Der gefährlichste Gesprächspartner der Welt

von Andreas Thamm

Ansbach, 15. Oktober 2016. Den schönsten inszenatorischen Einfall gibt es gleich zu Beginn: Das eiserne Tor, das dem kleinen Ansbacher Saal seinen Namen gibt, hebt sich. Die Bühne vergrößert sich um ein Vielfaches, die Stuhlreihen des großen Saals werden sichtbar: und ein Schauspieler, Hartmut Scheyhing als Itsik Sager, in der Rolle des einsamen König Lear. Der gleich danach, vorn, vom Chef in Empfang genommen wird: von Stalin, am massiven Schreibtisch, er bietet Tee an.

Gaston Salvatores Stück "Stalin", uraufgeführt 1987, ist das Porträt des personifizierten Wahnsinns. Stalin hat sich den Schauspieler bringen lassen, weil ihm dessen Lear verdächtig erscheint. Obwohl er ihn gar nicht gesehen hat. Der Diktator identifiziert sich mit dem gestörten Shakespeare-König und will sich ganz bestimmt nicht mit ihm identifiziert wissen.

Shakespeare Super-Identifikation

Sager ist sich der Gefahr, in die ihn seine Aufführung gebracht hat, wohl bewusst. Er ist der Willkür eines Unberechenbaren ausgesetzt. So ist jede Begegnung der beiden ein dialogischer Drahtseilakt, eine unheimliche Stresssituation für den Lear-Schauspieler, die den Verstand kostet. Und ihm Handschellen einbringt.

Sager ist fiktiv, das reale Vorbild, Solomon Michoels starb bei einem "wahrscheinlich fingierten" (Programmheft) Autounfall. Für Sager, geht es in der gemeinsamen Lear-Exegese mit Stalin um Leben und Tod. "Shakespeare", sagt er, "wollte mit seinem Stück die Absurdität der Welt betonen." Für Stalin heißt das: Wer in Moskau Lear inszeniert, will auf die Absurdität der Sowjetunion hinweisen. Hält Sager die Sowjetunion für absurd? Besser nicht!

Stalin03 560 c JimAlbright uRed Carpet Treatment: Dave Wilcox als Stalin, Hartmut Scheyhing als Lear-Schauspieler, der zum
Gespräch gebeten wird © Jim Albright

Von diesem Ausgangspunkt entspinnen sich Dialoge, die weit weg und immer wieder zurückführen zum König Lear. Salvatores Stalin geht's ums große Ganze: Wahrheit und Lüge, Schuld und Unschuld, Vertrauen und Verrat. Sager wird für ihn zum Berater, zur Marionette, zum Narr. "Narren haben nichts zu verlieren", weiß Stalin. Aber auch: "Den Narren erwartet der Galgen." Er ist der gefährlichste Gesprächspartner der Welt.

Psychologisches Profiling

Zwei psychologische Profile entstehen im Verlauf des Abends. Einerseits der berechenbar Unberechenbare: Paranoid, bedrohlich, faszinierend aber erbärmlich und süchtig nach der Angst seiner Untergeben. "Stalin ist auch ein Mensch", sagt er über sich selbst, aber das stimmt nicht. Auf der anderen Seite, der Schauspieler, der die Angst verliert – oder eintauscht gegen Fatalismus. Er wird beschuldigt, Teil einer "zionistischen Konspiration" gegen Stalin zu sein. "Warum bereuen Sie nicht?", will der Diktator wissen. "Weil ich tot bin."

Stalin04 560 c JimAlbright uAbsurde Welt: "Stalin" © Jim Albright

Freilich hat Salvatore einen Monolith geschrieben, aufgeladen mit historischem und literaturhistorischem Kontext, ein Gewirr aus Namen, Ereignissen, Erinnerungen. Die beiden alten Männer bewerfen einander mit großen Wortbrocken und sagen dabei oft nichts. Sperrig und anstrengend ist das schon und nicht selten geht es einem wie Stalin als der sagt: "Das hört sich gut an, aber ich versteh' es nicht."

