Denkt an den Toten

von Petra Hallmayer

München, 29. September 2016. Die dreistufige Bühne ist mit persischen Teppichen bedeckt. Ganz in Schwarz gehüllt tritt eine Frau vor die Zuschauer, die ein Foto in den Händen hält und auf Farsi einen schmerzvollen, zornigen Klagemonolog anstimmt über das Verschwinden ihres Sohnes, der in einem Buch ermordet wurde. In Camus' modernem Klassiker "Der Fremde" erschießt Meursault von der gleißenden Sonne Algeriens geblendet einen jungen Mann. Für den Franzosen ist er "ein Araber", ein namenloser Niemand, ohne Gesicht, ohne Identität. In seinem Roman "Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung" hat Kamel Daoud ihm einen Namen gegeben, eine Mutter und einen Bruder, der sich gegen die Entwertung und Anonymisierung des Opfers wehrt, sich Camus' Buch aneignet, es um- und fortschreibt.

Nach Johan Simons' musiktheatralischer Bearbeitung von Daouds preisgekröntem Prosadebüt bei der Ruhrtriennale stellt Amir Reza Koohestani zur Spielzeiteröffnung in den Kammerspielen nun seine Adaption des Textes vor.

Vergangenheit freischaufeln

In einer Collage zeitlich versetzter Szenen erzählt er mit stilisierten, starken Bildern die Geschichte von Musas Bruder Harun (die Schreibweise der Namen weicht von der Vorlage ab) und dessen Mutter. Wir begegnen Harun als Kind, als jungem und altem Mann. Wir sehen Meursault (Gundars Āboliņš), der die Leiche Musas brutal mit dem Fuß in eine Grube stößt, aus der ein geköpfter Mann auftaucht. Unter der kreisrunden Scheibe des Mondes tritt der Tote seinem Mörder gegenüber und erklärt ihm beharrlich unzählige Male: "Du hast mich erschossen."

Die Vergangenheit gibt die Zurückgebliebenen nicht frei. Wieder und wieder trägt die Mutter (Mahin Sadri) ihren Monolog vor. Eine rachehungrige Mater dolorosa, die ihr Leben zur Bühne für ihre "spektakuläre Mega-Trauer" und Harun zur Geisel ihres Unglücks macht, ihn in einer erstickenden Umklammerung gefangen hält, bis er einen zufällig ausgewählten Franzosen tötet.

DerFallMeursault3 560 Judith Buss uTief graben in der Familien-Geschichte: Sand fliegt in "Der Fall Meursault" an den Münchner
Kammerspielen © Judith Buss

Koohestanis Dramatisierung ist konkreter und weniger vielschichtig flirrend als die Vorlage. Daouds Roman, in dem der Erzähler zu einem Fremden in seiner eigenen Welt wird, ist keine simple postkoloniale Anklageschrift und Abrechnung mit Camus, sondern eine raffinierte literarische Konstruktion, die von ihren intertextuellen Verschränkungen, Brechungen und Spiegelungen lebt, und ein düsteres Porträt des gegenwärtigen Algerien zeichnet.

Des Bruders Aufbegehren

Der iranische Regisseur, der 2001 durch die Produktion "Dance on Glasses" international bekannt wurde und wechselweise in Teheran und Europa arbeitet, fokussiert sich auf einige zentrale Handlungs- und Themenstränge. In einer der besten Szenen führt er Haruns Aufbegehren gegen die Macht der Frommen, seine unerbittliche Religionskritik vor, die Walter Hess großartig beißend pronociert. Nur der Kopf des alten Harun ragt aus dem Boden der Moschee, während er sich ein erbittertes Streitgespräch mit dem Imam (Hassan Akkouch) liefert, der wüste Drohungen gegen ihn ausstößt.

DerFallMeursault4 560 Judith Buss uErinnerung an einen Moment des Glücks: vorne Walter Hess als alter Harun, auf der Leinwand
Maya Haddad und Hassan Akkouch © Judith Buss

Nicht alles aber ist so überzeugend in Koohestanis Inszenierung. Wie da eine Französin am Strand ihren Rassismus offenbart, das wirkt ein wenig plump. Haruns Mord wird zu einem fast drolligen Akt heruntergespielt. Die Multilingualität der Aufführung, in der die Schauspieler Deutsch, Farsi, Arabisch und Bulgarisch sprechen, stört zwar nicht, ist jedoch auch keine echte Bereicherung. Nur dass die Mutter ihr Klagelied in einer uns fremden Sprache vorträgt, macht wirklich Sinn.

