Zeugen mit Tunnamüts

von Daniel Di Falco

Bern, 27. April 2008. Vorher die Telefone aus. Und zwar ganz. Vorne auf der Bühne, in der aufgeklappten, fichtengetäfelten Wand, zwischen Sitzschemeln und einem Hüttenofen, geht es sowieso bald lauter zu, als dass man noch ein Klingeln hören könnte. Doch die Telefone stören den Funkverkehr zwischen dem Kopfhörer, den jeder Zuschauer hier bekommt, und der Simultanübersetzerin: Es geht sehr estnisch zu und her.

"Jetzt setzen wir den alle mal auf", und da hat man Irja Grönholm im Ohr, die Dolmetscherin, die die folgenden zweieinhalb Stunden alleine schmeisst. Zwangsläufig verdünnt die Übersetzung das Erlebnis, doch dass der Abend trotzdem so viel Eindruck macht, spricht für Frau Grönholm genauso wie für NO99, das junge Theater aus Tallinn um den Regisseur Tiit Ojasoo.

Abendland-Untergang beginnt in Estland
Nach "Nafta", der showförmigen Posse über eine Welt, der das Öl ausgeht, die bei "Auawirleben" letztes Jahr zu sehen war, turnen sich die Esten jetzt mit viel Tempo durch ein weiteres Untergangsszenario in zirka dreissig Szenen. Dass die Deutschen demnächst aussterben, weil sie immer weniger Kinder haben wollen (die Schweizer auch, nur macht sie das nicht derart hysterisch wie Frank Schirrmacher oder Eva Herman) – das wissen wir. Doch über den Esten dräut die Demografie offenbar noch düsterer: europaweiter Spitzenplatz beim Sinken der Geburtenrate. Der Untergang des Abendlands beginnt im Baltikum, in dreissig Jahren gibt es keine Esten mehr.

Was tun? Ganz einfach: Kinder machen, viele Kinder, vielen Frauen. "Garjatsije estonskije parni" (GEP): Das sind die titelgebenden "Heissen estnischen Männer" (HEM), ein Bund ebenso vaterlandsbesorgter wie zeugungskräftiger Männer, die Risto oder Sergo heissen und es sich zum Projekt gemacht haben, die Frauen, die Mirtel oder Inga heissen, zu befruchten.

Großes Fragezeichen unter sukamüts
Befruchten, jawohl: Wer vom Kindermangel spricht, muss auch vom Kindermachen reden. Und das tun diese Esten reichlich. Verkleidet in ihre bunten Nationaltrachten, mit Kniestrümpfen und Rüschenblusen und allerlei Hüten, die auf Estnisch "murumüts", "tuttmüts", "lontmüts", "sukamüts" und "tunnamüts" heissen, machen sie sich mit viel Tatkraft an die Rettung der Nation – es gibt Trainingssitzungen für das Kaputtstechen von Kondomen, aber auch für Lendengymnastik, Verführungskunst und Kusstechniken nach dem Kamasutra.

So kommt es denn, dass einer der Befruchtungsaktivisten einen Hausbesuch bei einem Bekannten macht: "Deine Frau ist schwanger." Großes Fragezeichen. "Von mir." Doch die zwischenmenschlichen Friktionen sind nur das kleinste Problem, das die Retter der Nation anzugehen haben. Wie, zum Beispiel, lebt es sich als Vater von fünfzehn unehelichen Kindern? Wie überzeugt man die Frauen von dem Projekt? Wer macht den Einkauf? Und wessen Kind ist das da eigentlich? "Pardon, das ist meins."

Schöner Klamauk
Dabei erledigt die Mission, aus der eine Volksbewegung werden soll, gerade jene bürgerliche Moral, in deren Namen die Geburtenschwundhysteriker draussen im richtigen Leben so viel Lärm machen – Liebe und Treue, Sinn für die Familie und das Private. NO99 karikiert die Aufregung um die Geburtenzahlen, indem es sie in die letzte Konsequenz verlängert: Wenn es die Nation verlangt, dann wird Polygamie zur Bürgerpflicht. So bekommt man hier auch die ganz grundsätzliche Obszönität einer Debatte vorgeführt, die den persönlichen Entscheid zum Kinderhaben zur öffentlichen Frage macht, die Mütter für den "Volkskörper" reklamiert und die Kinderlosen verfemt.

Politisches Theater von hohem Unterhaltungswert: Damit haben sich diese Esten schon letztes Jahr empfohlen. Auch die furiose Revue um die Befruchtungsaktivisten hat so viel Biss wie trockenen Witz – selbst dort, wo sie den zweiten bösen Hund ausgräbt: das Elend des Nationalismus. Zu wenig Kinder haben ja stets die eigenen Leute, während die Fremden immer mehr werden. In Estland sind das offenbar die 400'000 Russen, die dort neben den 900'000 Esten leben.

Nützt alles nix
Wenn wir das Theater aus Tallinn richtig verstehen, dann gibt es dort jedenfalls genug Ungeist, den es auf der Bühne satirisch zu verwursten gilt: Die elf Männer und Frauen schmettern das Heimatlied "Das Land muss mit Kindern gefüllt werden" ("Maa tuleb täita lastega") und kreuzen Volkstänze mit Kopulationsathletik. Daneben lernen sie die Gesteine und die Vögel der Heimat auswendig und träumen von einem Guten Führer, der alle Esten mit einem Ausgangsverbot von 18 bis 6 Uhr morgens in die Betten kommandiert.

Dass am Schluss doch alles nichts nützt, ist da jedenfalls keine schlechte Nachricht: "Wir rackern uns ab", sagt irgendwann einer der wackeren Männer, "doch an der Gesellschaft ändert sich nichts." Im Juni kann man sich davon auch an den Wiener Festwochen und in Wiesbaden überzeugen, an der Biennale "Neue Stücke aus Europa", wo die Esten mit ihrer Debattenentsorgungsaktion eingeladen sind.

 

GEP ekh Garjatsije estonskije parni (HEM oder Heiße estnische Männer)
Text: Tiit Ojasso, Ene-Liis Semper, Eero Epner und Ensemble.
Konzept und Regie: Tiit Ojasoo, Bühne und Kostüme: Ene-Liis Semper, Dramaturgie: Eero Epner.
Mit: Rasmus Kaljujärv, Sergo Vares, Gert Raudsep, Elina Reinold, Inga Salurand, Jaak Prints, Mirtel Pohla, Kristjan Sarv, Andres Mähar, Risto Kübar and Tambet Tuisk.

www.no99.ee
www.auawirleben.ch

mehr nachtkritiken