Flüchten oder bleiben?

von Michael Laages

Braunschweig, 17. Juni 2016. Weit mehr Facetten hat die syrische Tragödie als sich das die Bürgerkriegsbeobachter im friedlichen Europa vorstellen mögen – der Damaszener Autor Mohammad Al Attar fokussiert das in seinem Stück, beim Kunstenfestival in Brüssel vor gut drei Wochen uraufgeführt, auf eine Familie, in deren Lebensläufen sich viele Wege kreuzen. Die aber sämtlich münden in jenes Chaos, dessen Auswirkungen die Welt erschüttern. Wobei gerade die einfachsten Fragen überhaupt nicht zu beantworten sind – warum zum Beispiel liegt Taim, ein junger Mann Ende 20, im Koma? "Während ich wartete" erzählt von dem, was geschieht in seiner An- und Abwesenheit.

Koma nach dem Unfall

Was geschah bei dem Unfall, der ihn in diesen Zustand zwischen Tod und Leben versetzt hat? Ein wenig bekommt das Publikum zu ahnen – vielleicht ist das Opfer auf den falschen Mann getroffen beim Haschisch-Deal, auf einen vom Geheimdienst ... Auch ohne nämlich dezidiert im politischen Widerstand zu sein, war Taim schon fast verloren für die Familie, zuviele Drogen waren im Spiel. Und wie Taims Freund Osama, ein wahrscheinlich talentierter, aber nie wirklich auf die Arbeit konzentrierter Freak, driftete das Opfer eher ziellos durch die Katastrophe seiner Zeit.

Autor Al Attar legt viele Handlungsstränge aus und vernetzt das Personal geschickt. Taims Schwester Nada kommt aus dem Exil in Beirut zurück ans Krankenbett und trifft dort auf die Mutter; Freund Osama ist offenbar schon lange in Nada verliebt. Die Schwester war nach Beirut geflohen, weil sie das Schweigen in der Familie nicht mehr aushielt; jetzt will sie das Underground-Filmprojekt des Bruders zu Ende führen.

Immer mit Kamera

Der hatte seit Beginn der syrischen Aufstände vor fünf Jahren mit Handy- und Video-Kamera den unruhigen Alltag gefilmt; und dabei die eigene Familiengeschichte hinein montiert. Auch der verstorbene Vater war wohl verstrickt in Geschäfte mit dem autoritären Regime der Herrscher-Familie Assad (Vater Hafis damals und Sohn Baschar jetzt) – mehr als darunter hat die Mutter aber unter dessen Untreue gelitten. Tochter Nada gräbt nun tief und tiefer in den Abgründen der Familie.

WaehrendIchWartete 560 Didier Nadeau u Familien-Gefüge samt Rückkehr nach Damaskus: "Während ich wartete" © Didier Nadeau

Taim war übrigens ein sehr aufmerksamer Dokumentar – und darum sehr erstaunt, als der syrische Aufstand bald nach Beginn jene religiös-fundamentalistische Schlagseite bekam, die den Umgang mit den Kämpfen in diesem zunehmend zerrissenen Land noch einmal komplizierte für den Rest der Welt. Wie konnte Assad bekämpft werden, ohne ungewollt dem religiösen Terror zu helfen? Wer konnte andererseits den ins Visier nehmen, ohne insgeheim zu Assads Partner zu werden im politischen Poker? Auch dieser unauflösliche Konflikt hat ja Hunderttausende aus dem ehedem so starken Land getrieben und allüberall zu Heimatlosen werden lassen.

Auf den Dächern, über der Welt

Selma schließlich ist Taims Freundin – und gegen Ende wird sie es gewesen sein; nach der traurigen Erkenntnis, dass sie fast ein Jahr lang nur aus Mitleid dem lebenden Leichnam die Treue gehalten hat, den sie hatte heiraten wollen. Auch sie wird "auswandern", irgendwohin; von "Flucht" ist nie Rede. Viel aber vom Dableiben – Taims letzte Szene (wieder mal ist er geisterhaft aus dem Koma heraus gestiegen) ist ein Traum von der geschundenen Stadt. Von einem der Dächer (auf denen ja wie im Iran auch in Syrien der aufkommende Widerstand zu kommunizieren begann) schaut er auf die heimatliche Welt herab und weiß, dass er sie nie verlassen kann, tot oder lebendig oder im Koma dazwischen, weil nämlich sie ihn nie verlässt.

03 WaehrendIchWartete Foto A.Greiner NappZwischen Koma, Realität und Fiktion: Taim und seine Geschichte in "Während ich wartete" 
© A. Greiner Napp

Als wäre dieses Familien- und Freundschafts-Gefüge nicht eng genug gestrickt, hat Autor Al Attar auch noch einen echten Kämpfer hinzu gesetzt – aus Folter-Gefängnissen des Regimes kehrt er in die Welt des Bürgerkrieges zurück und schließt sich nacheinander der Freien Syrischen Armee, der Al-Nusra-Front und dem IS an. Das Text-Original verwendet übrigens den auch in Frankreich und England üblichen Begriff "Daesh", die deutsche Übersetzung bleibt bei "IS". Nirgends aber findet er den Weg, der für ihn gangbar ist – nun will er als DJ und Sound-Sammler im Alltag wenigstens den Klang des Krieges dokumentieren.

