Brötchenalarm

von Shirin Sojitrawalla

Darmstadt, 19. April 2008. Die Mutter Courage der Gabriele Drechsel ist kein verhärmtes Mütterlein mit Haaren auf den Zähnen, sondern eine forsch attraktive Frau. Eine allein erziehende Mutter, die sich zu wehren weiß. Zu Beginn steht sie im roten Rock, Top und Pelz um den Hals auf der Bühne, ein bisschen verkommen und einigermaßen aufreizend sieht sie aus. Während sie sich vom Koch (Gerd K. Wölfle) unbeteiligt flachlegen lässt, verkauft sie ihm en passant einen Kapaun, zu ihrem Preis, versteht sich. Die Frau ist gewieft, kann rechnen und lässt sich nicht lumpen. Im Laufe des Abends changiert sie zwischen zänkischem Weib und aufgekratztem Mädchen, taugt aber nicht zum negativen Exempel, das Brecht an ihr statuieren wollte.

Seine zeigefingerfuchtelnde Chronik aus dem Dreißigjährigem Krieg gerät ohnehin unter den zupackenden Händen des Regisseurs Andrej Woron zum schwungvollen Bilderbogen. Aus dem Wagen der Marketenderin Anna Fierling, besser bekannt als Mutter Courage, wird bei ihm ein waghalsiges Gerüst, um das sich ein kurviger, mit Luken versehener Laufsteg dreht. Hoch oben haust wie in einem Baumhaus die stumme Tochter Kattrin, die Margit Schulte-Tigges, die älteste Schauspielerin an diesem Abend, verkörpert.

Parallele zur Fernsehwirklichkeit

Die Drehbühne sorgt dafür, dass die Kriegswanderschaft und damit Brechts theatralisches Roadmovie in Fahrt gerät. Der Regisseur dachte sich nicht nur das Bühnenbild aus, sondern auch die Kostüme. Während Kattrin, ganz unschuldiges Mädchen, im weißen Kleidchen und brav geflochtenen Zöpfen erscheint, gibt sich ihr Bruder Eilif als 08-15-Prolet in Trainingshosen und Turnschuhen. Unwillkürlich kommt einem Peter "Raus aus den Schulden" Zwegat in den Sinn. Zumindest in Zeiten des Friedens könnte er diese Familie beraten. Der wütende Glaubenskrieg aber nährt sie vorerst recht gut.

Die Parallele zur Fernsehwirklichkeit drängt sich auch deshalb auf, weil Woron die von Brecht den einzelnen Szenen vorangestellten Inhaltsangaben von einem privatsendertauglichen Smokingträger ansagen lässt. Der Schauspieler Hubert Schlemmer macht das mit einstudierter Nonchalance und wirkt dabei stets so, als würde er nur die nächste Revuenummer bekanntgeben. Der Krieg bleibt an diesem Abend bloße Fiktion; den laschen Kanonenhagel übernehmen mehlige Brötchen, die zum Bombenalarm über die Bühne regnen.

Blutender Schoß, grotesk bemalte Lippen

Drastischer indes Worons Zugriff auf die individuellen Zumutungen. Etwa beim Angriff auf die stumme Kattrin. Bei Brecht heißt es, sie habe eine Wunde über Stirn und Auge. In Darmstadt zieht sie sich ihr Kleidchen übers Gesicht, erhebt die Hände, an denen ihre derben Schuhe stecken und zeigt ihren blutenden Schoß sowie rot verschmierte Beine. Ebenso überspitzt der erste Auftritt der luderhaften Yvette Pottier (Maika Troscheit), die mit grotesk bemalten Wulstlippen und knallroten Lackstiefeln auf die Bühne stakst und ihren Körper pseudo-erotisch verrenkt, was einen gleichermaßen peinlichen, lächerlichen wie mitleiderregenden Eindruck hinterlässt.

Es sind immer wieder deftige Bilder und Augenblicke, die Woron inszeniert. Vier Musiker, am linken Rand platziert, begleiten die Gesangseinlagen, wobei manch altes Lied neuen Schmelz erhält. Den stärksten Moment an diesem Abend aber hat, wie sich das gehört, die Courage, und zwar in der Szene, als sie ihren toten Sohn Schweizerkas verleugnen muss, um sich und Kattrin zu retten.

Einiges zum Kichern

Ihr Gesicht ist dann voll von Gram, Hass und Unerbittlichkeit, ganz kurz nur schaut sie mit schmerzschiefem Mund auf den leblosen Körper und öffnet damit doch eine ganze Welt der Trauer und Traurigkeit.

