Blog - Nach dem Wahlsieg Donald Trumps erinnert Georg Kasch seine Generation an ihre Verantwortung
Wir sind mitschuldig
von Georg Kasch
9. November 2016. Russland. Ungarn. Polen. Brasilien. Türkei. Jetzt die USA. (Von vielen asiatischen und afrikanischen Demokraturen zu schweigen.) Und dann? Österreich mit einem FPÖ-Präsidenten? Frankreich mit einer FN-Präsidentin? Und die AfD? Ich fühle mich umzingelt. Vermutlich ist jetzt die Zeit längst gekommen, die Couch zu verlassen, um was zu tun. Aber was genau? NGO? Partei? Klassenkampf? Vorschläge, anyone?
Politisch aktiv sein – wie geht das?
Ich habe das Gefühl, dass meine Generation nie gelernt hat, was das heißt: politisch aktiv zu sein. Lief ja alles, irgendwie. Und nun? Lange hatte ich den Eindruck, dass es reicht, mit ein bisschen Konsum und gutem Willen die Welt zu verändern: Ökostrom, Biofleisch, Fair-Trade-Kaffee (um dann beim Klamottenkauf doch wieder bei H&M zu landen). Dazu ein paar Geldspenden und alte Klamotten für die Flüchtenden. In den letzten 15 Jahren war ich genau auf drei Demos (CSDs nicht mitgerechnet) – und kam mir auf zweien seltsam und deplatziert vor. Während der Weltwirschaftskrise hatte ich zudem den Eindruck, dass wir alle im selben Boot sitzen. Und dass die Politik schon die richtigen Lehren daraus ziehen würde.
Dabei ist schon davor die Schere ordentlich auseinandergegangen. Und dass wir, die meisten der halbprekären Kulturarbeiter, uns zwar im Zweifel nicht mit den Eliten identifizierten, half wenig dabei, als Eliten wahrgenommen zu werden – und vermutlich auch, welche zu sein. Wir sind überdurchschnittlich gebildet und verdienen in den meisten Fällen mehr als ein*e Supermarktkassierer*in. Wenn das nicht zum Leben reicht, ist ja der eigentliche Skandal, dass Supermarktkassierer*innen (und viele, viele weitere Menschen in ähnlichen Berufen) so entsetzlich wenig verdienen. Mal ehrlich: Können wir uns wirklich in einen Hartz-IV-Empfänger in Gera oder eine Arbeitslose in Bochum hineinversetzen?
Arroganz aus Versehen
Ich glaube, es gibt in den (geistigen) Eliten eine Arroganz aus Versehen, die mitschuld ist an dem, was in der Welt passiert. Weil wir, diese geistigen Eliten, im Grunde Globalisierungsgewinner sind. Wir sind es ja, die internationale Freundes- und Kollegenkreise haben, die fließend Englisch sprechen, um die Welt (easy)jetten, sich so weit selbst optimiert haben, dass wir auch mit unseren kreativen Jobs überleben können. Bei allem Weltblick geht uns manchmal die Nahsicht verloren, leben wir oft genug in Blasen, auf Facebook wie im echten Leben. Oder kennen Sie jemanden, der die AfD wählt? Und wenn ja, wie erfolgreich (im Sinne einer echten Auseinandersetzung) haben Sie mit ihm / ihr diskutiert?
Der Elite-Verdacht
Ich will nicht zurück zu einem Bitterfelder Weg oder zu einem intellektuellen Paternalismus, in dem die gebildete Linke den Arbeitern vorschreibt, was sie zu fordern und zu wollen hat (etwa Romain Rollands heute ziemlich gruselig erscheinendes Konzept eines Volkstheaters). Aber ich habe doch den Eindruck, dass wir uns wieder mehr füreinander interessieren müssen – klassenübergreifend. Eines der merkwürdigsten Phänomene ist doch, dass Institutionen, die mit Bürgerlichkeit in Verbindung gebracht werden – wie Theater, Oper, Tanz, wenn sie denn staatlich gefördert werden – immer weniger Rückhalt zu haben scheinen in der Gesellschaft. Und das nicht nur, weil es keine inhaltliche und ästhetische Anbindung mehr gibt (das war früher ja auch nicht so viel anders). Sondern weil diese Institutionen im Elite-Verdacht stehen. Ein Eliteverdacht, der Hillary Clinton (neben anderem) den Sieg bei der US-Wahl gekostet hat.
