Kolumne: Als ich noch ein Zuschauer war - Wolfgang Behrens bringt alle Voraussetzungen mit, Nachfolger von Frank Castorf zu werden
Und was ist mit mir?!
von Wolfgang Behrens
23. September 2016. Vor einer Woche hat der Berliner Noch-Kulturstaatssekretär Tim Renner in einem Interview mit der taz die eigentliche Kernkompetenz benannt, die zur Berufung eines Nachfolgers von Frank Castorf im Amt des Volksbühnen-Intendanten geführt hat: Der Kandidat musste Christoph Schlingensief persönlich gekannt und mit diesem gearbeitet haben, und zwar möglichst früh. Am besten noch vor Frank Castorf! Wie Tim Renner darauf kam, dass eben dieses Kriterium für Chris Dercon spreche – weil dieser angeblich "bereits vor Frank Castorf mit Christoph Schlingensief inszeniert und ihm eine Plattform geboten" habe – wird allerdings sein Geheimnis bleiben.
Vielleicht hat Renner ja seinen Amtsantritt als Kulturstaatssekretär als den Beginn des wahren Kulturlebens in Berlin interpretiert und glaubt daher, Castorf sei auch erst seit 2014 an der Volksbühne. Da hat er sich aber um ein paar Jahrzehnte verschätzt.
Wie dem auch sei: Unter Zugrundelegung des Schlingensief-Kriteriums muss die Angelegenheit Volksbühnen-Intendanz ohnehin neu aufgerollt werden. Ich möchte hierbei nicht zuletzt mich selbst ins Spiel bringen. Denn als ich noch ein Zuschauer war, machte Thomas Aurin im Prater der Volksbühne das folgende Foto. Das Foto ist schwarz-weiß, weil es noch aus der Zeit vor der Erfindung der Farbfotografie stammt, aus dem vergangenen Jahrtausend nämlich. Aus einer Zeit also, als Frank Castorf vermutlich noch in der DDR wohnte und Chris Dercon noch nicht einmal wusste, wie man "Tate Modern" buchstabiert.
Was hat es mit diesem Bild auf sich? Nun, es wurde in der Nacht vom 20. auf den 21. Mai 1998 (das muss, hmmmm, mal überlegen … während der Intendanz von Erwin Piscator gewesen sein?) bei Schlingensiefs Wahlkampf-Aktion "Hotel Prora" aufgenommen. Es zeigt Christoph Schlingensief (er ist noch so jung, dass man ihn kaum erkennt, aber das "Chance 2000"-T-Shirt verrät ihn) und mich (in einer schicken Trainingsjacke mit abknöpfbaren Ärmeln), wie wir gemeinsam den berühmten Turnchor ("Was hat man uns da heute auf die Türschwelle gelegt, das bewegt sich ja noch, das tropft …") aus Reinhard … äh, wie heißt er gleich? ach ja: Einar Schleefs Inszenierung von Elfriede Jelineks "Ein Sportstück" performen. Ich habe also nachweislich vor Chris Dercon mit Schlingensief gearbeitet und bin somit der legitime Nachfolger Frank Castorfs. Zumal ich außerdem schon am 31. August 1997 auf der Kasseler documenta jemanden getroffen habe, der wusste, dass Schlingensief verhaftet wurde. Alles klar?
Swantje – du oder ich?
Doch ich will ehrlich sein: Der Schein trügt. Nicht mir und auch nicht Christoph Schlingensief oblag bei der abgebildeten Mitternachts-Session die Leitung, sondern der blonden Dame rechts neben Schlingensief: der Schauspielerin Swantje Henke. Sie gastierte damals mit dem "Sportstück" im Rahmen des Theatertreffens in Berlin und war nach einer der Vorstellungen noch ins "Hotel Prora" geeilt, um dort mit Schlingensief und den anwesenden "Hotelgästen" spontan den Schleef-Chor einzustudieren. Es ist also Swantje Henke, der die Ehre zukommt, Schlingensief bereits 1998 mit dem Schleef'schen Turnchor "eine Plattform geboten" zu haben, und ich bin daher gerne bereit, ihr den Stuhl der Volksbühnen-Intendantin zu überlassen.