Im historischen Kontext

Dave Wilcox spielt diesen Irren mit donnernder Stimme, stählerner Stalin-Tolle und körperlich derart wuchtig, dass man auch als Zuschauer um Gnade winseln möchte. Hartmut Scheyhing dagegen, hager, lang, nutzt seine irrsinnige Mimik, um dem Itsak Sager das notwendige Pathos einzuverleiben.

Schulz hat sich des Stoffes mit großer Ernsthaftigkeit angenommen. Sie inszeniert Salvatores Text als Dämmerung eines Wahnsinnigen im Neonlicht. Er reißt einen Unschuldigen mit sich. Die Intensität des Spiels steigert sich mit dem Irrsinn, die unendlich traurige, russische Musik ist unironisch anrührend. Am Ende rollt nochmals das Tor nach oben und aus dem großen Saal blendet ein Spot ins Publikum. Obwohl es Kandidaten genug gegeben hätte, verkneift sich die Regisseurin allzu plumpe Verweise auf die Irren in Machtpositionen der Jetztzeit. Die Erzählung bleibt erstmal historisch. Die Botschaft kommt trotzdem an: Zu viel Macht macht krank. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Stalin
von Gaston Salvatore
Regie: Susanne Schulz, Bühne und Kostüme: Jan Hax Halama.
Mit: Dave Wilcox, Hartmut Scheyhing.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.theater-ansbach.de

 

Kritikenrundschau

Gaston Salvatores Fünfakter provoziere Fragen über Fragen, und Susanne Schulz' Inszenierung entwickele Kraft, um einen nach und nach ins Drama zu ziehen, schreibt Thomas Wirth in der Fränkischen Landeszeitung (18.10.2016). Streckenweise treibe Schulz den Wortwechsel bis in die körpersprachliche Groteske. Zu ihrem Regiestil gehören Brüche, Distanzierungen, Perspektivwechsel, Überzeichnungen - und mitunter angestrengter Kunstwille. Großartig seien die Bildwirkungen, die Ausstatter Jan Hax Halama mit Wenigem ermögliche. "Bühne-Raum-Bild und Musik geben dem Stück Kolorit, schaffen eindrucksvolle, vielsagende Momente." 

 

 

