Platt gemacht

von Wolfgang Behrens

Dresden, 4. November 2016. In einem Interview, welches das Dresdner Staatsschauspiel im Vorfeld der Stückentwicklung "Requiem für Europa" auf seine Website gestellt hat, sagt der Regisseur Oliver Frljić Folgendes: "[…] ist es nicht der ultimative Zynismus gegenüber den Menschen, die an den Grenzen Europas stehen – wo immer diese Grenze ist – zu sagen, wir akzeptieren die Opfer politischer Unterdrückung, aber nicht Opfer wirtschaftlicher Ausbeutung? Warum? Gibt es einen vernünftigen Grund hierfür? Ist wirtschaftliche Unterdrückung weniger gefährlich als politische Unterdrückung?"

Als ich das lese, fällt mir ein Bild ein, das derzeit in den sozialen Medien kursiert und auf das ich kürzlich durch einen Retweet von @SibylleBerg aufmerksam geworden bin.

RequiemTwitter Und die Europaer so

Ich habe mich durch dieses Bild durchaus ertappt gefühlt: darin, dass auch ich stillschweigend und unreflektiert einen bequemen europäischen Konsens teile, der besagt, dass Wirtschaftsflüchtlinge "hier" nicht erwünscht sind. Vielleicht aber ist ja Oliver Frljić – bewundert viel und viel gescholten für Brachialprovokationen wie Balkan macht frei oder Unsere Gewalt und eure Gewalt – genau der richtige Mann, um einen solchen Konsens aufzukündigen. Wer die fünf gänzlich gleichgültigen Europäer-Mienen des obigen Bildes in Zornesröte überführen möchte, der muss schließlich zu etwas drastischeren Mitteln greifen. Und um Drastik ist Oliver Frljić selten verlegen.

Dresdens Untergang

Deshalb geht's in "Requiem für Europa" auch gleich los mit der Aufrüttelei: Der österreichische Schauspieler Sebastian Pass tritt mit roter Clownsnase vor den Vorhang und trägt mit ruhiger Stimme ein ungeheuerliches Anliegen vor: Er wünscht Dresden, "dass es platt gemacht wird. Nicht ein Stein soll euch bleiben. Schutt und Asche. Verrecken sollt ihr." (Halblaut und trocken kommentiert eine Zuschauerin: "Hatten'wer schon!") Aha, denkt man, die Destabilisierung des Publikums beginnt. Jetzt wird es an die Schmerzpunkte gehen, und am Ende wird zwar nicht Dresden, aber unser schönes, auf kolonialistischen Lügen errichtetes Konstrukt Europa in Schutt und Asche liegen. Denn nun feuern die fünf sämtlich clownsbenasten Darsteller*innen die Fragen des Abends in den Saal: "Vor wem hat Europa am meisten Angst?", "Hat Europa Mundgeruch?" oder "Wer wird zu Europas Beerdigung kommen?"

Requiem1 560 David Baltzer uZu harmlos, um zornig zu machen: Sebastian Pass, Benjamin Pauquet, Alexandra Weis, Loris Kubeng © David Baltzer

Was folgt, ist erschütternd. Erschütternd in der Billigkeit, mit der Oliver Frljić glaubt, seine Dekonstruktion betreiben zu können. Ihr wollt den großen Europäer Martin Luther feiern? Ha, wisst ihr denn nicht, dass er "Von den Juden und ihren Lügen" geschrieben hat? Doch, wissen wir, möchte man rufen, doch derweil zwingt Benjamin Pauquet bereits einen Zuschauer auf die Bühne – unter der Androhung, ansonsten Pegida 20 Euro zu spenden – und lässt ihn Passagen des Luther-Textes lesen. Ja, irre entlarvend: "Dresdner liest antisemitischen Luther-Text" wird wahrscheinlich morgen die Bild-Zeitung titeln …

