Darauf ein Gläschen Christel Mett

von Georg Kasch

Berlin, 17. Juni 2016. Die größte Provokation hebt sich Rodrigo García bei dieser Premiere bis zum Schluss auf: Er erscheint nicht zum Applaus. So wie sein ganzes Team. Natürlich versuchen es jetzt noch einige mit ihren wütenden Buhs, aber das verpufft. Das Parkett bleibt unerlöst, auch wenn sich der ein oder die andere in Zimmerlautstärke Luft zu schaffen versucht: "Das feige Schwein, traut sich nicht raus."

Da ist er wieder, der gereckte Mittelfinger, der diesen Abend an der Deutschen Oper Berlin von Anfang an beherrscht. García gibt sein Operndebüt mit "Die Entführung aus dem Serail", Wolfgang Amadeus Mozarts Singspiel im musikalischen Format einer veritablen Oper. Hier verschmelzen die Tugenden des Barock mit den Ideen der Aufklärung, aufgeputzt in der damals äußerst schicken Orient-Mode: Der Engländer Belmonte will seine Geliebte Konstanze aus der Macht des Bassa Selim befreien. Die Flucht scheitert. Doch Selim gibt in einem großen Gnadenakt die Gefangenen frei, obwohl Belmont der Sohn seines Erzfeindes ist: "Wen man durch Wohltun nicht für sich gewinnen kann, den soll man sich vom Halse schaffen."

Alles Lüge!

Natürlich ist diese ganze Orient-Okzident-Geschichte problematisch, natürlich sind die Helden nicht ganz so treu und beständig, wie sie behaupten, natürlich besitzt der Gnadenakt den Gestus des absolutistischen Herrschers, ist ein genretypisches Happy End, also noch angreifbarer als das Finale von Lessings "Nathan der Weise". Dass man damit produktiv umgehen kann, zeigen Inszenierungen wie die von Christof Loy 2003 in Frankfurt und die von Stefan Herheim im selben Jahr in Salzburg; 2004 demonstrierte Calixto Bieito an der Komischen Oper Berlin, welche brutale Kraft in Text und Musik steckt.

entfuehrung2 560 Thomas Aurin uSodom und Gomorrha im Harem vor Drogenkochern © Thomas Aurin

García aber sagt: Ist doch eh alles verlogen! Und zeigt, wie Belmonte im Monstertruck anreist, mit zwei Gespielinnen dabei. Im Harem fummelt sowieso jeder mit jedem, und wenn von Liebe und Treue gesungen wird, blendet García das Wort LÜGE ein – in Buchstaben, die echte, pumpende Herzen zeigen. Nun könnte man das alles dramaturgisch irgendwie ein- und zuordnen, das ist ja nicht aus der Luft gegriffen. Das Problem dieses Abends ist vielmehr, dass das Bilder sind, die aneinandergeklebt werden, Behauptungen bleiben. Eine Erzählung? Wozu das denn! Die deutschen, zugegeben etwas peinlichen Singspieltexte sind gestrichen und durch mitunter ziemlich lustige englische Plaudereien ersetzt – wir sind schließlich unter Briten (die allerdings auf Deutsch singen).

Bacchanalien mit Mozart-Soundtrack

Selim(a) ist hier eine Basketball- und Markengöttin, die über ein Drogenimperium herrscht. Ihr Harem lagert auf entsprechenden Kochgeräten, was nach der Pause zu folgendem schönen Dialog in der Reihe hinter mir führt: Ältere Dame: "Was sind denn das für Instrumente?" Ihre männliche Begleitung: "Da werden Drogen gemacht." Ältere Dame: "Ach, Christel Mett." Auch Koks ist dabei in großen Tüten. Zwar singt der Wächter Osmin, der bei Mozart noch vom Wein nascht, obwohl er Muslim ist, noch immer "Vivat Bacchus", aber eigentlich müsste er die Coca-Bauern preisen. Dazu kommen, in nicht chronologischer Reihenfolger: Comicmasken. Nackte Frauen im Harem. Ein Ufo, das die Gesellschaft aus dem Berliner Tiergarten entführt. Ein blaues Tuch, das Selim(a) von Zeit zu Zeit übergestülpt wird und auf dem je nach Seite entweder DESIRE oder ERROR steht. Die Riesenbühne, die nahezu leer und in ihren Dimensionen ungenutzt bleibt.

Das Schlimmste aber: Mozarts Musik, die so sensibel und so viel klüger als der Text den Charakteren eine beeindruckende Tiefe verleiht, wird zum Soundtrack degradiert. Warum sollte die auch berühren, wenn die, die sie singen, als oberflächliche Dumpfbacken über die Bühne schlendern und Emotionen wie Schmerz und Verzweiflung nicht zu kennen scheinen?

Und das vom Mozart-Fan García, in dessen Abenden klassische Musik schon immer eine Sonderrolle einnahm. In Gólgota Picnic war sein großer Coup, dass er der Blasphemie-Party im ersten Teil die Klavierfassung von Joseph Haydns "Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze" gegenüberstellte – beim Berliner Gastspiel rutschte ein Teil des Publikums, das noch im ersten Teil der von christlichen Eiferern zum Skandal hochgejazzten Inszenierung ziemlich bei der Sache war, ungeduldig auf dem Stuhl herum. Eine herrliche Zumutung, weil hier Kunst Religion transzendierte, gerade weil offen blieb, ob "Die sieben letzten Worte" absolute oder Programmmusik sind. Ähnlich in Daisy: Ein Streichquartett spielte da mitten im Stück ausführlich Beethoven, so hinreißend schön, dass man nach all dem verbalen Kulturpessimismus doch wieder an die Kunst glauben musste.