Samuel Stoyanov als junger Harun hat mit seinem oft bubenhaften Tonfall etwas von einem großen, ewig vernachlässigten Kind. Das steckt gewiss in dieser Figur, doch es nimmt ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung die Schärfe.

Zwischen Allah und der Langweile

Die Rache, die Harun einen Tag vor der Unabhängigkeitserklärung Algeriens vollzieht, bringt ihm keine Erlösung. Er kann sich nicht befreien aus den Fesseln seiner traumatisierenden Familiengeschichte und findet sich wieder in einem "zwischen Allah und der Langweile" in Freudlosigkeit versinkenden Land. Bloß einmal leuchtet kurz Hoffnung auf in Gestalt der Studentin Meriem (Maya Haddad), mit der er Momente des Glücks erfährt, die der Regisseur wunderbar zart illustriert.

Immer wieder gelingen Koheestani in seiner narrationskonzentrierten Romanadaption dichte, unaufdringlich eindringliche Passagen und große schöne Bilder. Um einen nachhaltig zu verstören und zu berühren aber, dafür bleibt vieles zu vordergründig an diesem Abend, der schließlich ein wenig zeigefingernd ausklingt. Ehe der Vorhang fällt, ermahnt uns der alte Harun, den Namen Musa nie mehr zu vergessen.

Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung
nach dem Roman von Kamel Daoud
Regie: Amir Reza Koohestani, Bühne: Mitra Nadjmabadi, Video: Meika Dresenkamp, Musik: Michael Koohestani, Licht: Christian Schweig, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Mit: Gundars Āboliņš, Hassan Akkouch, Walter Hess, Mahin Sadri, Samouil Stoyanov, Maya Haddad.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Amir Reza Koohestani zeige, dass sich der Stoff hervorragend für die Bühne eigne, "wenn man die stillen, poetischen, gleichwohl schmerzenden, zweifelnden, unerhörten Töne des Romans ernst nimmt und sichtbar macht". So Bernd Noack von Spiegel-online (30.9.2016). "Koohestani jongliert mit den Ebenen und den Gewissheiten, sein Erzählton ist ruhig und fast ein wenig melancholisch, er ist mal streng protokollarisch, mal wie verzaubert und wie aus einer ganz anderen, weit entfernten Welt kommend."

Sven Ricklefs schreibt auf der Seite des Deutschlandfunks (29.9.2016): Er habe ein "multiperspektivisches Sprachpanorama" gesehen, das versuche, eine "differenzierte Haltung" zu einer "komplexen Geschichte" sehr "behutsam auf der Bühne zu verdeutlichen". Mit einfachen Mitteln wie Teppichen und Sand erzeuge der Regisseur eine "sehr poetische Ästhetik".
Mit der Erfindung von Szenen, Dialogen und Spielorten und mit Schauspielern mit den verschiedensten kulturellen Hintergründen, von iranisch bis deutsch und von bulgarisch bis libanesisch, habe Koohestani den Roman "im wahrsten Sinne des Wortes theatralisiert".

Ronald Pohl vom Standard (30.9.2016) findet den Jubel des Publikums völlig berechtigt. Er sah "eine famose Totenklage, eine Art Wiedergutmachung in Form eines Bühnenessays". "Mit einfachsten Theatermitteln wird der Schauplatz eines nicht zu sühnenden Verbrechens simuliert." Durchaus erfolgreich: Daouds Roman liege "genial skelettiert vor dem Betrachter".

"Mit ungewohnt einfachen Szenen gelingt es an diesem anderthalbstündigen, kurzweiligen Abend, den konstanten Erzählfluss Daouds künstlerisch zu übersetzen und mit Bildern in Schwung zu bringen", lobt K. Erik Franzen von der Frankfurter Rundschau. Der "zeitweise langweilende Lamento-Ton" des Buches werde aufgebrochen und weggespielt.

Christine Dössel schreibt in der Süddeutschen Zeitung (1.10.2016): "Überraschend erzähltheaterkonzentriert" sei diese Inszenierung. Sie schlage nicht den "großen geopolitischen Bogen" und rekurriere nicht auf die "heutigen Fluchtbewegungen" als "Spätfolgen kolonialer Herrschaft". Die Adaption sei "fein- und kleinspurig", eingedampft auf eine "tragische Familiengeschichte", "behutsam" wie auch "komisch erzählt", mit vielen "grotesken Szenen", die man in der Romanvorlage so nicht finde. Koohestani habe einen "warmherzigen, unzynischen Blick auf Geschichten und Figuren". Das gebe seiner Inszenierung einen "erfreulich menschlichen Anstrich" und mache das "leichte Unbehagen" über den vielleicht "zu netten", "zu unterkomplexen" Abend wett. Samouil Stoyanov spiele sehr "süß" den "bubihaft-tumben" Harun.