Vergeblicher Verrat

Apropos Pegida: Später wird Benjamin Pauqet darüber reden, dass es auch in der Technik-Abteilung des Theaters Pegida-Sympathisanten gebe und stellt dem Publikum anheim, ihn zur Denunziation dieser Mitarbeiter aufzufordern. Der Monolog wirkt so, als habe Frljić bei dem Wort Dresden tatsächlich und überraschenderweise Pegida assoziiert und wolle da jetzt zumindest noch ein klein wenig Provo-Potential herausschlagen. Er benutzt aber Pegida nur als Etikett, so wie ebenfalls völlig folgenlos der "13. Februar 1945" (der Tag der Bombardierung Dresdens) als Schriftzug an einem hausförmigen Holzgestell präsent gehalten wird. Um Europa oder auch nur Dresden zu dekonstruieren, bedarf es freilich schon etwas mehr, als mit ein paar beliebig aufgeschnappten Schlagwörtern zu jonglieren. Da helfen dann auch kein bedeutungshubernder Soundtrack und keine im raunenden Flüsterton vorgetragenen Kafka-Texte mehr.

Am Ende wird uns Europa (immerhin ja auch eine von Zeus vergewaltigte Königstochter) im fahlen Dämmerlicht eines Bordells mit Lazarettbetten als sterbende Hure vorgeführt – irgendwie ein schönes und elegisches Bild. Doch um wirklich etwas über Europa zu erzählen, ist es zu spät. In keine der fünf gleichgültigen Mienen von oben vermag dieser Abend auch nur eine Spur von Zornesröte zu bringen – Oliver Frljić hat uns nur eine rote Clownsnase gedreht. Und eine ausnehmend öde dazu.

 

Requiem für Europa
von Oliver Frljić und Ensemble
Regie: Oliver Frljić, Bühne und Kostüme: Oliver Frljić, Anne-Alma Quastenberg, Licht: Peter Lorenz, Dramaturgie: Michael Isenberg, Marija Karaklajić.
Mit: Annedore Bauer, Loris Kubeng, Sebastian Pass, Benjamin Pauquet, Alexandra Weis.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Frljić thematisiere "stets auch seine eigene Käuflichkeit im Theaterbetrieb sowie die durchaus sensationslüsternen Geschmacksgrenzen des bildungsbürgerlichen Publikums", sagt Eva Behrendt auf der Website von Deutschlandradio Kultur (Zugriff 7. November 2016). "Seine apokalyptische Dresdener Bildercollage" knüpfe an frühere Arbeiten an, "indem sie auf alle nur erdenklichen Schmerzpunkte drückt. Mit gemischtem Ergebnis: Ja, autsch, es tut weh, aber irgendwann verstellt die Absicht auch die Wirkung."

"Den Abend an mehreren Stellen zu arretieren, bis sich endlich Zuschauer zur Partizipation aufraffen", sei "ein guter, ein notwendiger Schachzug, der den Gestus geradezu verzweifelter Aktualität unterstreicht, denn die Verzweiflung – das wusste schon der große Friedrich Dürrenmatt, der in seinen letzten Stücken ein nicht weniger frenetisches, ja beinah debiles Welttheater aufführt – kennt keine Distanz", schreibt Wieland Schwanebeck in den Dresdner Neusten Nachrichten (7.11.2016). "Der etwas zögerlich losgetretene, aber umso beherztere Schlussapplaus, der durchweg Einverständnis signalisiert", deute an, "dass 'Requiem für Europa' Eulen ins marode Athen trägt und Frljićs theatraler Zorn auf offene Ohren trifft. Nur leider ist Zorn, um es mit Hagen Rether zu sagen, auch nur 'Wut mit Abitur'."

Rafael Barth von der Sächsischen Zeitung (7.11.2016) schreibt: "So offen hat das Staatsschausiel sich bislang nicht getraut, darüber zu sprechen, wie es eingekeilt ist in das Zerwürfnis unserer Zeit." Es verfange nicht jeder Schnipssel aus diesem Provokationskonfetti. "Doch insgesamt gelingt Frljić ein Abend, der Diskurse über Geschichte und Gegenwart kontrastreich in Szene setzt." Und weiter: "Könnte man den Abend aufbewahren: Er lieferte auch Nachgeborenen eine bild- und klangstarke Deutung von den Wallungen Europas dieser Tage."

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