Im Brennstofflager

von Gerhard Preußer

Dortmund 16. September 2016. In Frankreich ist "Ça ira (1) Fin de Louis" das Stück des Jahres. Es kam im November 2015 genau zum richtigen Zeitpunkt nach Paris, unmittelbar nach den Attentaten, nach den Auseinandersetzungen um das neue Arbeitsrecht, nach "Nuit Debout". Alles rief nach der Stärkung französischer Identität. Und die Revolution von 1789 ist für jeden Franzosen und jede Französin der Referenzpunkt des nationalen Selbstverständnisses. Joël Pommerat zeigte sie ihnen, die Revolution von gestern  wie von heute.

Aus Protokollen der Nationalversammlung 1789

Hybrides Histotainment quillt aus allen Fernsehkanälen. Und Ariane Mnouchkine hat mit "1789" schon vor über vierzig Jahren aus der Revolution ein zirzensisches Spektakel gemacht. "Ça ira" aber ist auf die Debatte konzentriert. Die Schauspieler und Schauspielerinnen erhielten das historische Rohmaterial für ihre Rolle: Protokolle der Nationalversammlung von 1789, Briefe und Tagebücher der Abgeordneten, Flugschriften der Zeit. Dies war der "Brennstoff" für Improvisationen. Geschichte als Verbrennungsmotor, als Antriebsaggregat für die Gegenwart.

Die Texte folgen dem historischen Verlauf der Anfangsphase der Revolution ziemlich genau, sind aber in der Wortwahl ganz heutig. Kein Name, außer dem des Königs, entspricht einem historischen. Die Bastille ist nur das "Zentralgefängnis". Oft liegen mehrere Schichten von historischer Rhetorik und gegenwärtigen Assoziationsfeldern übereinander. Wie entsteht eine Revolution durch eine Versammlung, die nur das bestehende System optimieren will?

Triumph 01 560 c Birgit HupfeldDie Revolution grüßt im Liveticker: Carolin Hanke und Björn Gabriel. In der Projektion: Merle Wasmuth © Birgit Hupfeld

Pommerat zeigt, wie die ewigen politischen Probleme von Macht, Repräsentation, Ungleichheit, Sicherheit und Freiheit in der französischen Revolution durchdiskutiert wurden. Er zeigt, wie heutige Probleme in der Vergangenheit wiedergefunden werden können. Staatsverschuldung, Steuergerechtigkeit, das allgemeine "Bedürfnis nach Wertschätzung heutzutage": Doch wo liegt dieses Heute? Jeder Blick auf die Vergangenheit ist unhintergehbar perspektivisch. Es sind die Probleme der Postdemokratie, die Pommerat schon in der Entstehung der Demokratie wiederfindet.

Auseinandersetzung um die Aufführungsrechte

Der blecherne deutsche Titel ergab sich aus der Auseinandersetzung mit Pommerats deutschem Verlag. Die 4 ½ Stunden französischer Revolutionsdebatte wollte man in Dortmund den Deutschen nicht zumuten und kürzte das Ganze auf ein erträgliches Dreistundenmaß. Dafür musste man nach dem Willen des Verlags und des Autors auf den originalen Titel und auf die Ehre der Bezeichnung "Deutschsprachige Erstaufführung" verzichten. Gespielt wird im "Megastore", der Ausweichspielstätte, in der das Dortmunder Schauspiel nun bis Ende dieser Spielzeit bleibt, weil sich die Renovierung des Schauspielhauses verzögert.

Um die französischen Identitätsdiskurse dem deutschen Publikum nahezubringen, trifft die Inszenierung Ed. Hauswirths zwei plausible Entscheidungen: Im kleinen Bühnenraum sitzen die Zuschauer auf zwei Tribünen um eine quadratische Spielfläche herum: so nahe am Geschehen wie möglich (Bühne: Susanne Priebs). Und oben auf allen vier Seiten des Quadrats flimmern Videobilder, die das Geschehen außerhalb der Nationalversammlung wie in einer Liveschaltung in den Raum integrieren: so nahe an der Gegenwart wie möglich (Videos: Voxi Bärenklau).

