Aufkommende Gefühle

von Sascha Westphal

Düsseldorf, 21. Oktober 2016. Es gibt mindestens zwei Wege, sich Simon Stephens' 2015 in New York uraufgeführtem Zwei-Personen-Stück "Heisenberg" zu nähern. Der erste geht ganz klassisch von Georgie Burns und Alex Christ aus. Die beiden begegnen sich erstmals im Londoner Bahnhof St. Pancras. Georgie, eine 42-jährige Sekretärin, die an einer Grundschule arbeitet, hat sich dem 75-jährigen Metzger Alex von hinten genähert und ihm dann einen Kuss auf den Nacken gegeben.

Sofort danach wird sie vor (gespielter) Scham fast im Boden versinken und dem Fremden versichern, dass es eine Verwechslung war. Aber auch das könnte eine Ausflucht sein. Schließlich erzählt Georgie ständig Geschichten, so dass sich weder Alex noch das Publikum im Saal sicher sein können, was nun Wahrheit und was Erfindung ist. Genau diese Unsicherheit lässt dem einsamen Metzger keine Ruhe. Die unstete Georgie, deren Verhalten sich nie vorhersehen lässt, bringt eine befreiende Unordnung in Alex’ Leben, das schon viel zu lange in den immergleichen Bahnen verlaufen ist.

Heisenberg1 560 sebastianhoppe uGeorgie und Alex beziehungsweise Caroline Peters und Burghart Klaußner  © Sebastian Hoppe

Wahlverwandtschaften und Quantenphysik

Folgt man diesem Weg, erweist sich Simon Stephens' Stück als moderne Variante einer klassischen Screwball-Comedy, in der sich Gegensätze mit aller Macht anziehen, um sich am Ende perfekt zu ergänzen. Doch mit der Wahl des Titels hat Stephens noch eine andere Fährte gelegt. Der Verweis auf den Quantenphysiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg eröffnet dem Stück eine andere, viel abstraktere Dimension. Nimmt man ihn als Ausgangspunkt seiner Beobachtungen und Überlegungen, wird die Komödie zum Theater-Experiment. Eine der zentralen Erkenntnisse der Quantenphysik besagt, dass sich Elektronen anders verhalten, wenn sie beobachtet werden. So wie ein Experiment den Gegenstand seiner Untersuchung beeinflusst, verändert der Titel, lässt man sich von ihm leiten, die Wahrnehmung des Stücks. Aus Georgie und Alex werden dann zwei theatrale Teilchen, die sich den Blicken der Beobachter entsprechend verhalten.

Den Experiment-Charakter seines Stückes betont Simon Stephens aber nicht nur durch den Titel. Auch seine Bühnenbild-Vorschläge weisen eindeutig in diese Richtung: "Die Bühne sollte so karg wie möglich sein. Man sollte die Brandmauern des Theaters sehen." In Lore Stefaneks deutschsprachiger Erstaufführung von "Heisenberg" gibt es keine Brandmauern zu sehen. Janina Audick hat parallel zu den Zuschauerreihen eine Art Laufsteg errichtet, der auf der linken Seite in einer fast parabelförmig ansteigenden Wand endet. Nach hinten begrenzt eine gut drei Meter hohe Wand, über der Schilder mit Goethe-Zitaten wie "Es hört doch jeder nur, was er versteht" und englischen Ausrufen zu sehen sind, die schmale Spielfläche.

Heisenberg4 560 sebastianhoppe uLove is in the air? Caroline Peters und Burghart Klaußner auf der Bühne von Janina Audick.
© Sebastian Hoppe

Hollywood lässt grüßen

An die Stelle von Stephens' nüchterner Versuchsanordnung tritt ein mit ständig wechselnden Lichtstimmungen arbeitender magischer Theater-Realismus, der eher auf Einfühlung als auf Distanz setzt. Das Experimentelle verschwindet bei Lore Stefanek mehr oder weniger hinter dem Konventionellen. Was durchaus funktioniert, da der englische Dramatiker tatsächlich eine wundervolle Screwball Comedy geschrieben hat. Und Caroline Peters und Burghart Klaußner, die das ungleiche Paar spielen, können es ohne weiteres mit Katharine Hepburn und Cary Grant in "Bringing Up Baby" oder Barbara Stanwyck und Henry Fonda in "The Lady Eve" aufnehmen.