Und nun? Wie runter von der Couch? Wie – trotz der großen privaten Gemütlichkeit, trotz des arbeitsvollen Schreibtisches, trotz der vielen kleinen Freuden, die mich so wunderbar ablenken – aufbrechen? Die Frage ist ernst gemeint.
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Und dann: Mit einer Beteiligung an 3 Demos liegen Sie, Herr Elite-(:))Kasch, ganz gut im Rennen - ich war auf KEINER. Nicht einer. Nicht einmal CSD und wissen Sie was? - Die haben auch ohne mich stattgefunden und sind auch ohne mich in die Zeitung gekommen!
ich bin fast zwanzig Jahre älter als sie und ich bin nicht mitschuldig. Ich habe mit ca. vierzig Jahren gelernt, dass wenn ich weiterhin politisch frei denken möchte, ich auf Anerkennung verzichten muss.
1. Europa muss allein für seine Verteidigung sorgen.
2. Das Krankensystem in den USA wird zurückgenommen.
3. Gleichgeschlechtliche Ehen werden nicht anerkannt.
4. Jeder Amerikaner hat das Recht eine Waffe zu tragen.
5. Die Steuern werden heruntergefahren.
6. Zu Mexiko wird eine Mauer errichtet, die keinen Menschen mehr durchlässt.
7. Moslems werden nicht in Amerika eingelassen.
8. Er will gute Beziehungen zu Putin aufbauen, der feiert den Sieg Trumps, zwei Despoten am den wichtigsten Machthebeln. Das kann schrecklich werden.
9. Er will den islamischen Staat in die Hölle bomben.
10. Er will die Zusagen zum Klimagipfel in Paris sofort zurücknehmen und aussteigen. Über Twitter liefert er regelmäßig Sätze, die die Fans beglücken. „Es ist wirklich kalt draußen“, schrieb Trump kürzlich. „Und das Wochen, bevor das normalerweise passiert. Mensch, wir könnten eine dicke fette Dosis Erderwärmung gebrauchen.“
11. Wozu haben wir Atomwaffen, wenn wir sie nicht nutzen, sinn gemäß Trump.
Dazu kommen seine Äußerungen zu Frauen, zu Minderheiten und zu Schwulen, die alle nicht politisch korrekt, sondern menschenverachtend sind.
Soweit dazu und zu den berechtigten Ängsten, die die Menschen haben, wenn dieser Mann die Geschicke eines der wichtigsten und mächtigsten Länder dieser Erde übernimmt. Dieser Mann ist ein Typ des modernen Tyrannen: kurzzeitige, schnelle Entscheidungen im Alleingang zu treffen, Opposition auszuschalten und mit populistischen Ideen gerade Menschen, die wenig Bildung haben, besorgte Bürger*innen für einfache Lösungen zu rekrutieren und gefügig zu machen.
Und da muss angesetzt werden, Bildung, politische Bildung gehört in unsere Schulen. Die jungen Generationen sensibilisieren, aufklären und selbst erfahren lassen, warum es gerade heute gilt, die Demokratie zu verteidigen, ist eine der wesentlichen Aufgaben. Es geht um die Auseinandersetzung der Kinder untereinander in einem so pluralistischen Schulsystem, wie wir es haben zwischen 100% deutsch und 98 % migrantisch. Hier muss man sich mit den Petris, den Erdogans, den Putins, den Trumps, den Orbans, den Le Pens auseinandersetzen. Die Kids müssen diskutieren und für Demokratie aufgeschlossen werden. Das geht, meine Erfahrung mit der U18 Wahl an meiner Schule.
Gysi: Das einzige was wir im Augenblick wirklich nicht unbedingt gebrauchen ist das Freihandelsabkommen TTIP, schon gar nicht so, wie es geplant ist. Damit kann ich ganz gut leben. Aber mit dem Rest kann ich schlecht leben.
