Menschen und Geschöpfe sind zweierlei

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 14. August 2016. Gleißend. Das Wort greift noch viel zu kurz für die überrumpelnde "Lichtüberflutung an der zapfendustersten Stelle in Thomas Bernhards "Der Ignorant und der Wahnsinnige". Gerade dort, wo der Arzt befindet: "Das Licht ist ein Unglück". Diese Stelle – ein paar Sätze lang nur – hat bei den Salzburger Festspielen 1972, bei der Uraufführung des Stücks, einen Skandal sondergleichen entfacht. An der lapidaren Anweisung "die Bühne ist vollkommen finster" und am Nein der Feuerpolizei dazu (sie beharrte auf dem Nicht-Ausschalten des Notlichts), scheiterte damals die Aufführungsserie. Claus Peymann, der das Lichtabdrehen zur Regie-Chefsache erklärt hatte, stand in der Premiere vor versperrtem Elektro-Kasten. Es gab dann aus Protest keine weiteren Aufführungen mehr (nur mehr eine halböffentliche Fernsehaufzeichnung).

Gerd Heinz und sein Ausstatter Martin Zehetgruber lösen die Angelegenheit nun am selben Ort, dem Salzburger Landestheater, mit einer wahren LED-Orgie. Hunderte Lichter müssen es sein. Nach Hochfahren der Spiegelwände tauchen sie die Finalszene, in der die Königin mit dem Schrei "Erschöpfung nichts als Erschöpfung" über dem Tisch zusammenbricht, ins blendend Irreale.

Taghell in der Pathologie

Ähnlich kalt-überhell ist es vielleicht in der Pathologie, wo der ohne Punkt und Komma dozierende Anatom sonst seines Amtes waltet. Jetzt freilich ist er, der Wahnsinnige, zuerst in der Garderobe der Sängerin und dann mit ihr zum Dinner in den "Drei Husaren", wo man tunlichst Zwiebelrostbraten oder Beefsteaktatar bestelle. Letzteres zerdrücken die drei (immer dabei: der blinde Vater der Sängerin), während der Doktor pausenlos vom Sezieren redet und lustvoll mit dem Messer in die Luft sticht wie mit einem Fetisch der Welt- und Geistesanalyse.

Sven-Eric Bechtolf ist der Arzt/der Wahnsinnige. Bang braucht ihm nicht zu sein, wenn er in zwei Wochen nicht mehr Intendant der Salzburger Festspiele ist. Nach dem Erlernen dieses Textes hat er schon viel vom Rüstzeug für die Pathologie intus. Für jene, die mit Bernhard nicht ganz so intim sind: Die langen Abschnitte übers fachgerechte Menschenzerstückeln hat der Dichter einem universitären Skriptum entnommen, das die Methode des Anatomen Carl von Rokitansky aus dem 19. Jahrhundert beschreibt.

Der Ignorant und der Wahnsinnige1 560 Ruth WalzBlumenmeer: Der Anatom (Sven-Eric Bechtolf) in der Künstlergarderobe in "Der Ignorant und der
Wahnsinnige" © Ruth Walz

Thomas Bernhard hatte mit seinem Halbbruder Peter Fabjan eine Vorlesung besucht und war beeindruckt von dem feinsinnigen Schwall an Fachbegriffen. In "Der Ignorant und der Wahnsinnige", wo es ganz wesenhaft ums Scheitern der Kunst an ihrem eigenen überhohen Anspruch geht, kam diese wissenschaftliche Suada als lebhafter Kontrapunkt gerade recht.

Outrieren bis zum Angriff

Sven-Eric Bechtolf also lässt die allemal für skurrile Wendungen und entsprechende Publikums-Lacher taugliche Anhäufung medizinischer Begriffe auf der Zunge zergehen, mit schnalzenden S- und Z-Lauten und kräftigen untermalenden Gesten, so als ob er dem Text und seiner Wirkung abgrundtief misstraute. Bernhards Menschen- und Systemkritik ist da ja wie in burlesken Einsprengseln eingeknüpft. Man mag im ersten Teil Bechtolfs expressives Wort-Spiel als outriert empfinden, aber es gelingt ihm nach der Pause quasi eine 180-Grad-Drehung, wenn plötzlich das Gallige, das Angriffige durchschlägt. Kinder und Narren, auch Wahnsinnige sagen die Bernhard'sche Wahrheit ...

An seinen Lippen hängt Christian Grashof als Vater der Sängerin. Mit Fingen und Händen zeichnet er nach, was er vor dem blinden Auge zu sehen meint, mit den Lippen formt er die Rede des selbsternannten Anatomie-Kunstmenschen nach. Wie aufgestaut platzen die einzelnen Wörter und Sätze aus ihm heraus. Das muss einer auf Langstrecke so konsequent und dicht durch kriegen!

Der Ignorant und der Wahnsinnige2 f c SF Ruth WalzBeim Nachtmahl darf sie Schwäche zeigen: Annett Renneberg als Königin der Nacht © Ruth Walz

Annett Renneberg ist die Königin der Nacht, die "Koloraturmaschine", wie es im Text vermeintlich so diffamierend heißt. An dieser Figur und ihrer Interpretation aber wird deutlich, was für hohen Respekt Thomas Bernhard vor Sängern und anderen Künstlern hatte. Auch wenn ihm keine Kunst heilig gewesen zu sein scheint. Jedenfalls nicht der Umgang mit ihr.

