Presseschau vom 4. November 2016 – Der Philosoph Christoph Menke schreibt in der F.A.Z. über den Volksbühnen-Diskurs und ästhetische Weltveränderung durch Theater

Weltveränderungstheater

Weltveränderungstheater

4. November 2016. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nimmt Christoph Menke, Philosophie-Professor der dritten Generation der Frankfurter Schule, direkten Bezug auf Hannah Lühmanns am 2. November in der Welt veröffentlichten Beitrag zur Diskussion um die Intendanz der Berliner Volksbühne. Dort schreibt Lühmann unter anderem, es sei Zeit "dass da mal etwas Neues passiert". Dem entgegnet nun Menke: "Es geht ihr nicht darum, dass das Theater der Volksbühne schlecht wäre, sondern dass Castorf Intendant der Volksbühne wurde, als sie gerade fünf Jahre alt war. Und es geht ihr auch nicht darum, dass nun Chris Dercon, der Neue, ein Theater ankündigte, das sie gut findet. Dercon ist ihr nur sympathisch, weil sie vermutet, dass er sich in der Volksbühne genauso langweilt wie sie es tut."

Konfliktreiche Kollektivität

Wenn Lühmann glaube, so Menke weiter, dass der Widerstand der Volksbühnenbelegschaft gegen den neuen Intendanten "nur ein Akt der Besitzstandswahrung" sei, dann verkenne sie, "worum es in den Forderungen, die Volksbühne als 'Sprechtheater' und ihre eigenartige, konfliktreiche Kollektivität zu erhalten, in Wahrheit geht".

In Wahrheit sei der Streit, so Menke, ein Grundsatzstreit: "Es geht um eine Idee des Theaters, ja, der Kunst." Diese Idee beschreibt Menke dann so: "Die Volksbühnen-Idee des Theaters besagt, dass das ästhetische Experiment, wenn es konsequent durchgeführt wird, die Kraft hat, für den Moment seines Vollzugs die Welt zu verändern. Am Grund dieser Theateridee steht ein höchst unwahrscheinliches, gänzlich unzeitgemäßes Vertrauen in die Kraft der Kunst: dass das Ästhetische, wenn es ernst genommen wird, aus sich selbst heraus weltverändernd ist. Diese weltverändernde Kraft des Ästhetischen ist die Operationsbasis einer neuen Form der Kritik. Sie kritisiert die Immunisierung, die Abdichtung der Welt gegen ihre ästhetische Veränderung."

Formwerdung

Der Berliner Volksbühne gehe es nicht um "Formzertrümmerung", sondern um "Formwerdung". "Das eint so gänzlich verschiedene Theaterpraktiken wie die von Castorf, Fritsch, Marthaler und Pollesch". Es gehe um "den Effekt der Form aus dem Formlosen". "Das wird im Theater selten so radikal gemacht", findet Menke. Entscheidend sei, "dass die Volksbühne weitergeht", da Theater im Gegensatz zu an die Wand gehängten Bildern nie "rein ästhetisch" sei, sondern stets "das Leben in das ästhetische Experiment" mit hineinziehe. Im Volksbühnen-Theater würde dieses Experiment wiederum "zu einem Experiment mit einem anderen Leben." "In Castorfs (Die Brüder) Kamarasow-Inszenierung erfahren wir das Leben anders." Um diese Erfahrung zu ermöglichen brauche es einen "permanenten, agonalen Bezug auf Struktur, Institution und Autorität."

Möglichkeit ästhetischer Weltveränderung

Schlussendlich, so Menke, gehe es im Streit um die Volksbühne also um eine "ebenso einfache wie grundlegende Frage": "Soll das Theater dabei mittun (wie Chris Dercon gesagt hat), 'eine andere Form der Ökonomie auszuprobieren, bei der Kultur eine wichtige Rolle spielt?' (...) Oder geht es um Veränderung – um ästhetische Experimente, die allein durch sich selbst, durch ihre eigene Kraft, verändern, wie wir unser Leben sehen und führen?" Für Dercon sei letzteres Modell eines, das "nichts bringt", zitiert Menke den designierten Intendanten der Volksbühne. "Darum geht es im Streit um die Fortexistenz der Volksbühne: ob die Frage nach der Möglichkeit ästhetischer Weltveränderung weiterhin gestellt werden soll."

