Die Raubzüge der Pappenheimer

von Andreas Thamm

Bamberg, 9. Oktober 2016. Wenn es im Herbst 2016 um Europa geht, muss man zuerst einmal Großbritannien rausstreichen. Das funktioniert ganz pragmatisch mit Edding auf Pappe. Fünf Schauspieler fuchteln auf engem Raum mit improvisiert wirkenden Requisiten, im Chor verkünden sie, worum es hier heute geht: "Europa verteidigen." So heißt das Stück von Konstantin Küspert, eine Uraufführung. Es ist Küsperts zweite Arbeit für das Bamberger E.T.A. Hoffmann-Theater nach Rechtes Denken vor etwa einem Jahr.

Unter Terrorismusfachkräften

Dann bleibt Jonathan allein auf dem schmalen Streifen zwischen europablauem Vorhang und Publikum. Jonathan sagt: "Jonathan sagt, ihn nervt die EU, die die Leute ablenkt von ihren eigenen Problemen." Er spricht von "Terrorismusfachkräften" und bulgarischen Bürgerwehren und schiebt oft genug die indirekte Rede ein, die Jonathan von Jonathan distanziert. Küspert stellt klar, dass hier kein Individuum spricht und sich in Widersprüchen verheddert, sondern eine Rolle aus diesem real existierenden Stück vorgeführt wird, die sich gesellschaftlicher Diskurs nennt.

Das ist die Gegenwartsebene des Textes, in der später noch eine anklagende Studentin, ein Mädchen mit Migrationshintergrund, das sich zu deutsch fühlt, und ein Opa mit Kriegstrauma zu Wort kommen. Oder besser vielleicht: zu Wort gebracht werden.

EuropaVerteidigen1 560 MartinKaufholdDer Stier in Dir: Zeus unterm Ochsenkopf raubt Europa. Szene mit Nicolas Garin, Stefan Hartmann, Marie Nest, Bertram Maxim Gärtner, Ronja Losert © Martin Kaufhold

Viel interessanter sind die anderen beiden Erzählstränge, die Küspert in dieses Stück flicht. Zum einen ein historischer Zeitstrahl, der einen Abriss europäischer Konfliktherde gibt: von den Schlachten um Karthago über die Wikinger bis zu Frontex im Jahr 2020. Zum anderen greift sich der Autor den Mythos und baut ein Remake der Sage von der Entführung Europas durch Zeus, den lüsternen Göttervater, der die schöne Prinzessin auf seinem Papp-Smartphone entdeckt. Diese drei Ebenen wechseln sich mehr oder weniger gleichwertig ab, sodass ein Gesamt-Stück entsteht, das vielleicht am ehesten als Mischung aus Sketch-Show und politischem Leserbrief zu beschreiben ist.

Europas Schändung zwischen Umzugskartonage

Die Münchner Regisseurin Cilli Drexel inszeniert das Material ästhetisch kompakt mit fünf Schauspielern und viel, viel Umzugskartonage. Die Wikinger schieben ächzend ihr Pappschiff über die Bühne, die Römer ängstigen sich vor einem Papp-Elefantenschädel und in der Normandie wird mit labbrigen Maschinengewehren geballert. Nicht selten entsteht dadurch ein fesselnder Kontrast: Der Krieg tobt, der Text ist fast pathetisch, aber alles bleibt reduziert und simpel. Gerade die Geschichtshappen sind bierernst und gleichzeitig wahnsinnig witzig.

Plötzlich aber, als zunächst Europa hinterm Vorhang vergewaltigt wird, während Marie Nest lieblich auf der Ukulele klimpert und dann der zweite Weltkrieg Europa in Nebel und schwarz-weißem Konfetti versinken lässt, vergeht alles Lachen und weicht echter Erschütterung. Europa lässt Adorno anklingen: "Es kann keinen Witz geben, kein Lied, kein Lachen. Nie wieder." Sogar die Papp-Harfe des Erzählers, Stefan Hartmann, ist zerbrochen.

Ein Herz für Wikinger

Aus der jungen Besetzung ist es Hartmann, der mit sehr jungenhafter Power am ehesten heraussticht: Ob als Wikinger Erik, der einem Eskimo das Herz aus der Brust reißt und sich dessen Heimat zu seiner eigenen macht. Oder, mit blonder Perücke, als strenge Hera, die vergeblich versucht den Stelzbock Zeus zu kontrollieren.

EuropaVerteidigen 560 MartinKaufhold uAchtung, Wikinger! Stefan Hartmann, Ronja Losert, Nicolas Garin, Marie Nest © Martin Kaufhold

Als Truppe gelingt es den Schauspielern, das Tempo hochzuhalten, ohne dabei das Publikum abzuschütteln und den Humor richtig zu setzen ohne die Weltlage zu sehr zu verulken. Ronja Losert schreit als Lothar von Trotha den Herero-Aufstand nieder. Bertram Maxim Gärtner hat als Herbert Jankuhn, ein Prähistoriker in Nazi-Diensten, Probleme mit dem flatternden Papier-Hitlerbärtchen. Rasant gleitet die Erzählung durch die Zeiten und zeigt Bezüge zum Jetzt auf, ohne sie einzutrichtern.

Konstantin bringt Küsperts Moral von der Geschicht

Allein der Schluss macht vieles von diesem grundpositiven Eindruck zunichte. Denn was die ganze Zeit über so klug gemieden wurde, kommt jetzt eben doch noch ums Eck: Der pädagogische Holzhammer. Konstantin gehört der letzte Monolog. Konstantin sagt: "Ich bin schuld an der Flüchtlingskatastrophe. Ich bin schuld an den Angriffen auf Flüchtlingsheime. Ich bin schuld an den Terroranschlägen. Genauso wie du und alle anderen, die rumsitzen und nichts machen."

Und dann folgt eine Argumentation für die Moral und gegen blöde Rassisten, an der ja sicher alles richtig, die aber auch in jeder zweiten Facebook-Diskussion nachzulesen ist. In seiner Banalität und Unterkomplexität erinnert das dann eher an Schultheater. Hier wollte der Autor dringend noch seine Haltung reinwurschteln in ein sonst so gelungenes Stück – und das ist sehr schade.

 

Europa verteidigen
von Konstantin Küspert
Uraufführung
Regie: Cilli Drexel, Bühne und Kostüme: Christina Mrosek, Dramaturgie: Olivier Garofalo.
Mit: Ronja Losert, Marie Nest, Nicolas Garin, Bertram Maxim Gärtner, Stefan Hartmann.

www.theater.bamberg.de

 

Kritikenrundschau

Carlo Schindhelm vom Bayerischen Rundfunk (10.10.2016) findet: "Eigentlich schwere Kost, und doch kann man sich immer wieder ein Grinsen oder Lachen kaum verkneifen." Das Stück sei "herrlich unterhaltsam" und "lässig inszeniert".

"Mit müheloser Leichtigkeit changiert das Ensemble zwischen nonchalant vorgetragenen, an das Agieren im Comic angelehnten Spielszenen und bitterer Ernsthaftigkeit", schreibt Corina Erk vom Fränkischem Tag (11.10.2016). Das Stück sei dicht komponiert und kurzweilig, der Abend eine "überzeugende diskursive Aushandlung dessen, was Europa vermeintlich ausmacht".

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