Papst: Man werde die Regierung von Trump ins Gebet einschließen, damit „Gott ihn erleuchte“ und ihn beim Dienst für das Volk aber auch für den Weltfrieden unterstütze.
Außenminister Steinmeier gratuliert nicht, Merkel ist nüchtern, in dem, was sie sagt. Bei Putin und Le Pen knallen schon einmal ein paar „Korken“.
Es geht ein Gespenst um auf dieser Erde, das des Rechtsrucks, einhergehend mit einer vereinfachten Sicht, wie soll der Mensch leben: national, männlich, homophob, christlich oder islamisch, kurz gläubig. Das ist nicht meine Welt. Ich hoffe, Europa findet nun endliche seinen Weg aus der langen Tradition und seinen Erfahrungen, mit gleichberechtigten Nationen. Hoffnung geben uns neben den Kernstaaten der EU, wenn sie ihren demokratischen Idealen treu bleiben und endlich ökonomische Vormachtstellungen aufgeben, das Baltikum, auch das neue Luxemburg oder die Griechen.
In Deutschland müssen sich aus meiner Sicht die Parteien wieder in ihren politischen Leitideen voneinander unterscheiden. Einzig die CSU ist für mich, dass, was ich nicht will, aber die einen demokratischen Background hat. Alles andere ist leider austauschbar und macht die AfD stark. Die Linken sind eine Alternative für intellektuelle Denker, keineswegs für Arbeiter. Die SPD ist rechter als Merkels CDU. Die FDP verschwindet, liberale Größe hat sie nicht mehr. Mit Tegel kann man wirklich nicht punkten und Wähler gewinnen, auch wenn sie liberal sind, aber unter den Flugschneisen Tegels wohnen. Die CDU tanzt in der Mitte, liberal, sozial, christlich mit linkem, sozialdemokratischem und grünem Schmuckwerk, kurz eigentlich sympathisch. Merkel sitzt alles aus und ist am Ende immer auf der richtigen Seite. Dafür brüllen Woche für Woche sächsische Mehrheiten und andersdeutsche Minderheiten „Merkel muss weg!“ Bleiben die Grünen mit immer neuen Ideen, aber zu wenig Konstanz, die sie einmal in der Opposition hatten. Kretschmann könnte sogar mit der CDU Bundespräsident werden. Wie verrückt ist dieses Land? Ich will wieder eine Partei aus reinem Gewissen und wegen ihres Programms wählen können!
Amerika hat gewählt und ich bin traurig. Irgendwie gut an diesem Tag Pussy Riot zu Trump sinngemäß: Es ist wie in einem Gefängnis, in dem man lebt. Nun muss man sich einrichten und einen Weg finden.
Tun wir das und finden einen Ausweg. Schnell! Für Europa!
Ja, Menschen wollen glauben. Weil sie w i s s e n, dass ihnen auch Wissen fehlt und weil sie den Medien bei der Wissensvermittlung - und zu guten Teilen auch zurecht - misstrauen. Weil sie dahinter wirtschaftliche und politisch-ideologische Interessengelenktheit in verschiedener Beziehung vermutenahnenspüren. Deshalb wollen sie Leute, denen man glauben kann, dass sie a) wissen, was sie sagen und b) tun werden, was sie versprochen haben. Die Hoffnung, dass es Leute bis in den wählerrelevanten Machtbereich schaffen, die nach bestem Wissen und Gewissen ihnen die Wahrheit über die Motive ihrer Absichten sagen werden, haben sie, die Leute, bereits aufgegeben. Und DAS ist das eigentliche Trauerspiel, dass allein das sich immer mehr militarisierende Großkapital zu verantworten hat.
Zu dem heute die Digital-Medienkonzerne neben der Rüstungsindustrie und der Bio-Chemie gehören. Nein, die Finanz-Industrie ist keine eigenständige Industrie, die leider leider niemand verstehen kann, weshalb immer wieder öffentlichkeitswirksam auf die Kapitalmärkte als Markt-Phänomene verwiesen wird... Die Finanzmärkte sind nur bereits schon in festen Händen der genannten Konzern-Imperien.
