Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war - Wolfgang Behrens über (mangelnde) Vorbereitung auf den Theaterbesuch
Die Regisseurin hat den Zuschauer nicht verstanden
von Wolfgang Behrens
21. Juni 2016. Und dann wollte mir Andrea Breth so richtig wehtun. Gerade noch war eine Dramaturgin eingeschritten und hatte gesagt: "Ich glaube, das ist ein Missverständnis, er hat doch etwas Anderes gemeint." Die Breth aber sendete ein paar Blitze in meine Richtung und giftete: "Nein, kein Missverständnis! Wir haben einander schon ganz gut verstanden." Ich versuchte, mit einem grimmigen Lächeln zu antworten, es kam aber wohl nur ein jämmerliches Grinsen dabei heraus. So ein Mist! Ich hatte doch recht, verdammt nochmal! Aber gefühlt blieb Andrea Breth Siegerin. Irgendwie hatte sie mich klassisch ausgekontert.
Die Szene spielt – natürlich! – tief in den 1990er Jahren, als ich noch ein Zuschauer und Andrea Breth Leiterin der Berliner Schaubühne war. Angesetzt war eine Aufführung des "Onkel Wanja", und als Besonderheit standen an diesem Abend seitlich von der Bühne Dolmetscher, die den Text für gehörlose Besucher*innen in Gebärdensprache übersetzten. Bei der anschließenden Publikumsdiskussion wurde bemängelt, dass die Dolmetscher zu weit am Rande gestanden hätten, weswegen die Aufmerksamkeit der gehörlosen Zuschauer*innen sich doch arg habe aufspalten müssen. Ob man nicht …? "Nein", fuhr die Breth dem taubstummen Frager ins lautlose Wort. Eine weitere Einbeziehung der Übersetzer in den Bühnenraum sei nicht möglich, da die Aura des Kunstwerkes nicht gestört werden dürfe. Und außerdem erwarte sie sowohl vom gehörlosen wie vom hörenden Publikum, dass es mit solider Textkenntnis ins Theater komme, da seien dann die Dolmetscher gar nicht so wichtig.
Zittern vor Proust
Genau hier aber rebellierte ich: was Frau Breth denn da Unmögliches verlange, das Kunstwerk müsse ja wohl für sich selber sprechen, eine solche Vorbereitung sei von der arbeitenden Bevölkerung – so es nicht die sprichwörtlichen Schaubühnen-Zahnärzte seien – gar nicht zu leisten BLA BLA. Ein kalter Blick traf mich, und ich wurde belehrt, dass ich wohl zu den verachtenswerten Leuten gehörte, die glaubten, man müsse die Kunst bequem und mundgerecht zubereitet bekommen. Bloß nicht selber denken, Hauptsache Event und Berieselung. So nicht, mein Herr! Ende der Durchsage. Fortsetzung des Gesprächs: siehe oben.
Seit ich zum Zuschauer- noch den Kritikerstatus hinzugewonnen habe, muss ich immer mal wieder an diesen Wortwechsel denken. Im Grunde habe ich mir die Ermahnung der Breth ja zu Herzen genommen: Ich gehe jetzt gut präpariert ins Theater. Ich habe den "Onkel Wanja" gelesen, wenn ich den "Onkel Wanja" sehe. Und ich zittere förmlich bei dem Gedanken, man könnte mich mit einer Kritik zu einer Theaterfassung von Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" beauftragen. Das wäre so ungefähr ein Jahr Lese-Vorbereitung, und wenn ich Pech hätte, würde die Vorstellung eine knappe Stunde dauern und enthielte nur drei Zeilen Text. Immerhin könnte ich dann schreiben: "Die Regisseurin konzentrierte sich in ihrem klugen Kondensat auf die Seite 275 aus dem dritten Band", und der Welt wäre geholfen.
Das Vorbereitungs-Missverständnis
Aber oft genug denke ich auch, dass ich damals im Disput mit Andrea Breth doch richtig lag. Was interessiert schon die vorherige Textkenntnis? Die Wahrheit liegt noch immer auf dem Platz. Wie oft habe ich mich im Kino über diese oberschlauen Leute geärgert, die am Ende der Romanverfilmung wissend anmerken: "Also, äh, im Buch war das aber anders." "Und?", frage ich dann zurück, "war's deswegen ein schlechter Film?" Ich gehe, im Gegenteil, so weit zu behaupten, dass der "Herr der Ringe" über weite Teile ein schlechter Film ist, weil er sich viel zu sehr am Buch entlanghangelt. Ein Film aber ist kein Buch und folgt einer anderen Dramaturgie.
Warum sollte es im Theater anders als im Kino sein? Und warum sollte ich als Kritiker einen Vorsprung vor mir als Zuschauer haben? Als Zuschauer sehe ich einen Abend, und der hat sich – sorry, Frau Breth! – gefälligst aus sich selbst heraus aufzuschlüsseln (was nicht ausschließt, dass dazu der Denkapparat eingeschaltet werden darf). Das Seltsame ist doch, dass die vorherige Textkenntnis den Blick oft sogar verstellt, weil sich Erwartungen aus der Lektüre nicht einlösen. Der Kritiker schreibt dann betrübt: "Der Regisseur hat die Autorin nicht verstanden." Aber war's deswegen schlechtes Theater?