Der wahre Thronfolger
Nun muss man natürlich damit rechnen, dass Swantje Henke den Bettel bereits hinschmeißt, bevor sie ihr Amt überhaupt angetreten hat – dem Vernehmen nach versteht die Volksbühnen-Mannschaft ja bei designierten Intendanten keinen Spaß. Es wäre also für den Fall des Falles noch jemand zu suchen, der mit Schlingensief vielleicht noch früher als Swantje und ich gearbeitet hat und der zugleich genügend Humor und Beharrungsvermögen aufweist, um mit dem marodierenden Volksbühnen-Ensemble klarzukommen. Das erweist sich als eine nicht allzu schwer zu lösende Aufgabe, und man muss Tim Renner schon vorwerfen, dass er seine Hausaufgaben nicht gerade gut gemacht hat. Hätte er ein wenig recherchiert, wüsste er, dass der nächste Volksbühnen-Intendant nur jemand sein darf, der bereits in Schlingensiefs Filmen aus den 1980er Jahren mitgewirkt hat. Nun denn, Herr Renner! Verhindern Sie das Schlimmste: Jagen Sie Dercon zu den Kuratoren! Ernennen Sie Helge Schneider! Nur er kann die Volksbühne retten.
Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist Redakteur bei nachtkritk.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne Als ich noch ein Zuschauer war wühlt er in seinem reichen Theateranekdotenschatz – mit besonderer Vorliebe für die 1980er und -90er Jahre.
Zuletzt berichtete Wolfgang Behrens von einem Streit mit Andrea Breth
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
Was allerdings das Foto schönstens beweist und für Behrens wie alle anderen abgebildeten Leute eher als für Dercon spricht: Früha, da habn Theatertreffen und ähnliche Festivals noch spontane gemeinsame Nachtaktionen mit echten künstlerischen Nebeneffekten generieren können, heute erschöpft sich das Beiprogramm in ästhetisierenden Sonntagsreden oder kunstpädagogischem Rumgefummel!
Der Vorschlag von Wolfgang Behrens ist sehr begrüßenswert. Helge Schneider als Intendant der Volksbühne. Darauf wäre zu hoffen.
Fairerweise sollte aber ein Trio an die Spitze der Volksbühne:
1986 hat Schlingensief mit Tilda Swinton "Egomania - Insel ohne Hoffnung" gedreht.
Außerdem war er Aufnahmeleiter der "Lindenstraße".
Deshalb ist Chris Dercon verpflichtet, Tilda Swinton, Helge Schneider und "Mutter Beimer" Marie-Luise Marjan die gemeinsame Leitung der Volksbühne zu übertragen!
Was, wenn Tim Renner vielleicht gar nicht wusste, dass die Volksbühne ein Theater ist und sie für ein Museum gehalten hat?
Diese Möglichkeit wurde in der Debatte bisher noch gar nicht in Betracht gezogen. Und allmählich häufen sich die Indizien dafür...
Nicht auszudenken, was geschieht, wenn Tim Renner rauskriegt, dass im Hamburger Bahnhof gar keine Züge halten. Und das der in Berlin ist. Womöglich wird Peymann dann dort Intendant...
Das ist aber mal eine Kolumne nach meinem Geschmack.
Ich weiß zwar nicht, ob der Thomas Thieme schon sehr früh mit Christoph Schlingensief zusammengearbeitet hat, aber er konnte mit „Punk-Frank“ Castorf UND Claus Peymann UND (vor allem) mit Luk Perceval. Und er wollte auch mal Intendant werden, aber nicht in Berlin. Bitte gebt ihm auch eine Chance, wenn nicht als Intendant, dann wenigstens in einer – von mir aus kleinen – Rolle in der letzten Spielzeit vom Punk-Frank. Die Irm Hermann darf das doch auch. Und will sie womöglich auch Intendantin werden? Sie war – und das ist noch wichtiger als Christoph Schlingensief – ziemlich eng mit Rainer Werner Fassbinder, der die Volksbühne auch verdient hätte, aber leider…
Aber der Luk Perceval wäre natürlich auch ein guter Intendant für die Volksbühne.
Der Slim-Tim tat ja so, als würde er sich im Theater auskennen, aber tut er das?
ist ja schon ok. Renner, die Witzfigur et al. leider Teil eines Chores der kurzsichtigen Theaterversteher, Megainsider und Kantinenlauscher. Diesmal wenigstens mit Humor.