Kommentare  
Stalin, Ansbach: Blick hinter die Kulisse
Ich kann Herrn Thamm nur beipflichten. Gerade das Auslassen eines jeglichen Verweis zu Potentaten der Jetztzeit macht für uns im Publikum den Assoziations-Horizont weit auf. Eine solch intensive, ja oft auch lang und ausufernd wirkende, und dennoch immer dichte und nahe Inszenierung habe ich lange nicht mehr - und noch nie in Ansbach gesehen. Das ist großes Theater, davon wünsche ich mir mehr. Das Format hinter dem eisernen Vorhang ist beeindruckend, der Blick hinter die Kulissen eines Theaters per se immer spannend. Der Blick hinter die Kulissen eines wahnsinnigen Machthabers um so mehr. Da lohnt sich der Weg, auch von weiter her!
Stalin, Ansbach: was erwähnt gehört
Ist es denn einer extra Erwähnung notwendig wenn in der so genannten "Provinz" eine engagierte Intendantin Schauspiel bietet, welches in seiner Art eher in den Metropolen zu vermuten ist? JA. Das gehört erwähnt. Und es gehört anerkannt. Auch von der überregionalen Theaterlandschaft aber in erster Linie von den Ansbachern. Es mag ungewohnt sein, ja. Es mögen im gut durchmischten Spielplan auch sperrige Themen auftauchen. Ja. Der derzeitige Finanz- und Besucherzahlen- Diskurs der lokalen Presse und Verantwortungsträger lässt die Anerkennung dieser hochqualitativen Theater-Arbeiten missen. Ansbacher: schaut es euch an.
Stalin, Ansbach: subtil getriggert
Intendantin Susanne Schulz versteht es genial, die Gefühle der Schauspieler zu inszenieren und auf die Zuschauer zu übertragen. Vor kurzem noch war Dave Wilkox als leichtfüßiger Casanova zu sehen. Jetzt strotzt er vor Kraft und Stärke - grandios! Hartmut Scheyhing fesselt durch seinen unglaublichen Ausdruck und zieht den Zuschauer in seinen Bann.
Man erlebt das Schauspiel "hinter den Kulissen" - von der Bühne aus, wechselt die Sichtweise. Das Spiel der Beleuchtung (Jan Hax Halama) würzt mit hell, dunkel, Klarheit, Verborgenem und saugt die Aufmerksamkeit des Zuschauers ins Geschehen.
Aufbau von Macht, Angst vor Machtverlust und Zerfall. König Lear, Hitler, Stalin ...! - Alles ist Vergangenheit, nur ein Schauspiel, hat mit der Realität nichts zu tun. Wirklich? Gibt es aktuelle Parallelen?
Frau Dr. Schulz triggert auf ganz subtile Weise und macht betroffen. Absolut empfehlenswert. Danke
Stalin, Ansbach: tiefe Verbeugung
Mit der Großmutter, 1956 nach Deutschland geflohen, sitze ich nun in diesem Stück, zur zweiten Vorstellung, weil Großmutter Premieren nicht mag. Ich kenne die Gründe der Flucht unserer Familie, interessiert haben sie mich, Jahrgang 1979, nie wirklich. Ich kenne diese Zahlen, ich kenne den Stoff aus dem Unterricht, auch schon etwas her. Wir haben nie gesprochen, wir sind halt Russland-Deutsche. Und dann halte ich im Regen nach der Vorstellung am Schlossplatz meine weinende Großmutter im Arm. Wir können uns fast nicht bewegen, wohin sollen wir auch gehen? Sie war seit Jahren nicht mehr im Theater, ich auch nicht wirklich. Uns war beiden nicht bewußt, was dieser Abend, was ein Stück gespielte Geschichte auslösen wird in uns. Wir suchen, nach Informationen, wer hat gespielt, wer ist dieser Autor, warum wird es gespielt, wann, wer noch, wo?. Eine tiefe tiefe Verbeugung vor Frau Schulz, Herrn Wilkox und Herrn Scheyhing für diesen Abend, für diese Leistung, für Ihr Vermögen, eine mehr als 50- jährige Kruste auf dem Leben meiner Oma aufzubrechen. Es gab dann, um kurz vor Mitternacht am Küchentisch hier mitten in Franken Kulebjaka, das Lieblings-Essen meiner Großmutter aus Ihrer Kindheit. Danke dem Theater Ansbach. Danke.
Stalin, Ansbach: große Empfehlung
Ein großer, ungeheuer packender und intensiver Theaterabend mit zwei grandiosen Schauspielern, die den Zuschauer gebannt und atemlos zurücklassen!

Die Inszenierung von Susanne Schulz macht mit subtiler und tiefgehender Figurenauslotung deutlich, wie aktuell und wichtig die Auseinandersetzung mit den paranoiden Psychopathen der Geschichte und dem menschenverachtenden Gewaltsystem Patriarchat ist, das diese hervorbringt. Durch kluge Zuspitzungen, Überhöhungen und körpertheatrale Verfremdungen wird bei Schulz die Absurdität der immer wahnwitzigeren Gewaltspirale deutlich, in der sich die ganze Welt im 21.Jahrhundert befindet und zu verlieren droht.