Ach, und eines noch, Frau Breth: Wissen Sie, was ich in all den Jahren nie begriffen habe? Warum hätte man sich eigentlich ausgerechnet auf Ihren texttreuen "Onkel Wanja" mit dem Reclam-Heft in der Hand vorbereiten sollen? Damit man gemerkt hätte, wie genau Sie den Autor verstanden haben und wie wenig es deshalb dieser Vorbereitung bedurft hätte?
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 1980er und -90er Jahre.
Zuletzt verdächtigte Wolfgang Behrens an dieser Stelle die Fußballverbände, mit den Oberbürgermeistern von Rostock und Hagen unter einer Decke zu stecken
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Wenn eine Inszenierung nicht zugänglich ist für den unvorbereiteten Zuschauer ist sie nicht Hochkultur, sondern unbedeutend, weil publikumsverachtend. Wenn Sie dem vorbereiteten Publikum nicht mehr genügt, ist sie wahrscheinlich zu schlecht gearbeitet. Aber das ist läßlich, wenn die Erfahrung des Theaterabends interessant war.
Wichtig ist somit auffem Platz!
Alles andere ist Lesedrama.
Das hatte historisch seine Zeit und ist jetzt was für Germanisten und andere vampiristischen Vereinnahmer eines Mediums, welches erstmal aus dem Spiel und nicht aus dem Gedanken seine Kraft bezieht.
Genau diese weiße, klassistische, elitäre Kackscheiße dampft hinter vielen sterbenslangweiligen Inszenierungen, die aber "richtig" gedacht und gearbeitet waren. Wenn dann noch ein Dramaturg erklärt, warum das gut war und dem geneigten Zuschauer ERKLÄRT, warum er/sie falsch gefühlt hat, dann sind wir deep in the heart of Stadttheater. Es gibt viele wunderbare Metaabenteuer - aber sie sind nur die Röslein am Rande des Wegs und nicht die Baumkronen. Das ist im "Betrieb" noch nicht wirklich angekommen, weil ja die Angst häufig so groß ist, man wäre vielleicht nicht schlau/gebildet/gepanzert genug, um im bürgerlichen Beruf Theatermacher vor den inneren Schulmeistern zu bestehen.
Innere Schulmeister haben wohl alle in allen Berufen, da hilft es den bürgerlichen Theatermachern eventuell, sich zu erinnern, dass auch ein künstlerischer Beruf ein Beruf ist und damit ihre tradierten Ängste keine Sonderstellung beim Arbeiten einnehmen und deshalb zu bewältigen sind, wie andere berufliche Aufgaben auch.
natürlich haben alle möglichen Berufstätigen innere Antreiber, aber die Tragik des dt. Stadttheaters besteht im kaum reflektierten bürgerlichen Bildungsauftrag. Der hat eine Klasse gegen den Adel positioniert und hat historisch quasirevolutionäres Potential gehabt. Nowadays geht die Bewegung in die entgegengesetzte Richtung . D.h. Das weisse Bürgdrtum verschanzt sich hinter Exegese / Qualitätsdefinitionen etc., um reaktionär Exklusion und Affirmation zu behaupten. Ditt war aber nicht der Sinn der Hamburgischen Dramturgie, oder?
PS: Wieso sind für Sie Schulmeister und Antreiber identisch???
in aller Kürze. Lessing war jetzt nicht mein spezieller Bezugspunkt. Es ging mir vielmehr, um eine Form von Literaturtheater, welches aufklärerisch wirken sollte.
Der Begriff "weißes Bürgertum" steht für mich für eine relativ klar umrandete Gruppen von Menschen, denen ihre Privilegien qua Geburt/Hautfarbe (und auch implizit ökonomische Potenz) zumeist nicht bewußt sind, und die Theater als einen Ort der Erhebung und Selbstvergewisserung als moralisch superiore Gruppe nutzen. Dieses Bürgertum argumentiert im Zuschauerraum und als Gruppe der Theaterschaffenden mit einem Qualitätsbegriff, der letzlich auf Weimarer Klassik, Fernsehrealismus oder Kanon rekurriert, um Exklusion zu betreiben und zu zementieren. (Beispiel: Wir würden ja schwarze, türkische, asiatische Schauspieler, Regisseure etc. nehmen... aber die, die da sind sind einfach nicht gut genug)
Nun frage ich: Was ist gut? Was ist Qualität? Wer definiert wie den Referenzrahmen? Warum ist Förderung von Diversität in der Wirtschaft selbstverständlich und im Theater unvorstellbar? Sieht sich das Theatersystem selbst? Wer ist da und wer ist da nicht repräsentiert in den Entscheidungspositionen? Warum? und Warum wirklich?
Das sind alles Fragen, die m.E. durch Pseudowissenschaft und viel Rhetorik abgewehrt werden. Philologie und Textkenntnis sind da wunderbare Mittel um Innovation zu verhindern. Merke nur ein HOCHTEUTSCH gesprochener Vers von Schiller ist Kunst. Der Krampf kommt auch wirklich direkt aus Weimar, wo Dilletanten als Theaterdirektoren auftraten und schon damals ihr Publikum schulmeisternd langweilten.
Schulmeister und innere Antreiber sind insofern identisch, als dass da kindliches Richtigmachenwollen als Introjekte mistige Produkte hervorbringen helfen.