Lars Eidinger hat abgesagt

Was dort als Reibung funktionierte, verpufft hier folgenlos. Dass die Musik kaum Wirkung entfaltet, liegt allerdings auch an Donald Runnicles, ausgewiesener Wagner- und Strauss-Experte. Sein Mozart klingt unentschieden, oft schnell, aber nie federnd, angeraut, aber so gar nicht aufregend. Ebenso glanzarm ist die Besetzung, jedenfalls für ein Haus wie die Deutsche Oper: Szenisch legen sich die Sänger ziemlich ins Zeug, vokal bleiben sie blass. Als Schauspieler sollte ursprünglich Lars Eidinger dabei sein, Protagonist in Garcías Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben... , aber der hat wohl rechtzeitig den Braten gerochen. Jetzt steht Annabelle Mandeng ziemlich imposant auf der Bühne, spricht aber Garcías seltsam altklug wirkende Füll-Texte, als lese sie die Nachrichten vor.

Gegen Ende fällt der Ballon, auf den lange die trashigen Videobilder projiziert wurden, in sich zusammen. Bei Garcías Operndebüt war von Anfang an die Luft raus – ein Stinkefinger in Richtung bürgerliches Publikum ist schließlich nicht abendfüllend und neu schon gar nicht. Gut möglich, dass dieser Abend zugleich sein Opern-Finale war.

Die Entführung aus dem Serail
von Wolfgang Amadeus Mozart und Gottlieb Stephanie d. J.
Inszenierung, Bühne: Rodrigo García, Musikalische Leitung: Donald Runnicles, Bühne, Video: Ramon Diago, Kostüme: Hussein Chalayan, Licht: Carlos Marquerie, Chöre: William Spaulding, Dramaturgie: Jörg Königsdorf, Anne Oppermann.
Mit: Annabelle Mandeng, Kathryn Lewek, Siobhan Stagg, Matthew Newlin, James Kryshak, Tobias Kehrer, Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.deutscheoperberlin.de

 

Kritikenrundschau

Bereits in den ersten Minuten werde unmissverständlich deutlich, "dass hier einer nicht auf die Musik hören kann – und zudem von einer fixen Idee besessen ist: überall Lügen!", schreibt Ulrich Amling im Tagesspiegel (19.6.2016). "Jeder fummelt mit jedem und singt dabei unentwegt von ewiger Liebe – das ist zwar ein erwachsenes Thema, will aber auch entdeckt, erzählt und vor allem gefühlt sein." Daran scheitere diese "Entführung", "die noch weitaus abgefahrenere Ideen als Belmontes Monstertruck auf Lager hatte, glaubt man Garcias Stroyboard im Programmheft", so Amling. "Die Fantasie des im Opernbetrieb debütierenden Regisseurs zu bändigen, sein Konzept auch nach Ausstieg des Schauspielers Lars Eidinger zu retten, das muss die Deutsche Oper viel Kraft gekostet haben."

Im Warenhaus des Sprechtheaters bediene Garcia seit längerem das Segment "Skandal", so Jan Brachmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.6.2016). "An Stelle der Arbeit an den Figuren, ihren Motiven und Verstrickungen, treten Schauwerte." Die engen Anschlüsse zwischen Singen und Sprechen, auf die Mozart so viel Wert legte, stellen sich nicht her. "Der Dialog motiviert keinen Gesang, der Gesang treibt kein Drama voran. Es will einfach kein Musiktheater an diesem Abend entstehen." Alle Figuren seien bei García seelenleere Libertins. "In die Verwirrung, die Mozart angesichts der Versuchung von Untreue und Verrat beschreibt, können sie nicht mehr geraten, weil sie das 'Du und nur Du allein' der Liebe gar nicht kennen." Damit aber werde das ganze Stück in einem eminenten Maße sinnlos.

"García hat eine mäßig anstößige, über weite Strecken ansehnliche, ja sogar mitunter auf kommensurable Weise ästhetische Sicht auf Mozarts Wechselbalg geliefert, das zudem musikalisch in vielerlei Hinsicht überzeugte", findet Tilman Krause in der Welt (20.6.2016). Nur gerate das über gepflegte Langeweile nicht hinaus, "weil der Regisseur das Stück einfach nicht begriffen hat. Vor allem aber verzichtete er feige darauf, sich beim Schlussapplaus, wie dies guter Brauch ist, dem Publikum zu zeigen." Fazit: "Ein konventioneller Abend im Grunde. Kracher sehen anders aus."

Weder interessieren García eine politische Aktualisierung mit IS oder Flüchtlingskrise noch eine raffinierte Ästhetisierung, so Wolfgang Schreiber in der Süddeutschen Zeitung (21.6.2016). "Umso mehr die Frage, was widersprüchliche Charaktere antreibt. García hat die Dialoge gestrichen und durch nervende Essays oder einfach Slang ersetzt." Unangetastet bleibe Mozarts Musik, nur wegen der habe er die Regie übernommen. "Prall, schamlos und frech, lustvoll und ordinär, oft unterhaltsam" zeigen Rodrigo García und sein Kostüm-Designer die Porno- und Drogen-Exzesse der westlichen Konsum- und Fummelwelten.

 

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