Doch diese Bilder werden konterkariert durch halbherzige Symbolismen. Das schachbrettartige Spielflächenkarree ist gefedert, wackelt bei jedem Schritt, wird aber nur zur allgemeinen Verbildlichung der Unsicherheit aller Positionen verwendet. Die Kostüme sind angedeutet historisch oder, wie im Fall der Königin, schrill übertreibend satirisch (Kostüme: Vanessa Rust).

Mit Gekreisch und Wende-Floskeln

So erhält das Stück doch wieder eine exotische Seltsamkeit, die durch die exaltierte Spielweise der Schauspielerinnen und Schauspieler noch verstärkt wird. Die Rede der Königin (im Original der Abgeordneten Versan de Faille), die wunderbar von beiläufiger Ironie zu konterrevolutionärer Wut und mit houllebecqschen Untertönen in den Aufruf zum Bürgerkrieg übergeht, wird mit hochfahrendem Gekreisch und wildem Röckeschwingen verspielt.

Triumph 02 560 c Birgit HupfeldIn der Videokunst von Voxi Bärklau: Björn Gabriel, Caroline Hanke, Merle Wasmuth © Birgit Hupfeld

Der Dortmunder Sprechchor verwischt zunächst als Wahlversammlung die Grenze zwischen Schauspielern und Publikum, darf dann aber nur noch stumm oder chorisch, aber gleich ausdruckslos, das Volk von Paris mimen. Die anfangs eingestreuten Verweise auf die deutsche Revolutionsgeschichte (Schabowskys "Ab sofort, soweit ich weiß" wird zitiert und der Leipziger Originalton "Wir sind das Volk" darf auch nicht fehlen) versickern und wären auch nicht ausreichend, um die Relevanz der Debatten für hier und heute zu zeigen.

Dem verblendeten Schlusssatz des Königs "Das schaffen wir schon" ("Ça ira") kann man auf die Inszenierung gewendet nur hinzufügen: "Aber wie!"

 

Triumph der Freiheit #1
Bearbeitung nach dem Theaterstück Ça ira (1) Fin de Louis (La Révolution #1)
von Joël Pommerat
Aus dem Französischen von Isabelle Rivoal
Regie: Ed. Hauswirth, Bühne: Susanne Priebs, Kostüme: Vanessa Rust, Komposition: T.D. Finck von Finckenstein, Director of Photography: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Alexander Kerlin.
Mit: Uwe Rohbeck, Friederike Tiefenbacher, Caroline Hanke, Lukas Gander, Raafat Daboul, Andreas Beck, Sebastian Kuschmann, Björn Gabriel, Merle Wasmuth, Uwe Schmieder, Marlena Keil und dem Dortmunder Sprechchor.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theaterdo.de

 

Kritikenrundschau

"Hauswirth blickt weniger auf die Inhalte als auf die Mechanismen von Machtausübung. Und gerade dieses analytische Moment macht die Produktion spannend", schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (19.9.2016). Hauswirth suche in der Chronik der Revolution immer wieder das Lehrstück, aber ohne Dogmatismus. "Er entstellt die Prozesse zur Kenntlichkeit, das Wegmobben des politischen Gegners, die verlogene Entrüstung des 'Das wird man doch noch sagen dürfen'", so Stiftel: "Dieses starke Drama zeigt in der Revolution auch das deutsche Heute."

"Die Regie schafft es in dieser Bearbeitung zwar, sich weitgehend an den Dialogen der Vorlage zu orientieren, trotzdem aber hat man hier fast nie den Eindruck, dass sprödes Papier abgearbeitet wird", lobt auch Arnold Hohmann in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (19.9.2016). Die Feder-Bühne künde ein wenig zu deutlich von Schwanken und Absturzgefahr. "Und wenn man schon derart auf Video setzt, dann sollte man endlich auch versuchen, den live produzierten Greenscreen-Bildern, die um die Köpfe der Zuschauer fliegen, sprachlich Synchronität zu verleihen." Die elf Schauspieler des starken Ensembles hingegen seien ganz synchron mit ihren Figuren, "vor allem Björn Gabriel bleibt als Zerrbild eines dekadenten Adligen in Erinnerung."

 

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