Verwirrung der Gefühle

Die Inszenierung von Omar Abusaad hat sicher die stärksten Momente an den Übergängen zwischen Wirklichkeit und Koma-Vision; vorn auf der Bühne läuft (mit eigentlich nur dem Krankenbett als Requisit) die reale Familien-Fabel, hoch auf einem Gerüst dahinter führt der Koma-Patient Taim die Schnipsel der eigenen Film-Dokumentation vor, und der DJ erzählt von der Suche nach immer neuen Fronten. Das Ensemble spielt intensiv und ganz konzentriert auf die Verwirrung der Gefühle im Schatten des Krieges.

So werden sie alle so wie Autor Al Attar und Regisseur Abusaada, beide ehedem "zuhause" am universitären Theater-Institut in Damaskus, zu Botschaftern eines Landes, das nur noch schemenhaft existiert: im Koma sozusagen, wie Taim. Sie erzählen ihre Geschichte weiter (wie zuvor mit der bei den Hamburger "Lessingtagen" gezeigten "Antigone von Shatila") im Exil; und gastieren mit der neuen Produktion nach Brüssel und Braunschweig in Lausanne, Neapel und Avignon, Zürich, Groningen und Basel, Genf, Gent und in Paris. Das ist jetzt ihre Welt. "Ihr" Damaskus aber, sagen sie, wird sie alle überleben.

 

Während ich wartete
von Mohammad Al Attar
Regie: Omar Abusaada, Bühne: Bissane Al Sharif, Licht: Nasan Albakhi, Video: Reem Al Ghazzi, Musik: Samer Daem Eldahr (Hello Psychaleppo).
Mit: Amal Omran, Mohammad Alarashi, Nanda Mohammad, Fatima Lalla, Mouiad Roumieh, Mohammad Al Refai.

www.theaterformen.de

 

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Kritikenrundschau

"Vielleicht nicht die Inszenierung des Jahres, aber das Stück der Stunde", schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.9.2016), und immerhin ist das Gastspiel beim Theaterfestival Basel der Zeitung den Platz als Feuilleton-Aufmacher wert. "Während ich wartete" verhalte sich etwa zu Simon Stones Inszenierung "John Gabriel Borkman" wie die Tragödie zur Farce, wie der syrische Bürgerkrieg zu einer Schneeballschlacht von Kindern, so Halter. Die Inszenierung sei weder revolutionär noch skandalös, nicht einmal authentisch arabisch. "Es gibt nicht Schwarz oder Weiß, Assad oder IS, Burka oder Party, sondern unendlich viele Farben und Facetten dazwischen."

Katja Baigger von der NZZ (20.8.2016) schreibt über das Gastspiel im Rahmen des Zürcher Theaterspektakels, Mohammad al-Attars Text sei von Galgenhumor durchtränkt, erschaffe aber auch poetische Bilder. "Deren Inszenierung durch seinen mehrjährigen Theaterpartner Omar Abusaada braucht länger, um einen Sog zu entfalten." Das "multimedialen Familienepos" reflektiere gelungen die tragischen Ereignisse im Heimatland der Theatermacher. "Damaskus ist – komprimiert – nach Zürich gekommen."

Der Abend gewähre uns Einblicke in ein Familienleben in Damaskus, schreiben Martin Jasper und Andreas Eberhard in der Braunschweiger Zeitung (20.6.2016). Es gehe um einen Jungen, der bei einem mysteriösen Unfall ins Koma fiel. "Ein bisschen wie bei Ibsen" sei das, wie sich die Restfamilie ums Bett scharre. "Es gebe keine Botschaft. Keine Lösung naturgemäß, keine Hoffnung. Wir erleben am Beispiel einer Familie: ein Land in Auflösung. Das letzte Flackern menschlicher Bindungen." Traurig-schön das Ende: "Da gewinnt die thematisch vielschichtige, theatralisch solide, mitunter etwas biedere Aufführung einen anrührenden Moment der poetischen Absurdität."

"Merkwürdig rückwärtsgewandt" findet Robert Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (20.6.2016) den Abend. Das Krankenbett werde hier zum Kristallisationspunkt für Erinnerungen. "Der Text von Mohammad Al Attar ist handlungsreich wie eine Fernsehsoap – und auch so gefühlsintensiv."

So konventionell dieser Theaterabend auch erzählt sei, er berühre durch erzählerische Klarheit und Wahrhaftigkeit. Das Schöne an diesem so erfreulich normal daherkommenden Stück aus einem für uns fremden Kriegsgebiet sei, dass so vieles in der Schwebe bleibe, dass es keine plakativen Abläufe und Vorwürfe gebe. "Dass dies stinknormale Menschen sind, mit ganz banalen Streitigkeiten und Schuldgefühlen", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (26.5.2017) zum Gastspiel bei den Wiener Festwochen.

 

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