"Mutter, lügen die Förster?" - Judith Kuckart setzt sich mit "Die Judenbuche" von Annette von Droste-Hülshoff auseinander
Mehr als ein Sittengemälde
von Hartmut Krug
Havixbeck, 12. August 2016. Das Publikum sitzt in der Ecke eines weiten, u-förmigen Raumes mit mächtigen Balken und einem Sandboden. In dieser "Vorburg" mag einst Vieh gestanden haben, hier, wo der Ort für die einfachen Leute war, von denen Annette von Droste-Hülshoff in ihrer Novelle "Die Judenbuche" von 1842 erzählt. Irgendwo im weiten Halbrund hackt jemand Holz oder es wird der Sand gerecht, - Anspielungen auf Ereignisse in Lebensgeschichten von einzelnen Figuren. Aus einer kleinen Schauspielerinnenschar heraus treten immer wieder einzelne Darstellerinnen vor das Publikum. Sie erzählen mit dem Text der Droste zum Beispiel vom Leben des Friedrich Mergels, der vielleicht zu einem Mörder geworden ist. Das tun sie oft, indem sie den Text der Autorin als Erzählerinnen vortragen, manchmal aber auch, indem sie einzelne Figuren unaufgeregt spielerisch gestalten. Dieser beständige Übergang von nacherzählter zu nachgespielter Geschichte, wobei das Zitieren vor jedem Verkörpern kommt, schafft eine ganz eigene, zugleich realistische wie unwirkliche Poesie von hoher Künstlichkeit. Wozu außerdem ein Orchester aus Kindern und Jugendlichen mit seinen Blas- und Streichinstrumenten wunderbar beiträgt, das sich immer wieder durch den Raum bewegt.
Von Mord und Gnadenbrot
Drostes "Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen" zeigt eine Gemeinschaft, die sich ihre eigenen Begriffe von Recht und Unrecht geschaffen hat. Sie kennt viel Elend, viel Unrecht und manche Gewalt. Der neunjährige Friedrich, dessen Vater als Säufer in einer Winternacht im Wald umkam, wurde von seiner Mutter seinem Onkel zur Pflege und als Gehilfe übergeben. Friedrich aber geriet, gemeinsam mit seinem Alter Ego und Doppelgänger Johann Niemand, dem Schweinehirten seines Onkels, auf eine schlimme Bahn. "Das kommt alles von früher, als man Kind war", heißt es.
0b Friedrich zum Mörder an einem jüdischen Geldverleiher oder nur zum Mitwisser des Mordes wurde, bleibt offen. Jedenfalls verschwindet er aus dem Ort und kehrt nach 28 Jahren als gebrochener Mann zurück. Er fristet ein Gnadenbrot, bis er erhängt in der Judenbuche gefunden wird, in dessen Rinde nach dem Mord am Geldverleiher Aaron auf hebräisch eingehauen stand: "Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast."
Judith Kuckarts Inszenierung wird bestimmt von einer räumlichen wie inhaltlichen Zweiteilung und der Spiegelung von Haltungen und Ereignissen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, Menschen und Ereignissen. Die intelligente Inszenierung kann sich auf souveräne und zurückhaltende Schauspielerinnen verlassen, die mit dem Publikum in drei Gruppen von Spielort zu Spielort wandern. Im Vorraum der Vorburg erfährt man von Vergänglichkeit und den Requisiten der Geschichte und hört unter anderem, dass die Jungen geflohen sind, Friedrichs Mutter verwirrt zugrunde ging und der Holzfrevel immer schlimmer geworden sei.
Verregnete Wirklichkeit
Dann geht es hinaus in den Park, leider durch einen Dauerregen, hinüber ins Schloss. Hier, wo die adlige Annette von Droste Hülshoff geboren und aufgewachsen ist, sitzt das Publikum im Esszimmer unter einer Unmenge von alten Porträts. Unter Annettes Porträt sitzt eine Schauspielerin, die über die Autorin nachdenkt. Wer war sie eigentlich? Was und wie hat sie geschrieben, welche Haltung hat sie zu ihren Personen gehabt? Viele Fragen, viele Antworten, nichts genaues erfährt man von der Darstellerin, die das Publikum öfter direkt anspricht. Dieser Versuch, sich direkt mit eigenem Text fragend ans Publikum zu begeben, gelang leider nicht sonderlich.
Ein toller Schlusseffekt wäre dann draußen im Park die Versammlung vor einem riesigen, erleuchteten Baum gewesen, leider keine Buche. Doch der Regen trieb das Publikum und das Ensemble schnell wieder ins Haus. Dennoch: Insgesamt ein anregender Abend, der zeigte, dass Drostes Erzählung "Die Judenbuche" nicht nur eine Kriminal- und Sozialgeschichte ist, sondern subtil auch Fragen nach der Darstellung und Wahrnehmung von Wirklichkeit stellt. Was auch der Titel der Inszenierung belegt, – ein Zitat aus dem Stück.
Mutter, lügen die Förster?
von Judith Kuckart
nach "Die Judenbuche" von Annette von Droste-Hülshoff
Regie: Judith Kuckart, Komposition: Annalisa Derossi, Ausstattung: Martin Rottenkolber, Dramaturgie: Sibille Hüholt, Produktionsleitung: Susanne Berthold.
Mit: Svea Auerbach, Annalisa Derossi, Paula Dombrowski, Claudia Spörri, Kathrin Steinweg, Isabel Zeumer, Josephine Schumann, Thekla Schulze Raestrup, Rainer Becker und Schülerinnen der Musikschule Havixbeck (Bühnenmusik).
Aufführungsort: Burg Hülshoff.
Spieldauer: 1 Stunde, 50 Minuten ohne Pause
www.burg-huelshoff.de
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