Es ist kein Privileg, etwas in Frage zu stellen. Das wäre erträglich zu unterwandern. Durch den Mangel an staatsbürgerlicher Volks-Bildung ist es aber ein Privileg geworden, etwas in Frage stellen zu KÖNNEN. Und das ist ein Skandal der unserer Demokratie innewohnt. - "ICH" kann in Frage stellen und hinter-fragen und die Mehrheit nicht - das ist genau ebenfalls ein selbstgewisser Anspruch, der mit einem Willen zur Freiheit und zu einer gelebten Brüderlichkeit nichts gemein hat - und Elite für sich selbst halt doch ganz gern beansprucht...Und für dieses gut zugeschüttete Herren-Denktum kann man sich durchaus auch mal schuldig fühlen. Ab und an. Vor allem in Deutschland und auch in Österreich - Die Hassenden sind immer die andern, ja?
Für Theatermacher heißt das aus meiner Sicht: macht gutes, relevantes Theater. Ich möchte hier nicht der Vereinfachung das Wort reden, aber Theater wirkt ganz offensichtlich auf jeden, der es sich ansieht. Wenn es denn dann zugänglicher wäre, Schwellen niedriger, es komplex bleibt, aber nicht kompliziert ist, dann glaube ich nach wie vor daran dass Kunst uns zu besseren Menschen macht und Gesellschaft besser macht.
Ein letzter Absatz zu Trump. Dies hat Peter Thiel gesagt, den ich in vieler Hinsicht unsympathisch finde, aber dies ist klug: "I think one thing that should be distinguished here is that the media is always taking Trump literally. It never takes him seriously, but it always takes him literally. ... I think a lot of voters who vote for Trump take Trump seriously but not literally, so when they hear things like the Muslim comment or the wall comment, their question is not, 'Are you going to build a wall like the Great Wall of China?' or, you know, 'How exactly are you going to enforce these tests?' What they hear is we're going to have a saner, more sensible immigration policy."
Wir müssen die Demagogen ernster nehmen und bekämpfen, und runter von der Ironisierungs-Couch.
Was ich als nicht so schön empfinde, ist Ihre Art der Argumentation mit dem Vergleich zu anderen Jugendlichen, wo "Mami und Papi" schon zahlen. Ja, vielleicht ist das so. Die haben sich ja vielleicht auch erst hochgearbeitet. Und sind deswegen da angelangt, wo sie jetzt stehen. Und da können die ihren Kinder auch helfen, beim Start Up. Ist doch okay. Es braucht aber eben auch das Bewusstsein für andere Jugendliche, die diese Teilhabechancen nicht von vornherein haben. Ist klar, da gehe ich mit. Das ist für mich aber vor allem Aufgabe der Politik, da Chancengleichheit zu schaffen, echte Chancengleichheit, nicht nur Bildungspakete, die dann möglicherweise gar nicht in Anspruch genommen werden, weil keiner überall immer erstmal einen Antrag stellen möchte usw. und mancher auch einfach keine Ahnung hat, dass es sowas überhaupt gibt. Und diese Chancengleichheit könnte man ja eigentlich auch locker schaffen, zum Beispiel alle Rüstungs-, Prestigeprojekt- und Flughafenausgaben (zum Beispiel in Berlin) runter und mit diesem Geld alle Bildungs-, Sozial- und Kulturausgaben hoch. Oder denke ich da zu naiv? Ansonsten kommt es zu genau diesen Neidgefühlen zwischen Menschen, die ich auf jeden Fall(!) nachvollziehen kann. Die aber eben nicht schön sind. Man weiss eben auch erst, wie sich das anfühlt, wenn man es selbst erlebt hat. Auch in Bezug auf andere, elementar wichtige Dinge (ansonsten braucht mensch Neid nicht, genauer den materiellen Neid) des Lebens (mit Kindern), zum Beispiel einen sofortigen Kitaplatz ohne Warteliste und dergleichen Schmuh, denn ein Kitaplatz unter drei bzw. ab einem Jahr ist bundesweit das Recht ALLER Kinder, unabhängig von ihrem Betreuungsbedarf (davon unberührt bleibt die freie Wahl der Eltern, ab wann sie ihr Kind in die Kita geben wollen).