Gier nach Ikonen

Annett Renneberg setzt auf stimmliche Differenzierung. In der Szene in der Künstlergarderobe schleudert sie ihre Sätze wie ent-menschlicht heraus, kalt und rauchig, um immer und immer wieder die glockenhellsten Koloraturen anzusetzen. Schließlich steht der Auftritt der sternenflammenden Königin unmittelbar bevor. Dann, beim Diner, wird sie sich menschlich geben, momenthaft fast herzlich – und damit angreifbar, verletzlich. Ihr erbarmenswertes Husten will ja keiner der Männer hören, schon gar nicht der Arzt, der sich ein letztes Mal handfest in die Anatomie des männlichen Unterleibs hinein steigert.

Vom Kleid der Königin der Nacht muss man auch reden! Der sommerliche Festspiel-Boulevard giert ja nach Ikonen. Der Styropor-Elefant in Mammutgröße und der lebende Esel in Richard Strauss' "Liebe der Danae" sind heuer solche Bewunder-Dinge, so wie das Swarowsky-kristallbesetzte Kleid der Anna Netrebko für eine konzertante Opernaufführung (angeblich das teuerste der Festspielgeschichte) – und eben das Kostüm der Königin, das so recht zur Geltung kommt, wenn Annett Renneberg die hohe Stufe hinauf steigt zum links und rechts von einem Blumenmeer umgebenen Schminktisch und kurz wie eine Statue in Rückansicht verharrt. Wie eben der Arzt sagt: "Menschen und Geschöpfe sind zweierlei" ... und erst Kunst-Geschöpfe!

Der Ignorant und der Wahnsinnige
von Thomas Bernhard
Regie: Gerd Heinz, Bühne: Martin Zehetgruber, Kostüme: Jan Meier, Licht: Friedrich Rom.
Mit: Annett Renneberg, Christian Grashof, Sven-Eric Bechtolf, Barbara de Koy, Michael Rotschopf.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.salzburgerfestspiele.at

 

Mehr zu Inszenierungen von Der Ignorant und der Wahnsinnige der jüngeren Zeit: Am Burgtheater Wien inszenierte Jan Bosse das Stück im Dezember 2012, und Burghart Klaußner 2008 am Schauspielhaus Bochum. 

 

Kritikenrundschau

Es gebe "ein bisschen Zeitungsschelte" und es werde "auch ein wenig Unflat über den Theater- und Opernbetrieb ausgekippt". Doch wirke das inzwischen längst kanonisiert, "so geht es halt zu bei Bernhard, und spätere Stücke und Texte von ihm haben darin eine ganz andere Schärfe", schreibt Egbert Tholl in der SZ (16.8.2016).  Bechtolf sei umgeben von Stichwortgebern, die sich irgendwo zwischen Charge und Einfalt bewegen. "Bechtolf macht jedes einzelne Wort zum Ereignis, er formt Sprache, ist präzis in deren Temperaturschwankungen, er knarrt ein bisschen, näselt ein wenig, er ist richtig gut und doch kaum mehr als der beste Aufpasser in einem Thomas-Bernhard-Museum."

"Eine keineswegs aufregende oder gar bahnbrechende Inszenierung liefert Gerd Heinz heuer hier ab." Das Drama werde dadurch ebenso wenig interessanter, zeigt sich Martin Lhotzky von der FAZ (16.8.2016) enttäuscht. Sven-Eric Bechtolf rede als irrer Mediziner an diesem Abend alle an die Wand, "nichts und niemand kann ihn stoppen". Weder Christian Grashof noch Annett Renneberg würden es  wagen, ihm den geringsten Widerstand entgegenzusetzen. Ein matter Abend, "Bernhards Aufreger sind halt in die Jahre gekommen. Vierundvierzig Jahre, um es genau zu sagen. Andere schauen da im selben Alter deutlich besser aus."

Sven Ricklefs vom Deutschlandfunk (16.8.2016) findet, Bechtolf spiele seinen Arzt mit einem so überzeichneten Gestenrepertoire und so auf Pointen, "dass er das Stück nah an den Boulevard zerrt, was dieses wiederum auch nicht verdient hat". "Dabei hat er in dem Regisseur Gerd Heinz wohl kein wirkliches Gegenüber gehabt. Der jedenfalls verschwindet so unsichtbar in einem bloßen Arrangement, dass Bechtolf eindeutig den Ton angegeben hat und die anderen Spieler ihm gefolgt sind." Das sei eigentlisch schade, hätten die drei guten Schauspieler doch "ein wirklich gutes und vor allem für ein Heute relevantes Stück verdient und auch einen guten und vor allem starken Regisseur".

Hedwig Kainberger von den Salzburger Nachrichten (16.8.2016) schreibt: "Regisseur Gerd Heinz hat rund um das Bechtolf'sche Solo eine behutsame Inszenierung gebaut, die konsequent erfüllt, was Thomas Bernhard anweist." Bechtolf ziehe alle Register seiner Stimme und mache seinen Körper zu einem in allen Schattierungen von Angst, Zorn, Begehren oder Mitleid schwingenden und bebenden Instrument. Christian Grashof erfülle überzeugend die Rolle des zürnenden, ignoranten Vaters. Annett Renneberg sei eine recht harmlose Königin, allerdings mit aparter Singstimme.

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