Presseschau vom 2. Oktober 2016 – Luk Perceval kehrt deutschem Stadttheater enttäuscht den Rücken

Klischees und Eventkultur

2. Oktober 2016. Luk Perceval, seit 2009 Hausregisseur am Hamburger Thalia Theater, wird das Haus in der übernächsten Spielzeit verlassen. Nach 18 Jahren verabschiede er sich vom System der deutschen Stadttheater und kehrt zurück in sein Heimatland Belgien.

Im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt (1.10.2016) begründet er diese Entscheidung: "Ich habe ganz einfach Lust auf neue Luft, neue Herausforderungen, auch eine Sehnsucht nach der flämischen Theaterkultur, aus der ich komme." Aber Perceval übt auch Kritik: "In Deutschland läuft sich das System fest, indem immer mehr gespart wird, immer mehr auf Zuschauerzahlen geachtet wird.“ Ein Hauptgrund, warum er damals nach Deutschland kam, sei die Ensemblekultur gewesen, die er gefährdet sehe. "Kultur muss immer mehr zur Eventkultur werden."

Wer schützt die Kunst?

Das deutsche Publikum habe eine tief verwurzelte Theatertradition, es herrsche sehr viel Nostalgie nach dem Motto: "Früher war alles besser", "(m)an erwartet 'Klassiker klassisch' – und wenn man nachfragt, was genau gemeint ist, hört man oft eine Klischeevorstellung".

Nicht von Deutschland sei er enttäuscht, sondern vom deutschen Theatersystem, betont Perceval. "Weil ich hier überall sehe, dass die Kunst, also der Schauspieler, nur noch dazu da ist, die Logistik aufrechtzuerhalten. Und nicht, dass das System da ist, um die Kunst zu schützen, in ihrer kritischen, fragenden Haltung." Kunst müsse nicht unbedingt erfolgreich sein, sie müsse hinterfragen. "Das darf und kann sie in Deutschland aber immer weniger."

Perceval geht 2018 ans Flämische Nationaltheater nach Brüssel, um dort ein multikulturelles Theater für den "europäischen Melting pot" zu konzipieren.

(miwo)

Kommentare  
Presseschau Luk Perceval: Erstaunlich.
Erstaunlich finde ich, dass so ein verdienter und erfolgreicher Mann wie Perceval so wenig Bedenkenswertes zu den aktuellen Krisen des Deutschen Stadttheatersystems zu sagen hat. Spardruck? Eventkultur? Fehlende kritische, hinterfragende Haltung? Ein Publikum, dass keine "Klassiker-Aktualisierungen" mag? - Hat man das vor 20, 30 und mehr Jahren nicht schon ähnlich formuliert? Gibt es in Belgien wirklich ein Theatersystem, das die Kunst noch großzügiger fördert und ermöglicht als die Länder und Kommunen in Deutschland? Ist es nicht eher so, dass die Theaterhäuser viel zu viel Energie in den Anspruch investieren, die Gesellschaft, den Staat, den Kapitalismus, den Endverbraucher "kritisch zu hinterfragen", d.h. ihm seine hässliche Fratze im Spiegel vorzuhalten? Verlieren darüber nicht manche den Blick für gutes, packendes, aufregendes Theater? Bleiben die Zuschauer vielerorts nicht auch deswegen weg, weil sie keine Lust mehr haben, sich ständig bearbeiten und schulmeistern zu lassen? Kann es wirklich ein Fehler sein, wenn man sich in den Chefetagen der Kulturbetriebe Gedanken darüber macht, wie man die Hütte füllt? Und hat sich ein leergespieltes Haus, das sich in der Verzweiflung mit einer Frischzellenkur (z.B. Gratistickets für Studenten, siehe Braunschweig u.a.) die Auslastungszahlen verschönern will, nicht faktisch bereits selber abgeschafft?
Presseschau Luk Perceval: Marke
Das reiche Flandern betrieb viele Jahre eine hoch subventionierte Kulturpolitik, deren vollen Nutzen nicht ohne politische Positionierung (bestenfalls Enthaltung), damit meine ich pro Flandern, oder tatsächliche flämische Abstammung erlebt werden kann. Die Marke "belgische Kultur", die eigentlich wirklich "flämische Kultur" meint, wurde über Jahre hinweg aktiv als Produkt im In- und Ausland aufgebaut.

Den Lobgesang auf die internationale Atmosphäre nehme ich deswegen mit einem grossen Löffel Salz. Wallonien wird im kulturpolitischen Kontext zur Seite geschubst. Das immense kulturelle Potential der diversen Gemeinschaften, sei es afrikanisch, muslimisch, jüdisch etc findet sich eher auf lokaler Ebene.