Wenn Georgie Alex zu Beginn herzzerreißende Geschichten erzählt, nur um später alles zu widerrufen, oder wenn sie ihn immer wieder dazu drängt, sich ihr endlich zu öffnen, trägt Caroline Peters genau im richtigen Maße zu dick auf. Ihre Georgie ist laut und flatterhaft, eine Nervensäge und eine Schau-Spielerin. Ständig unterstreichen ihre Hände, was sie gerade sagt, und ihre Mimik ist ebenso aufdringlich wie ihre Sprüche. Aber trotzdem scheint in Caroline Peters' Augen immer auch eine tiefe Einsamkeit durch, eine Sehnsucht nach Nähe und Halt. So wie Caroline Peters sie spielt, ist Georgie ganz Gefühl, weil jeder Gedanke sie mit ihrer Verlorenheit konfrontieren würde.

Burghart Klaußners Alex geht genau den entgegengesetzten Weg. Mit hängenden Schultern und hängenden Mundwinkeln porträtiert er einen Mann, der Gefühle möglichst ganz aus seinem Leben verbannen will und doch immer wieder von ihnen überwältigt wird. Nicht zufällig greift sich Klaußner mehrmals an die Brust. Eine wunderbar doppeldeutige Geste, die zugleich auf Alex' Alter und mögliche gesundheitliche Probleme wie auf die Schmerzen verweist, die von dessen aufkommenden Gefühlen für Georgie verursacht werden. Wie sehr sich dieser in Einsamkeit alt gewordene Mann vor sich selbst versteckt, ahnt man, als Burghart Klaußner eben nicht nur von der Musik erzählt, die Alex' Leben begleitet, sondern anfängt, Songs von Gene Vincent und Elvis zu singen.

 

Nachtrag

Lore Stefaneks Entscheidung, "Heisenberg" ganz konsequent als Screwball Comedy in Szene zu setzen, fokussiert die Blicke des Publikums auf ihre beiden Stars. Man ist immer ganz nah bei Caroline Peters und Burghart Klaußner, saugt praktisch jede ihrer Regungen und jedes noch so kleine Detail auf. Dabei ergeht es einem dann wie Georgie, die Heisenbergs Unschärferelation einmal so zusammenfasst: "Wenn man etwas intensiv genug beobachtet, begreift man, dass man unmöglich sagen kann, wohin es sich bewegt und wie schnell es dorthin gelangt. [...] Wenn man darauf achtet, wohin es sich bewegt oder wie schnell, dann beobachtet man es nicht mehr richtig." Diese Entscheidung, auf was man sich konzentriert, das Teilchen oder das Ganze, hat Lore Stefanek dem Publikum quasi abgenommen. Während man im Spiel von Peters und Klaußner versinkt, verliert Stephens' theoretischer Überbau seine Bedeutung. Erst wenn die Inszenierung längst vorbei ist und sich im Rückblick die Akzente verschieben, man also plötzlich wieder das Ganze wahrnimmt, drängt sich ein anderer Gedanke auf. Ohne den Autor wären diese beiden zutiefst einsamen, in ihren eigenen Bahnen gefangenen Figuren nie zusammengekommen.

