Die kleinste gemeinsame Benimmregel

von Gabi Hift

Berlin, 8. November 2016. Einerseits – sind das vier extrem sympathische Menschen. Wie sie da an einem langen Tisch einträchtig schnippeln, filetieren und mischen – eine Italienerin, eine Japanerin, ein Grieche und ein Syrer, das ist ein schönes Bild. Andererseits – kennen wir das nicht von irgendwo, diese ruhige Heiterkeit bei Tisch? Dieses: "Beim Essen wird nicht gestritten! Da wollen wir's nett haben miteinander"?

Einerseits erfahren wir in "Bloody, medium oder durch" Interessantes übers Kochen: welche Art Herd man mitten in der Wüste bauen kann um ein ganzes Kamel zu braten. Was die drei Arten der Dankbarkeit sind, die man für Karotten empfinden kann. Andererseits warten wir im Ballhaus Naunynstraße vergebens auf das im Programm angekündigte Drama.

Zu Tisch!

Die vier Darsteller erzählen, wie es sie nach Berlin verschlagen hat, welche Rolle dabei die Gastronomie gespielt hat. Alles angenehm locker und wie improvisiert. Dass keinerlei Spannung aufkommt, scheint kein Fehler zu sein, sondern Absicht. Aber welche? Was will der Regisseur Anestis Azas? Sollen wir von neuer Freundlichkeit und globalen guten Tischmanieren angesteckt werden?

Bloody1 560 UteLangkafel uVerdoppelte Abendessensgesellschaft © Ute Langkafel / Maifoto

Dabei könnten die "Grundwerte" der vier Darsteller kaum unterschiedlicher sein. Nicole Sartirani und Michail Fotopoulos sind Schauspieler – wie die meisten Schauspieler kellnern sie dazwischen auch mal. Dass der Stundenlohn miserabel ist, stört sie nur mäßig, Christiane Rösingers Frage: "Ist das jetzt noch Bohème oder schon Unterschicht?" stellen sie sich gar nicht. Vielleicht, weil "Schicht" und "Klasse" Gegensätze implizieren – hier aber ist alles freundliches Nebeneinander.

Lächeln und schweigen statt diskutieren

Die anderen beiden Darsteller sind keine Schauspieler, sondern Experten ihres eigenen Lebens. Karaou Iryama ist Showköchin und Chefin eines Cateringunternehmens. Sie ist Schülerin eines japanischen Meisterkochs und nimmt sowohl Kochen als auch Geldverdienen ernst. Als Michail Fotopoulos erzählt, dass er sich auch mal arbeitslos meldet und schwarz dazuverdient, lächelt das Publikum komplizenhaft – dass alle Anwesenden das als Kavaliersdelikt betrachten, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Nur Iryama sagt, in Japan würde man sich so sehr schämen arbeitslos zu sein, dass es unmöglich sei darüber zu reden. Nun geht aber nicht etwa eine Diskussion über Scham, Arbeit, Wert in der Gesellschaft, Zugehörigkeit o.ä. los. Nein, Michail lächelt einfach und schweigt.

Der Syrer Nizar Bazal löst immerhin eine kleine Irritation aus, als er erzählt, dass er sich in Griechenland erst vor kurzem zwei Wohnungen gekauft habe. Dem Griechen Michail, der selbst keine Immobilien in seiner Heimat hat, erklärt er: Wer in Griechenland Immobilien für mindestens 250.000 Euro kauft, bekommt im Gegenzug eine Aufenthaltsgenehmigung. Bazal ist ein hochqualifizierter Erfolgsmensch, Mathematiker und Erfinder diverser Maschinen. Er hat zwanzig Jahre lang in Abu Dhabi gearbeitet, und sein Einkommen war wahrscheinlich an die hundert Mal höher als das der beiden Schauspieler. Jetzt leitet und organisiert er die Küche in der Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in Tempelhof und hat die Kosten mit seinen Managementfähigkeiten um 70 Prozent gesenkt. Der deutsche Staat hat bereits enorm von ihm profitiert – und Bazal wird, sobald er endlich eine Arbeitsgenehmigung hat, vermutlich bald wieder ganz oben sein.

Keine Klassenunterschiede?

Über diese enormen Unterschiede der "Stellung in der Welt" wird nicht gesprochen. Dass es Klassenunterschiede im Land, aber auch solche zwischen Ländern gibt. Dass die Neubestimmung des Status' – oder sein Verlust – schmerzlich und gefährlich ist für die, die Länder wechseln müssen – darüber könnten die vier ja auch nur sprechen, wenn sie es zulassen würden, dass die Unterschiede zwischen ihnen aufs Tapet kämen.

Doch Knigge sagt – und ihm wird hier gefolgt: Damit Fremde sich miteinander wohlfühlen, dürfe man nicht über Geld reden, nicht über Politik und nicht über Religion. Und wenn doch einer einen Fauxpas begeht, dann ist es höflich, ihn einfach mit einem Lächeln zu überhören. Man soll nur über Unverfängliches sprechen; wie das Essen schmeckt und wie man es zubereitet. Und über das Wetter.

Einerseits muss das vielleicht jetzt so sein mit dieser irritierenden Freundlichkeit: in einer Welt, wo alle sich beschimpfen, abschieben, erschlagen wollen. Vielleicht sind die Leute so verroht, dass das Theater ihnen Manieren beibringen muss. Andererseits … sind wir vor langer Zeit einmal weggelaufen vor der Höflichkeit und dem Schweigen – und sind ins Theater, weil dort laut ausgesprochen werden konnte, was los ist. Weil dort auch Verbotenes gesagt und getan wurde.

Bloody, medium oder durch
von Anestis Azas, Alina Spachidis & Ensemble
Regie: Anestis Azas, Bühne und Kostüme: Michaela Muchina, Soundtrack: Michail Fotopoulos, Dramaturgie: Alina Spachidis, Video: Mehmet Can Koçak.
Mit: Nizar Basal, David Boylan, Michail Fotopoulos, Kaoru Iriyama, Nicole Sartirani.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.ballhausnaunynstrasse.de

 

Kritikenrundschau

Mit "Bloody, Medium oder durch" untermauere Azas, "dass spannende Lebenswege im dokumentarischen Theater mehr als die halbe Miete sind", so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (10.11.2016). Dabei vergesse er nie, "dass Theater im besten Fall alle Sinne anspricht".

"Es muss nicht verkehrt sein, dass dieses am Gastronomiebetrieb gepitchte Soziogramm weniger investigative Intentionen hat, als es vorgibt", schreibt Astrid Kaminski in der taz (11.11.2016). Allerdings komme die Reihung von Lebensläufen, die sich letztlich alle um die Frage nach dem eigenen Platz in der Welt drehen, kaum übers Aufsagen hinaus. Die schmucklose Bühne mit Küchenrequisiten wirkt wie ein Rudiment aus Azas’ Vorgängerinszenierung "Telemachos". Und "überhaupt scheint der Regisseur auf Sparflamme zu kochen. Die Fragen, die sein Fusion-Cast aufwirft, werden einfach untergerührt: Lifestyle und soziale Verantwortung, das Recht auf den eigenen Lebensentwurf und 'Failing States', eine Prise Steuer­rechtliches."

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