Selbst die kulturelle Beurteilungskommission rügte die Gesellschaften der Einreicher noch Anfang diesen Jahres öffentlich als "zu weiss und zu männlich". Selbsterkenntnis ist ja bekanntlich der erste Weg zur Besserung.

Nun hat, was Herrn Perceval nicht unbekannt sein sollte, die rechtsliberale flämische Regierung jüngst einen Kahlschlag bei den kulturellen Subventionen gemacht. Viele Iniativen werden die Türen schliessen müssen. Und die Meldung Ende September, dass der gesamte belgische Staatshaushalt jetzt doch nicht "nur" 2,4 Mrd sondern 4,2 Mrd Euro einsparen muss, lässt die Zukunft nicht rosiger aussehen.

Gerne sei auch erwähnt, dass der Kunstunterricht auch an flämischen Schulen weggespart und z.T. durch externe Projektorganisationen aufgefangen wird.

Mir scheint, dass die von Herrn Perceval kritisierten Entwicklungen nicht exklusiv in Deutschland zu finden sind. Man nimmt vielleicht Sachverhalte bewusster in einem anderen Land wahr die einem vorher noch nicht so aufgefallen sind.

Was ich an Deutschland kritisiere ist, dass viel zu lange viel zu wenig für den kulturellen Nachwuchs getan wurde. Grosse Häuser oder ehrwürdige Institutionen können sich dem mehr öffnen, dennoch ist es mein Eindruck, dass hier langsam ein Umdenken stattfindet. Vielleicht schert es schon in die andere Richtung aus und werden 20jährige per Definition in den Himmel gelobt- ich übertreibe. Idealerweise sollten auch kritische Stimmen explizit gefördert werden, dies vermisse ich manchmal. Mir scheint, dass z.Zt. ganz junge Menschen gerne herumgereicht werden, nicht nur weil sie hip sind, sondern sich eben (noch) nicht positioniert haben oder keine lästigen Fragen stellen.

Ich wünsche Herrn Perceval, den ich sehr schätze, alles Gute. Belgien hat diverse und kritische Kunst verdient. Wenn er dabei mithelfen kann, um so besser.
Presseschau Luk Perceval: überfällig
Natürlich beklagt Perceval zu Recht, dass den Theatern von der Politik immer mehr finanzielle Mittel gekürzt werden (Ausnahmen, wie sie für Dercon gemacht werden, bestätigen die Regel). Hamburg ist dafür ein Paradebeispiel: Das Stadtmarketing hat die Hansestadt inzwischen kurzerhand (geplatzte Olympiabewerbung) zur "Musikstadt" ausgerufen (Elbphilharmonie!) und kürzt den staatlichen Bühnen im Lauf der kommenden Jahre kontinuierlich noch mehr Mittel. Dass ein solches Vorgehen u.a. zur sogenannten "Eventkultur" und damit einhergehenden Verflachung führt, ist unbestreitbar. Hier ist ein Umdenken und eine - in Anbetracht des zunehmenden Populismus und Nationalismus im Land - Neudefinition von Kultur dringend erforderlich.
Aber man kann die Theater auch in diesem Punkt nicht völlig aus der Verantwortung entlassen. Tatsache ist eben auch, dass etwa Karin Beier vor der Übernahme ihrer Intendanz für das Hamburger Schauspielhaus viel bessere Konditionen ausgehandelt hat als Lux für das Thalia Theater. Oder dass Kinder- und Jugendarbeit (um die sich inzwischen auch die Hamburger Staatsoper mit verschiedenen Angeboten verstärkt bemüht) durch das sehr erfolgreiche Junge Schauspielhaus viel stärker gefördert wird als am Thalia. Oder dass die Inszenierungen von Perceval am Thalia vor allem am Anfang - gelinde ausgedrückt - stark überrepräsentiert waren. Allein der ersten Spielzeit hat er bei fünf Inszenierungen Regie geführt und Idee/Konzept für das Spielzeiteröffnungsevent "2BEORNOT2BE" beigesteuert. In den darauf folgenden sieben Spielzeiten) kamen dann jeweils zwei Neuproduktionen (und/oder weitere Übernahmen) hinzu. Außerdem konnten die Zuschauer zahlreiche Inszenierungen von ihm als Gastspiele oder auch Filme in seiner Regie sehen. Da bleibt dann eben auch ein gewisser Übersättigungseffekt nicht aus - was nicht seine, sondern die Schuld des Intendanten ist, der es nicht geschafft hat, weitere wichtige Regissuere dauerhaft an sich zu binden (letztes Beispiel: Der dem Haus schon unter Khuon verbundene Nicolas Stemann ist als Hausregisseur an die Münchner Kammerspiele gegangen).
Wenn sich Perceval dann 2018 nach neun Spielzeiten aus Hamburg verabschiedet, ist daher ein genereller Neustart am Thalia Theater auch wirklich überfällig.
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