 

Heisenberg
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Deutschsprachige Erstaufführung Regie: Lore Stefanek, Bühne & Kostüm: Janina Audick, Musik: Primus Sitter, Video: Dario Stefanek, Licht: Jean-Mario Bessière, Dramaturgie: Felicitas Zürcher.
Mit: Caroline Peters, Burghart Klaußner, Benedikt Brogsitter / Joseph Herbert.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.dhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Du musst dein Leben ändern! 'Heisenberg' holt diese Aufforderung von den lyrischen Höhen Rilkes herab aufs Normalniveau des intelligenten Boulevards", schreibt Andreas Wilink auf Spiegel-Online (22.10.2016). Lore Stefaneks Regie reichere Stephens' "perfekt gebaute Duo-Sonate" im Screwball-Comedy-Format gewissermaßen sinfonisch an. "Rhythmik, Tempowechsel, Modulation, Farben, fließende Übergänge – die Fülle allerspätester Spätromantik." Man könne 'Heisenberg' vermutlich ganz anders machen. "Doch nicht unbedingt besser."

"Peters und Klaußner bedienen die boulevardeske Oberfläche, aber sie verpassen viele Untertöne – und bei denen liegt die Stärke des Texts. Dass alle diese komischen Volten Strategien gegen die eiskalte Einsamkeit sind, vergisst man fast im Laufe dieses Abends", so Ulrike Gondorf von Deutschlandradio Kultur (22.10.2016). Der amüsante Abend verkaufe das Stück unter Wert.

"Das wirkt alles leicht und man fühlt sich den Darstellern nah. Doch das Abgründige des Stücks bleibt Andeutung", schreibt Dorothee Krings in der Rheinischen Post (24.10.2016).

"Es ist hilfreich, 'Heisenberg' als schöne Liebesgeschichte zu betrachten. Und sich darüber zu freuen, dass richtig gute Schauspieler es schaffen, über Makel hinweg zu spielen, auch über die eines schwächeren Stücks," schreibt Anna Brockmann auf www.derwesten.de (24.10.2016)

"Intelligentes Boulevard mit Tiefgang und Schauspieler-Fest", so Max Kirschner in der Westdeutschen Zeitung (24.10.2016)

Stephens habe mit Georgie "eine Charmebombe erschaffen", findet Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (25.10.2015). Das komödiantische Talent von Caroline Peters, der amtierenden "Schauspielerin des Jahres", sei die Lunte dazu. "Am Anfang fürchtet man, sie könnte ihren Partner an die Wand spielen; allzu defensiv, fast verbockt legt Burghart Klaußner seine Rolle an. Aber in der Regie von Lore Stefanek stimmt die Balance des Abends dann doch."

"Kein großes Drama, aber ein spannendes, mit schnellen Dialogen und beiläufig genauen Einblicken in Gefühls- und Seelenlagen, Befindlichkeiten und Beziehungen", so charakterisiert Andreas Rossmann das Stück von Simon Stephens in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.10.2016). "Leicht, aber nicht unernst, anrührend, aber nicht sentimental." In Lore Stefaneks Inszenierung hat er "hundert Minuten Zweisamkeit" gesehen: "Caroline Peters spielt Georgie mit einer komischen Verve, die, auch wenn sie dick aufträgt, Dünnhäutigkeit durchscheinen lässt", Burghart Klaußner befreie Alex aus seiner brummigen Zurückhaltung und lasse ihn Lockerheit und Lebensfreude gewinnen. 

Peter Kümmel von der Zeit (27.10.2016) stellt fest, die provisorische Spielstätte sei der ideale Ort für ein kaltes, klares Spiel: "Es gibt dort kaum Möglichkeiten, einer Inszenierung technisch aufzuhelfen, man ist aufs pure Können der Darsteller angewiesen." In diesem Abend stecke ein zirzensischer Kern, die Verabredung zweier Artisten: "Du wirst fliegen, und ich werde dich fangen." Das Spiel der Darsteller sei, nach einer Anlaufphase, warm, übermütig, zuversichtlich – "ja am Ende öffnet sich Lore Stefaneks Inszenierung zum metaphysisch-romantischen Zauberspiel".

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