Dave Wilcox als Stalin lässt miterleben wie ein Schutzpanzer aus Gefühllosigkeit eine Seele erstickt haben und dieser Raum mit Größenwahn, Machtgeilheit, Herrschsucht, Kontrollzwang und Verfolgungswahn gefüllt worden ist. Doch hinter den Posen und der donnernden Stimme lässt uns Wilcox Stalin das Grauen vor der eigenen Monstrosität, die Angst vor den fernen, leisen Rufen von Liebe und Gewissen und die Orientierungslosigkeit eines verletzten und verlorenen Jungen erleben.

Hartmut Scheyhings Itsik Sager zeigt zutiefst berührend wie ein sensibler Künstler, die unschuldige Menschenseele als solche, sich in dem Netz der Diktatur und ihren Verhaltensmustern durch jede seiner Bewegungen nur noch mehr verstrickt. Bis am Ende die Wucht des persönlichen und allgemeinen Leids, die Ohnmacht und der Schmerz über den Verlust des eigenen Sohnes ihn an den Rand des Wahnsinns führen. Doch Scheyhings Sager bleibt Mensch, weil er bis zum Ende dem Fühlen und der Liebe verbunden bleibt und wahrhaftig darüber Zeugnis ablegt.

Das Konzept "Theater hinter dem Eisernen" des Theaters Ansbach passt kongenial zur Inszenierung. Man ist hautnah an den Schauspielern dran und bekommt durch die Bühne und Kostüme von Jan Hax Halama sowohl ein Gefühl für die Atmosphäre der Zeit als auch grandiose Bilder mit weitem Assoziationsrahmen.
Halamas Bühne macht nicht nur die Klaustrophobie der inneren Gefangenschaft der Figuren durch das nackte Metall des eisernen Vorhangs spürbar, sondern lässt den Zuschauer durch die Leere der blutroten Theatersessel des großen Hauses die Abwesenheit der Opfer körperlich erfahren. Den Potentaten des Patriarchats gehen die Zuschauer aus, niemand ist mehr da, um den selbsternannten "Vätern des Volkes" auf dem roten Teppich, Halamas unendlicher Blutspur der Geschichte, zuzujubeln! Götzendämmerung 2016! Ein weithin leuchtendes Fanal zur weltpolitischen Lage vom Theater Ansbach unter der inspirierten Leitung von Susanne Schulz und ein großes Plädoyer für die Stärke und Vielfalt der kleinteiligen deutschen Theaterlandschaft, die wir mehr denn je brauchen, um den Irrsinn, den wir Menschen auf dem Planeten geschaffen haben, zu erfühlen und zu verstehen. Ich habe die Vorstellung nachdenklich, und durch Erkenntnis und Gefühl bereichert, verlassen. Große Empfehlung!
Stalin, Ansbach: regt zum Nachdenken an
Großes Theater in unserer kleinen Stadt. Es bildet, es regt zum Denken und Nachdenken, zum Lesen, zum Diskutieren an. Eindrucksvolles Bühnen- und Kostümbild. Starke Schauspieler unter einer großartigen Intendantin. Das sollten wir alle zu schätzen wissen!
Stalin, Ansbach: wahnsinnige Realität
Chapeau!
Beeindruckend, tief beeindruckend ist die Inszenierung des Theaterstücks „Stalin“ von Gaston Salvatore.
Die über zwei Stunden dauernden Dialoge, die nicht einmal langweilig wurden, haben mich dank des hervorragenden Schauspiels einfach gefesselt.
Dazu das Bühnenbild, karg aber Ausdrucksvoll, Licht und die Musik im Hintergrund verstärkten diese herrschende, unheimliche Atmosphäre des Wahnsinns.
Wirklich Wahnsinn? Oder Realität? Es war eine wahnsinnige Realität, die auch heute zu spüren ist und wie ein Gespenst die Mächtigen dieser Welt begleitet.
Toll, dass es endlich auch in Ansbach ein Theater auf höchstem Niveau zu sehen gibt. Das einzige, was ich vermisste war das junge Publikum. Sehr Schade!
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