Patrick Bahners schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.10.2016): Koohestanis "episches Theater" mit seinen "Rollenwechseln, Übertiteln und sprechenden Szenenbildern" bringe das "Gedankenexperimentelle des Romans zu heller, witziger Wirkung". Hier und da denke man an "Schultheater". Das passe, Camus' "Der Fremde" habe "die Welt als Schullektüre erobert". Koohestani arbeite heraus, wie Daoud sich durchgehend auf Camus beziehe, "um jederzeit die Gegenprobe zu machen: auf die Ausblendung der Dialektik von Herr und Knecht im Existenzialismus, auf das Fortleben der Idee der homogenen Nation im algerischen Nationalismus".

Koohestani arrangiere den 'Fall Meursault' zu einem freundlichen epischen Narrativ ohne Camus’ Kälte und Daouds Sentimentalität, schreibt Sabine Leucht von der taz (4.10.2016). "Ohne jede Bitterkeit fragt er danach, wie ein einziges Ereignis nicht nur 'das Gleichgewicht des Tages' (Camus), sondern eine ganze Gesellschaft zerstören kann." In Momenten, "die den Bogen schlagen von den einstigen Kolonialherren zu den Strandtouristen und Neo-Nationalisten von heute", sei es ein großer Abend. 

 

Kommentare  
Der Fall Meursault, München: anregendes Gedankenfutter
An der Herausforderung, einen Roman in eine bühnentaugliche, dramatische Form zu bringen, haben sich schon manche Regisseurinnen und Regisseure die Zähne ausgebissen. Wie viel dabei schief gehen, zeigte sich erst vor kurzem, als der begabte Österreicher Philipp Preuß im Studio der Schaubühne ratlos wirkte, wie er diesen klassischen Text „Der Fremde“ über eine antriebslose und gleichgültige Figur auf die Bühne bringen soll.

Koohestani setzt darauf, mit einem großen Arsenal an Figuren einen Sog zu entfalten, der das Publikum in den Abend hineinzieht. Im Zentrum stehen die Hinterbliebenen des Opfers Musa (Hassan Akkouch): seine Mutter (Mahin Sadri) und sein Bruder Harun, der von Schauspielern aus drei Generationen gespielt wird (Walter Hess, dem Bulgaren mit österreichischem Akzent Samouil Stoyanov und einem wechselnden Kinderdarsteller). Der dreifache Harun erinnert sich, wie ihn die Mutter aufstachelte, den Mord an seinem älteren Bruder Musa zu rächen und einen Franzosen zu erschießen: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Koohestani und seinem Ensemble gelingen einige starke Szenen und poetische Bilder. Als „multiperspektivisches Sprachpanorama“ ist der Abend angekündigt. Häufige Rückblenden, der Mix aus Ensemble-Szenen, die teilweise in ein fast schon babylonisches Sprachengewirr münden, und nachdenklichen, oft dezidierten religionskritischen Monologe, die dem algerischen Autor Daoud eine Fatwa einbrachten, bieten tatsächlich anregendes Gedankenfutter. Seine Sprunghaftigkeit wird dem Abend aber auch zum Verhängnis: ein wirklich überzeugender, packender und dichter Theaterabend, wie er Koohestani mit „Hearing“ gelang, glückt ihm diesmal nicht.

Dies liegt vor allem auch an der zu melodramatischen, aufgesetzt wirkenden Schlussszene, als eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen Harun und Maryam (Maya Haddad) hinzugedichtet wird. Diese Sentimentalität störte schon einige Rezensenten an Daouds Romanvorlage, während die andere Hälfte der Kritiker über sein intelligentes Gedankenexperiment jubelte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2016/12/23/der-fall-meursault-koohestani-blickt-an-muenchner-kammerspielen-aus-neuer-perspektive-auf-camus-klassiker/
Der Fall Meursault, München: intelligent und witzig
Ein intelligenter und witziger Theaterabend, die inhaltliche Auseinandersetzung mit Perspektiven ist von der Regie ideenreich und gekonnt umgesetzt. Einer der besten Abende im großen Haus von Lilienthals Kammerspielen. (Das gehört geschrieben, auch um den Preis, sich hier mit Klickspielchen für Autos und Straßenschilder idiotisieren zu lassen)
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