Check mal das: Weder unter Flierl noch unter Schmitz/Wowereit ist in dieser Stadt irgendetwas für die freie Szene passiert, was über 0-Runde hinausging.
Nun verdoppelt sich in den vergangenen 2 Jahren der Etat für die freie Szene, alle großen Häusern erhalten neben dem Lohnsteigerungsausgleich noch Millionenbeträge für das "strukturelle Defizit".
Die permanent beklagte fehlende Großaufgabe für Sasha Waltz wird noch erledigt, bevor die Kulturstrategen der Grünen und der Linken mit absurden Ideen dazwischenfunken.
Renner hat bei der Kommunikation zu Dercon und Waltz Fehler gemacht, für beide Entscheidungen gäbe es auch gute Gründe. Die würde ich auch gerne einmal hören. Aus seinem Munde. Aber das dauernde Gebashe nervt einfach.
Wohin führt das jetzt? Zu einem weiteren Schleudersitzkandidaten aus Reihen der Grünen oder der Linken, der/ die sich in der Dauerauseinandersetzung mit dem Regierenden Bürgermeister selbst weichkocht. Warum werden bei NK nie die guten Aktionen der Kulturverwaltung benannt, sondern immer nur auf einer Stelle rumgeprügelt?
Die Liste der erfolglosen Kultursenatoren ist zu lang - das man sich davon einen weiteren wünscht.
Und ewig auf der Neoliberalismusklaviatur rumklimpern ist ganz schön öde, ausser wenn ihr mal Herrn Peymann dabei erwischt, wie er seine eigenen Mitarbeiter auf die mieseste Art ausbeutet und im Stich lässt. Als Kronzeuge gegen Renner ist er euch aber noch gut genug.
Oh ja. Das sind sie nicht allein. Ich auch. Und nicht nur ich! Leider war dazu bislang nichts zu hören. Dafür jede Menge öffentliche Statements voller Besserwisserei (u. a. Stichwort "radikaler Neuanfang"), Kaltschnäuzigkeit (u. a. Stichwort "schofelig"), Überheblichkeit (u. a. Stichwort Geburtstagsgratulation) und Fadenscheiniges (u .a. Stichwort "lange Amtszeit"). Der Punkt IST, dass nicht nur die Kommunikation falsch gelaufen ist, sondern von vornherein nicht erkannt wurde, dass es INFORMIERTE Expertise braucht statt Hauruckaktionen à la Gutsherr aus dem eigenen Gehirnkasten. Besser wäre gewesen ... (Stichwort Ivan Nagel).
Solange es bei der Fadenscheinigkeit bleibt, ist das, was Sie als Bashing bezeichnen doch keine Überraschung. Kreuzfeuer der Kritik wäre etwas martialischer, aber wohl zutreffender. Und in den vielen pointierten Äußerungen der Kritik steckt wohl unabweislich überaus viel Substanz. Mehr als in der benannten Fadenscheinigkeit jedenfalls.
"Die Liste der erfolglosen Kultursenatoren ist zu lang - das man sich davon einen weiteren wünscht."
Ist sie das? Wer steht denn da drauf?
die liste der ehemaligen natürlich.
Der frische Wind im Haus kommt zur richtigen Zeit, Regisseur/-innen, die nicht zu den Top 4 dort gehörten, verschwanden schnell wieder aus dem Repertoire. Sogar die "120 Tage von Sodom" (Kresnik), das in der letzten Spielzeit gar nicht mehr gezeigt wurde, obwohl es davor stets ausverkauft war, ist nun verschwunden. Auch junge Handschriften waren wenig vertreten in den letzten Jahren, die Pollesch-Fritsch-Marthaler-Castorfisierung war einfach zu dominierend, bei Anderen konnte das Publikum wohl nichts mehr anfangen. Nun ist's Zeit für 'nen Neuanfang und ich freue mich drauf!
"lieber wolfgang, oohh ich würde sehr gerne intendantin der volksbühne werden und wäre natürlich sofort bereit, dieses amt mit dir zu teilen ... und vielleicht noch mit dem jungen mann, der im hintergrund des schönen fotos zu sehen ist, meinem damaligen freund tino ... liebe grüße, swantje"
PS Es mag Leute geben, die in Tino sogar einen recht bekannten Künstler erkennen, der heute jedoch deutlich anders frisiert ist.