Man geht nicht, wenn man liebt

von André Mumot

Berlin, 25. Juni 2016. Links, am Bühnenrand, gleich neben dem Flugzeugwrack, steht eine Orgel. Keine große natürlich, und elektrisch ist sie, aber schon als das Publikum den schummrig abgedunkelten Raum betritt und sich seine Plätze sucht, wird auf ihr gespielt. Der Organist begleitet in gemessenem Tempo den Einzug der Gemeinde. Man ist sich noch nicht sicher zu Beginn, aber der erste Eindruck täuscht keineswegs: Es wird sich etwas ungewohnt Weihevolles abspielen in den kommenden anderthalb Stunden.

Und so treten die vier Darsteller denn auch mit einem Öllämpchen auf und singen sich mit abgehackten Silben in den Choral "Tristis est anima mea" ein, den sie vollständig erst im weiteren Verlauf zum Besten geben. In der deutschen Übersetzung heißt es da: "Traurig ist meine Seele bis an den Tod: harrt hier aus und wacht mit mir." Und ein paar Zeilen später: "Und ich werde gehen, um für euch geopfert zu werden."

Von irrationaler Kraft gelenkt

So erstaunlich es auch ist, Dominik Buschs Autorentheatertage-Siegerbeitrag ist weniger ein Stück über Religion als ein zutiefst religiöses Stück, Geschichte einer Erweckung, vielleicht sogar die einer Radikalisierung. Erzählt wird schließlich von einem Menschen, der all seine Bindungen löst für ein übergeordnetes Prinzip, für "etwas Zerbrechliches, das ich nicht beschreiben kann (...) weil es größer ist als unsere Pläne und Absichten." Tim heißt diese zentrale Figur – und es handelt sich nicht etwa um einen zukünftigen Terroristen, der gen Syrien aufbricht, um sich an der Waffe ausbilden zu lassen. Etwas Derartiges, mit heißer Nadel an den Schlagzeilendiskursen entlanggestrickt, wäre zu erwarten gewesen, dies hier aber nicht.

Das Gelubde 1 560 Tanja Dorendorf uDer, der kein Heiliger sein will, an der Orgel rechts: Christian Baumbach als Tim und daneben
Milian Zerzawy in "Das Gelübde" © Tanja Dorendorf

Nicht dieser schwitzende Kassengestellträger mit den großen Frageaugen (Christian Baumbach), der von sich sagt: "Ich bin kein Heiliger. Ich bin kein Held. Ich bin Beamter." Eigentlich ist er junger Arzt, der nach einem halben Jahr Arbeit auf einer afrikanischen Krankenstation während eines Flugzeugabsturzes das Gelübde ablegt, für immer nach Afrika zurückzukehren, wenn er die Katastrophe überlebt. Buschs Text baut aus dieser Ausgangssituation ein Textgewebe, das erst einmal jede Menge afrikanisches Lokalkolorit und symboldurchsetzte Episoden mit einander verschränkt. Eine Vogelspinne wird beispielsweise höchst beziehungsreich mit einer Hotelzimmerbibel erschlagen. Im Haupt- und Mittelteil jedoch, in dem die heimatlichen Bezugspersonen den irrationalen Plan verhindern wollen, setzt der Schweizer Autor ganz auf konzentrierte, schnickschnacklose Dialogpassagen.

Glücks- und Lebensmuster

Afrikareportage, Mysterienspiel und Glaubensdrama und schließlich noch ein well made Familienmelodram – all das findet statt auf der in Finsternis gelandeten Tragfläche des abgestürzten Fliegers und dem kargen Kabinenskelett dahinter. Ansonsten rinnt nur etwas Sand aus dem Schnürboden und tut, was er kann: Er mahnt. Regisseurin Lily Sykes gönnt dem Text in ihrer Koproduktion von Zürcher Schauspielhaus und Deutschem Theater Berlin vollen Uraufführungsschutz, geht zahm und treu mit ihm um, ironisiert sich nicht von ihm und den Figuren weg und vertraut auf dezenten, manchmal etwas mutlos wirkenden Minimalismus.

Das Gelubde 2 560 Tanja Dorendorf uVerkettet in Lebensmustern, aber was, wenn einer ausbricht? © Tanja Dorendorf

Dabei wird zwangsläufig deutlich, wie schwer es die Erzählpassagen des Anfangs haben, im wechselseitigen Sprechen der Figuren, die nebenbei noch jede Menge Mückengesurre und Papiergeraschele beisteuern, lebendig zu werden. Text und Inszenierung funktionieren eben am Besten dort, wo sie am Konventionellsten, am Unmodischsten sind. Nicht in den Augenblicken, in denen es um den Erweckten geht, der sich jedem Erklärmuster entzieht und eine provozierende Leerstelle bleibt, der weint, der sich nackt auf den Kirchboden wirft, aber doch hartnäckig behauptet, nicht auf Gottsuche zu sein. Was Buschs Text tatsächlich zu einem dramatischen Ereignis macht, ist seine Fähigkeit, an den Reaktionen der anderen die Parameter unseres eigenen, typischen Lebens- und Glücksverständnisses überdeutlich aufscheinen zu lassen.