(sae)

Kommentare  
Christoph Menke zur Volksbühne: nicht quatschen
Das finde ich sehr in Ordnung, dass es Frau Lühmann darum in ihrem Artikel ging, dass da mal auch was Neues her muss. Sie hat dabei voll einen Volksbühnenton drauf wie sie das so erörtert. Gemixt mit der Lebens-Erfahrung ihrer Generation und der dazugehörigen antrainierten Gelassenheit gegenüber der politischen, welterklärerischen Rechthaberei der älteren. Und sie hat schließlich nicht behauptet, dass etwas Neues nicht mit dem Alten auch zu machen wäre! - Wie es geht hat Castorf, der Volksbühnen-Alte gerade erst wieder mit FAUST-Die Oper bewiesen, oder?. Wenn die Volksbühne, wie sie sich gerade zeigt, sich nur im Ganzen so zeigen würde, wie Castorf, ihr Alter, sie verinnerlicht hat ("Das wird natürlich zerstört. Und dann kommt was Neues - so etwa)! Dann würde sie auch nicht zum Klebe-Button auf den Chiasamen-Gläsern der Jungjournalisten verkommen! - Da wäre keine Gefahr und dann bräuchte sie auch keine Frankfurter Schule in Dritter Generation, die da dem Bestehenden helfend "mittut"(würde da nicht derdings himself rückfragen: Willste Schriftführer wern oder wat?) - Theater ist vor allem immer eines: ZEIGEN und Darstellen - nicht quatschen oder papern. Jedenfalls nichts außerhalb von Dramentext.
Christoph Menke zur Volksbühne: Stockholmsyndrom
Hilde/Hannah und der Chiasamen
Ich fasse ja nicht, wie Theater und Leben ineinander greifen, sich unfreiwillig verschränken, da verschwimmen die Grenzen des Innerhalb und Außerhalb vom Dramentext total, wenngleich das Leben – leider, leider – wesentlich dilettantischer und unvollkommener ist als das Theater:
Solness/Frank: „Irgendwann kommt der Umschlag, kommt das Neue.“
Herdal: „Unsinn! Wieso?“
Solness/Frank: „Die Jugend.“
Herdal: „Pah! Jugend! Sie gehören doch nicht zum alten Eisen. Sie stehen so sicher da, wie nie zuvor.“
Solness/Frank: „Das Neue kommt. Ich ahne es. … Irgendwann kommt die Jugend und klopft an meine Tür –„
Herdal lacht: „Na, Herrgott, und dann?“
Solness/Frank: „Dann? Dann ist es aus mit Frank Castorf.“
Es klopft an die linke Tür. … Hilde Wangel/Hannah Lühmann kommt durch die Korridortür.
Die Kathi Angerer ist ja schon eine Fehlbesetzung in der Castorf-Inszenierung des „Baumeister Solness“, das liegt weniger an den 46 Jahren, die man ihr bei der Aufmachung als Hilde Wangel gar nicht ansieht, das liegt daran dass der Frank mit der Kathi schon lange keine „richtigen Luftschlösser mit Fundament“ mehr bauen will. Und ihn in die tödliche Überforderung treiben? Wenn das überhaupt jemals möglich war, ist es wohl lange vorbei.
Aber jetzt klopft – symbolisch in der WELT – Hannah Lühmann an, die als (End-)Zwanzigerin schon einmal das passendere Alter hat und die sich selbst und der Hilde-Figur – quasi als Empfehlung – gleich die Up-To-Date-Diagnose aufdrückt: „Stockholmsyndrom“ – Opfer und Täter verlieben sich, ein Synonym für: Volksbühne.
Aber damit ist die Luft leider auch schon raus, das Leben ist halt kein Ibsen vor Castorf: „Als ob das Theater unter Castorf klassisches Sprechtheater wäre.“ Da gebe ich Hannah Lühmann recht. „Das Volksbühnentheater ist eine riesige Verschwörung des Jahrgangs 1951, ein pseudoavantgardistischer Taschenspielertrick zur Unterdrückung der Jugend.“ Ob das ausreicht, den Frank in die Enge zu treiben, dass er sich tödlich überfordert sieht? Oder besteht der „pseudoavantgardistische Taschenspielertrick“ eher darin, Frank Castorf (Jahrgang 1951) durch Chris Dercon (Jahrgang 1958) zu ersetzen? Liebe Hannah Lühmann, lass das mit dem Stockholmsyndrom und der Volksbühne, schreibe künftig bitte über Chiasamen und sowas.
Christoph Menke zur Volksbühne: denken, nicht empfinden
Der Text von Frau Lühmann kommt fast vollständig ohne Argument aus.
Alles was sie darlegt sind Ihre außerordentlich bedeutenden Empfindungen. Diese scheinen derart fordernder Natur zu sein, dass wir alle uns bitte auch nach diesen ihren außerordentlich wichtigen Empfindungen verhalten sollen.
Ich empfinde anders. Und man kann sich ja zwischendurch auch mal was denken.
Christoph Menke zur Volksbühne: Zukunft wirds zeigen
Ich fand Hannah Lühmanns Artikel am Anfang sehr vielversprechend, aber sie verlief sich dann leider in Dinge, die mehr mit ihr selbst als mit dem Fokus auf die Volksbühne zu tun hatten.
Letztendlich ist das alles ja auch egal. Wenn Chris Dercon mit einer neuen Programmstruktur kommt, wird sich zeigen, ob das für die Menschen, die sich Eintrittskarten kaufen (!), relevant sein wird oder nicht. Die 25 Jahre vorher können dann ganz schnell nur noch in der Geschichte von Bedeutung sein. Außer natürlich für bestimmte Feuilletonisten, aber da wird sich ja bald bei der Berliner Zeitung zeigen, wie die Dinge aussehen werden, wenn sich alle Redakteure bei dem neuen Verlag neu bewerben müssen.
Christoph Menke zur Volksbühne: Tatsachen schaffen
@4: Stimmt, ist alles egal. Ungefähr so egal, wie die Frage, ob Donald Trump US-Präsident wird. Denn "dann wird sich zeigen", ob die Amerikaner ihn nicht vielleicht doch mögen, allesamt.

