Als er nach noch nicht einmal 90 Minuten zu Ende ist, wirkt es so, als ob auch dem großen Theaterschiedsrichter nicht mehr viel anderes eingefallen wäre als abzupfeifen. Ich hätte gerne noch gesehen, was in einer Verlängerung passiert wäre. Oder gar im Elfmeterschießen. Stattdessen hat ein wirklich vielversprechender Regisseur mit einer durch und durch motivierten Mannschaft zu früh und unverrichteter Dinge den Platz verlassen.

Torture the Artist
nach Motiven des Romans von Joey Goebel
Regie: Alexander Giesche, Kostüme: Emir Medic, Dramaturgie: Marianne Seidler, Licht: Frédéric Dautier, Musik: Ludwig Abraham.
Mit: Nadine Geyersbach, Irene Kleinschmidt, Justus Ritter, Matthieu Svetchine sowie jungen Talenten von Werder Bremen.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Rolf Stein von der Kreiszeitung (16.6.2016) schreibt: "Giesche (...) inszeniert in assoziativen Szenen eher assoziative Szenen, bevor gegen Ende die U-17-Juniorinnen von Werder den Platz stürmen." Jubelknäuel seien inklusive. "Was mit Fußball natürlich viel, andererseits fast nichts zu tun hat. Viel nämlich mit dem Spiel an sich, fast nichts mit der dazugehörigen Branche und ihrem Wettbewerb. Stattdessen gelte bei Giesche "You'll never walk alone" ganz wörtlich, als geradezu utopisches Miteinander in Kunst und Spiel.

Hendrik Werner vom Weser Kurier (17.6.2016) freut sich nach ermüdendem Spiel über das Einlaufen der Juniorinnen: "Auf den späten  Befreiungsschlag – nach vielen hübschen Ideen und noch mehr absichtsvollem Leerlauf – folgt das vitale Performance-Finale. 16 Werder-U-17-Kickerinnen ziehen vogelschwarmgleich auf den Platz." Plötzlich sei elegante Bewegung im Spiel "Leistung und Drill können lohnend sein. Für Zuschauer, die moderater Monotonie meditative Momente abtrotzen können."

Giesches Performance beziehe sich beiläufig auch auf Joey Goebels Roman "Torture the artist", schreibt Jens Fischer in der tageszeitung (18.6.2016). "Aus dem ist die Frage herauszulesen, ob nur der arme, kranke, von der Gesellschaft isolierte Poet in einer Dachkammerbruchbude, wie auf Carl Spitzwegs berühmten Künstlergemälde, kunstvoll tiefgründige Verse schmieden kann." Mit Antworten halte Giesche sich allerdings nicht auf, "sondern startet unaufgeregt die Suche nach einem Kunst-, Fußball-, Alltagsleben – ohne Quälerei." Dass der Schauspieler Justus Ritter, der 13 ½ Runden um den Platz absolviert, "das Wunderkind Vincent der Buchvorlage sein soll: egal. Er ist ganz allgemein derjenige, der für den Weg nach oben vorbereitet, also auf Entsagung eingeschworen und durch Drill zugerichtet werden soll." Ablenkende optische Sensationen gebe es "im Leerlauf des Geschehens nur wenige". Das Ganze seien "90 Minuten geistige Entschlackung zum Preis einer Theaterkarte."

Kommentare  
Torture the Artist, Bremen: Hallo nachtkritik?
Hallo nachtkritik? Warum blendet ihr die wirklich gelungene Kritik aus der taz in Eurer Kritikerrundschau völlig aus?
Die sollte hier nicht fehlen!
Herzlichst Jürgen Keller

(Hallo Jügen Keller? Wir blenden nicht aus, wir haben erst gar nicht eingeblendet, weil die Kritik am 18. Juni kam, und da war obige Schau schon längst erstellt. Und das Nachkleckern der taz haben wir - der Pressegott vergebe uns - tatsächlich nicht bemerkt. Aber sei's drum: Wir tragen nach … Es grüßt wb)
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