Jenseits der Parteilichkeit

Auch hier: Keine Karikaturen, kaum Spießerklischees, stattdessen ernsthafte, glaubwürdige Auseinandersetzung, ein Nachhaken und Abfragen von dem, was uns wichtig ist, was wir brauchen, was in in uns rumort, von den Schuldkomplexen und Bedürftigkeiten, von Liebe und Besitz und Zusammengehörigkeit. Hinreißend ist es, wie Henrike Johanna Jörissen die schwangere Freundin erst lachen und dann sehr entschlossen und kühl werden lässt. Eine darstellerische Sensibilität, die noch übertroffen wird, wenn Miriam Maertens zur Perlenketten-Strickjackenmutter wird und einem schmerzenstief das Herz bricht. Auch Schnurrbartvater Milian Zerzaway rührt mit ungeschickter Autorität, lässt seine hilflosen Rationalitäten auf den Sohn niederprasseln und spricht schließlich diesen einen, furchtbare traurigen Satz aus, der alles andere zusammenfasst: "Man geht nicht, wenn man liebt."

Sehr leicht könnte all das in billigem Pathos versinken, noch leichter missverstanden werden als Aussteigerutopie, als Abrechnung mit westlicher Selbstgefälligkeit. Buschs Stück aber ist deshalb so bemerkenswert, weil es sich unentwegt verweigert, vor allem der Gewissensberuhigung. Weil es keine Parteilichkeit ermöglicht und zugleich so offen ist für das, was in den Gestalten vorgeht. Nicht nur in denen, die suchen, sondern in denen, die gefunden haben, die festhalten wollen und doch nur zusehen können, wie der verdammte Sand verrinnt. Und mahnt.

Das Gelübde
von Dominik Busch
Uraufführung
Regie: Lily Sykes, Bühne und Kostüm: Jelena Nagorni, Musik: David Schwarz, Licht: Daniel Leuenberger, Dramaturgie: Irina Müller.
Mit: Christian Baumbach, Henrike Johanna Jörissen, Miriam Maertens, Milian Zerzawy.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de
www.schauspielhauszuerich.ch

 

Kritikenrundschau

Christine Wahl von Spiegel-Online (26.6.2016) schreibt, Dominik Busch warte mit einer durchaus interessanten Grundidee auf. Nur leider drifte das, was er daraus mache schnell ins Klischee ab. "Dafür, dass Tims schwangere Verlobte Sara (Henrike Johanna Jörissen) nicht mit nach Afrika will, muss neben Standard-Erklärungen von der Sorte 'Meine Familie lebt hier, meine Freunde leben hier' allen Ernstes die unerfreuliche Erinnerung an eine Vogelspinne herhalten." Auch das übrige soziale Umfeld des Jungmediziners fühle sich von dessen rätselhaftem Gelübde unisono zu stereotypen Unverständnisäußerungen animiert.

Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (26.6.16) sieht die Krux des Stücks darin, dass der Protagonist jede Erklärung verweigere. "Alles bleibt reine Situationsbeschreibung: inhaltlich leer. Genau das ist die Schwäche des 'Gelübdes'. Eine artifizielle Hülle, die sich immer religiöser gibt."

"Wo die Dynamik der Veränderung nicht greift, zählt die innere Stärke, der Moment, sich zu erklären und etwas hinauszuschleudern. In neuen Theatertexten junger Autoren lässt sich das beobachten, auch in den drei Stücken, die von der Jury der Autorentheatertage als Siegerstücke ausgewählt", schreibt Simone Kaempf in der taz Berlin (27.6.2016). Die ausgewählten Texte zum Abschluss der Autorentheatertage auf die Bühne zu bringen gehöre mittlerweile zur guten Tradition. Bei den neu konzipierten Autorentheatertagen gibt es "statt Werkstatt-Inszenierungen längere Probenzeit und Kooperationen mit großen Bühnen in Zürich und Wien": "Ein richtiger Weg, an dem man mit Recht festhalten will."

Nicht nur der Protagonist, auch Buschs Text nehme "eine radikale Wendung", schreibt Mounia Meiborg in der Süddeutschen Zeitung (28.6.2016): "von einer Textfläche hin zum Drama." Im ersten Teil schaue der Protagonist "auf sein Leben wie ein Drehbuchautor. (...) Er wägt ab, kalkuliert, inszeniert. Im zweiten Teil ist all das weg." Die Regisseurin Lily Sykes und ihre vier Schauspieler machten "aus dem Text ein Theaterereignis". Jede Figur sei "nachvollziehbar, jede liebenswert. Und während man sich dem Sog des Abends ergibt, erscheint plötzlich nicht mehr ganz unmöglich: dass man an etwas glauben könnte, das größer ist als man selbst."