Frei nach dem Motto: Erst mal Tatsachen schaffen und dann verwundert dreinblicken. Herrjemineh!
Presseschau Menke: biegen
Man kann sich jeden Vergleich zurecht biegen, den man haben möchte.
Herrjemineh!
Christoph Menke zur Volksbühne: autonomer Zerrspiegel
Und immer wieder Frank Castorf
Großer Kunstpreis der Stadt Berlin, Nestroy-Lebenswerkpreis in Wien, Frank Castorf „steht so sicher da, wie nie zuvor“. Hannah Lühmanns Satz „Das Volksbühnentheater ist eine riesige Verschwörung des Jahrgangs 1951, ein pseudoavantgardistischer Taschenspielertrick zur Unterdrückung der Jugend.“ könnte einem Castorf-Stück entstammen. Und ihre, wie Christoph Menke sagt, „ich-selige Rede“ korrespondiert mit der – durchaus ! – Egomanie Frank Castorfs, der sich selbst den Großen der Literatur überstülpt, der das Privileg genießt, dafür bezahlt zu werden, was ihm Lustbefriedigung bereitet: Seine Wahrheit, auch seine „zerrissene Lebenspraxis“ seinen „Zwiespalt“ und seinen „Konflikt und das, was nicht aufgeht in den jeweils gültigen Konventionen“, auszusprechen, oft ja: herausschreien zu lassen. Während sich „die Jugend“ heute nicht selten bis zur absoluten Selbstverleugnung krummlegen und dies dann noch individualistisch zurechtlügen muss, darf Frank Castorf seit ewigen Zeiten gerade und ungehemmt der Selbstverwirklichung frönen. Natürlich stimme ich Christoph Menke zu: Wer die Volksbühne „abwickeln will, vergeht sich an der Kunst“, aber ich möchte anzweifeln, dass dort „die Frage nach der Möglichkeit ästhetischer Weltveränderung“ gestellt wird. Frank Castorf ist ein autonomer und unverkennbarer Zerrspiegel der paradoxen Welt mit ihrer Informationsflut, deren Wahrheitsgehalt immer unklarer wird, seine Stücke sind Welt- und Lebensbewältigung. Das Revolutionäre, der Gestus der ästhetischen Weltveränderung ist sein „Taschenspielertrick“, tatsächlich ist für ihn die bestehende die beste aller denkbaren Welten, auch in ihrem Chaos, das sich für ihn in Erfolg ummünzt. Nicht zufällig, finde ich, landet er nun bei Goethe und bei Faust II, den der zu Lebzeiten nicht veröffentlichte, weil „der Tag … so absurd und konfus“ sei: „Verwirrende Lehre zu verwirrtem Handel waltet über die Welt.“
Gesteigerte Selbstbedeutung und Selbstverwirklichung schaffen natürlich auch Fallhöhe. Ein durchschnittlicher Sterblicher wie ich ist gut beraten, mit dem Älterwerden von sich abzusehen, die Nähe zum Nichts, in dem man endet, einzuüben. Sinnbildlich ist man schon auf dem Weg zur Talsohle der Lebenskurve und erkennt zurückblickend in schwindelnder Höhe Frank Castorf (oder doch Baumeister Solness ?).
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