Doch der rührenden Momente sind nicht viele in Darmstadt, dafür gibt es so einiges zu kichern, etwa wenn Eilif vom Feldhauptmann einen Orden an die nackte Brust getackert bekommt oder sich der Feldprediger als Wanderprediger amerikanischer Machart entlarvt.

Woron beweist ein gutes Gespür für die Pointen des Textes und baut auch manch einen Gag ein. Vor allem aber treibt er dem Text seine Lehrhaftigkeit aus, und das geschieht eindeutig zugunsten der Anschaulichkeit.


Mutter Courage und ihre Kinder
Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg
von Bertolt Brecht. Musik von Paul Dessau

Inszenierung und Ausstattung: Andrej Woron, Musikalische Leitung: Michael Erhard. Mit: Gabriele Drechsel, Margit Schulte-Tigges, Maika Troscheit, Hans Matthias Fuchs, Matthias Kleinert, Hubert Schlemmer, Stefan Schuster, Aart Veder, Tom Wild, Gerd K. Wölfle, Klaus Ziemann.

www.staatstheater-darmstadt.de

 

Kritikenrundschau 

In einer Kurzversion seiner/ ihrer heutigen Kritik schreibt "job" auf der online-Seite des Darmstädter Echos (20.4.2008): Der Theatermacher Andrej Woron nehme Brechts Verfremdungs-"Stilvorschrift mustergültig ernst". Seine Ausstattung vermeide alle "naturalistischen Anknüpfungspunkte an die Wirklichkeit" und schaffe einen "abstrakten Raum von großer Symbolkraft". Alleine die Ausstattung lehre bereits, im bewegten Kreislauf des Krieges gehe es nicht voran. Die Figuren seien "erwartbar" typisiert, karikiert. Über die Courage der Gaby Drechsel gibt es einstweilen noch kein Wort.

In der Frankfurter Rundschau (21.4.2008) beschreibt Tanja Kokoska Worons Bühne: Woron stellt keinen Leiterwagen auf die Bühne, "seine Bühne ist der Wagen, lenk- und drehbar, eine Art wellenförmige Showtreppe ohne Stiegen in Form einer liegenden Acht." Drechsels Courage bleibe Brechts Vorbild treu: SSie ist weder eine negative noch eine positive Gestalt, ihr Spiel dient nicht der Empathie und auch keinen "kulinarischen" (Brecht) Genüssen", wenngleich für Brecht vermutlich noch viel zu viel Gefühl im Spiel gewesen wäre. Nur in Details - wenn statt Kanonenkugeln Brötchen hageln - breche Woron mit dem epischen Theater. Fragen, ob sich Brechts "Weltverbesserungstheater" nicht überholt habe, seinen in der Pause zu vernehmen. Nein, antwortet, Frau Kokoska, denn nach dem Krieg sei immer vor dem Krieg irgendwo auf der Welt.

Jens Frederiksen schreibt im Wiesbadner Kurier (23.4.2008), Woron bleibe die Erklärung schuldig, warum er statt des Planwagens eine Achterbahn brauche. "Aber da auch sonst so manche Selbstverständlichkeit und so manches Detail durchgeschüttelt und auf den Kopf gestellt wird, ist der Zuschauer schon dankbar, dass Handlungsgang und Dialoge in groben Umrissen erhalten bleiben." Die Darmstädter Courage sei bei Gabriele Drechsel, so Herr Frederiksen, zudem "keineswegs das mütterliche Urvieh", sie ist vielmehr eine "kesse Frau im geblümten Hemdchen und mit weicher Stimme". Dieser "Zug der Figur" sei im Stück zwar durchaus angelegt, "aber manche Wendung der Geschichte, vor allem das Bekenntnis zu ihrer stummen Tochter Kattrin (...) kommt bei dieser einseitigen Ausrichtung wenig glaubhaft rüber". Das "übrige Personal" sei daneben "ein anachronistisch zusammengewürfelter Haufen". So fehle es zwar nicht an bemerkenswerten Details, "doch geht nichts zusammen. Manches Requisit ist einfach nur albern: die Brötchen, die statt Kanonenkugeln auf die Bühne fliegen, und das Vergrößerungsglas an der Ballustrade der Achterbahn. Am schwersten freilich, es hilft nichts, wiegt das Fehlen des Planwagens".

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