 


 

Kommentare  
Das Gelübde, Berlin: Mitreisende
Der Abend beginnt mit dem Rätsel: Vier Darsteller*innen betreten im Schein einer Öllampe die Bühne und sprechen rhythmisch immer nur eine Silbe, die sich nach längerem Hinören als zwei entpuppt: „tris“ und „tis“. „Tristis“ also, „traurig“ auf Lateinisch. Später entsteht daraus ein Choral: „Tristis est anima mea“ – „Traurig ist meine Seele“. Ein Vers aus dem Matthäusevangelium, von Jesus geäußert im Garten von Gethsemane, kurz vor seiner Gefangennahme. „Und ich werde gehen, um für euch geopfert zu werden.“, heißt es gleich darauf. Ein Opfergang wird hier angedeutet zu den Klängen einer Orgel am Bühnenrand. Sie steht für Spiritualität, der Rest des Bühnenbilds von Jelena Nagorni ist Vernunft und Realität, eine Tragfläche und ein Flugzeug-Corpus. Doch ist erstere nur angedeutet und bleibt letzterer Skelett. Die Wirklichkeit als leeres Konstrukt. Das mag plakativ erscheinen und wirkt hier doch nicht so. Viel zu unsicher wirkt dieser Abend – im besten Sinn: Er kennt keine Gewissheiten, tastet sich wie blind voran, während von der decke sanft der Sand rieselt. Die Welt als Schein, der Tod als Mahnung: Versatzstücke religiöser Welterklärung tauchen auf und bleiben doch fremd. Wenn kurz vor Ende Choräle am Fließband abgescungen werden, ist auch das nur ein Versuch, Sinn zu finden, ein Bedeutungsmuster zu erkennen und sei es ein selbstkonstruiertes.

Dieser Abend ist Versuch, wie es auch der Text ist, der mal Reportage ist (etwa in einer starken Passage, in der Tim beim Versuch scheitert, ein AIDS-krankes Kind zu retten), mal Bekenntnisprosa, mal Familiendrama. Eine Suchbewegung, die sich dem Anspruch, eine rationale Erklärung, einen greifbaren Sinn zu finden, verweigert und ihm im gleichen Moment anhängt. Der rationale Mensch kann nicht aus seiner Haut und doch ist er in der Lage, Irrationales zu tun. Wenn Tim am Ende zurück ist in Afrika im Zentrum der Hoffnung, wie das Krankenhaus auf Französisch heißt, ist seine Reise zu Ende und hat doch erst begonnen. Dominik Busch und Lily Sykes lassen uns ein Stück mitgehen. Und uns vielleicht bemerken, dass wir alle Mitreisende sind. Ein kleiner, stiller, minimalistischer, intensiver Abend. Eine kollektive Frage. Stellen wir sie uns. Immer und immer wieder.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/06/25/die-frage/
Das Gelübde, Berlin: Einwand Flugzeugabsturz
Wenn ich mir vorstelle, dass mein Mann, Liebster, Sohn, Vater meines zukünftigen Enkels usw. einen Flugzeugabsturz überlebt hat, hab ich k e i n e Fragen und keine Einwände mehr ihm gegenüber. Gleich, was er danach tut. Vielleicht, sehr hoch wahrscheinlich, habe ich dann Fragen und Gespräche mit seinem Vater, einer Freundin, Mutter, mit seinem Kind, mit Menschen, die nicht verstehen, dass ich keine Einwände habe, was immer er danach entscheidet zu tun... - Mit ihm selbst aber habe ich da keine seine Entscheidungen in Frage stellenden Gespräche mehr: Man stört eine Beziehung zwischen einem gegen jede Logik Überlebenden und seinem Geist, der das als Ereignis zu verarbeiten hat, nicht. Ich glaube, dass das jedes Tier und jedes Kind, jede Mutter, jede/r Lebenspartner/in usw. als stilles Wissen, als Respekt vor dem Unbekannten einer menschenliebenden Willkür, in sich trägt... Ich finde es aber dramatisch, dass man das nicht wissen kann am Theater oder als Dramatiker.
Das Gelübde, Berlin: Minus und Minus
Also da haben meine BegleiterInnen und ich wohl eine andere Veranstaltung besucht. Wir waren uns über Schwäche von Text und Regie ziemlich einig und fragten uns, ob es vielleicht besser wäre RegisseurInnen mit mehr Erfahrung und Stilsicherheit an solche Texte zu lassen. Als bspws J. Dröse vor 2 Jahren sich eines dieser Texte annahm sah man deutlich, wieviel entspannter und spielerischer so einem Text sinnvoll nahe zu kommen ist.

Hier hatte man immer den Eindruck , dass die Regie entweder viel zuviel will um sich zu zeigen oder eben zuwenig weiß als das dies dann gelingen könnte. Das tat dem ohnehin schon bemühten Text überhaupt nicht gut.

Schade. Minus und Minus ergibt dann eben doch nicht immer Plus.
Verpasste Chance.
Das Gelübde, Berlin: SZ
Plus und Plus in der Süddeutschen Zeitung:

http://www.sueddeutsche.de/kultur/autorentheatertage-teilen-wenn-es-der-mitteilung-dient-1.3053579
Das Gelübde, Berlin/Zürich: geteiltes Minus
Teile auch eher dieses minus
http://m.spiegel.de/kultur/gesellschaft/autorentheatertage-in-berlin-keine-ahnung-von-china-a-1099857.html
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