Zudem teile ich Ihre Idee eines zentralen Bildungsplans (wahrscheinlich dann in Ihrer Sicht pro DDR?, das wäre dann ja auch nicht ausgewogen, oder?) nicht. Es ist Ihre Sicht, wenn Sie nun meinen, dass nach der Wende in allen Schulen nur noch "der Kapitalismus" gelehrt wird. Es gibt ja zum Beispiel auch freie Schulen. So einfach wie Sie würde ich das nicht sehen (wollen). Ich würde vor allem nicht von "Schuld" sprechen wollen, wie Herr Kasch. Über einen solchen Begriff hetzt man auch nur wieder Menschen bzw. Menschengruppen gegeneinander. Es würde nur gehen, wenn sich alle Menschen von vornherein als politische Gemeinschaft sehen würden, die nur funktionieren kann, wenn klar wird, dass ohne den jeweils anderen nichts geht. Beispiel: "Der Arbeiter" baut Kitas, in welchen dann auch seine eigenen Kinder unterkommen können müssten, damit sie von Beginn an gemeinsam mit anderen voneinander lernen können. Das beginnt nicht erst in der Schule. Natürlich ist klar, dass man dafür dann auch noch eine gemischte, diverse whatever Wohnbevölkerunng, bezahlbare Mieten (über Genossenschaften?) usw. braucht, um dieses Miteinander wirklich in die Praxis umsetzen zu können.
Amerika oder Deutschland, wenn wir die Grenzen zwischen Menschen in den Köpfen und real nicht auflösen, so dass es nicht fließen kann zwischen den Menschen, dann passiert auch nichts. (Mit-)Schuld ist hier (in meiner Sicht) also nicht das Thema.
Neidgefühle sind normal wie andere Gefühle auch. Es ist bequem, Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten und Chancenungleichheit mit unbeherrschten Neidgefühlen in die Ecke eines schlechten Gewissens zu treiben:"wennichsage,dassichauchgerneeinenzinslosenBildungskredit hätte, den ich nicht zurückzahlen muss, weil meine Eltern nie die Chance hatten, sich hier "hoch"zuarbeiten, bin ich neidisch - das darf man nicht! - da bin ich unmoralisch und werde auch so behandelt!" - Können Sie einmal genauer für mich erklären was "hoch"-arbeiten ist, und wo genau man dann dasteht, wenn man sich nach Ihren Begriffen "hoch"gearbeitet hat?? - Denn es kann sehr gut sein, dass ich da zu naiv bin.
Ich bin heute zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht nur an der, Ihren Ernst, also Ironiefreiheit, betonenden Fragestellung nach einer eventuell eigenen Schuld an den bestehenden Verhältnissen, lag. Es hat mich besonders, glaube ich, emotional angesprochen, dass Sie von „Eliten“ und zwar in der Form „wir“ gesprochen haben. Das hab ich als derart offenherzig gebraucht empfunden, dass mich das sehr angerührt hat. Ich glaube, sehr viele Menschen denken von sich, „Elite“ zu sein oder zu einer zu gehören und würden das trotzdem niemals offen formulieren! Deshalb fand ich das überaus mutig, dass Sie das sogar öffentlich getan haben. Und es hat mich sehr neugierig gemacht, mehr von ganz speziell Ihnen darüber zu erfahren. Weil ich jetzt, nach Ihrer letzten Kolumne, auf Ihre Offen-herzigkeit auch in anderen Fragen vertraue: Könnten Sie mir bitte erörtern, was genau Sie unter dem Begriff „Elite“ verstehen? Und was Ihre Erfahrung ist, was allgemein Leute unter „Elite“ verstehen? Und was Sie meinen, wie es den Textinhalt ändert, wenn man statt „Elite“, „Eliten“ sagt, also in den Plural wechselt? Und was es ändert, wenn man nicht nur sich, sondern sich selbst und andere meint damit. Offensichtlich, weil man „wir“ statt ich sagt. Auch dies ist ja –aus meiner Sicht - eine wirklich mutige Behauptung! Sie sind ja merkwürdigerweise hier nicht angegriffen worden dafür, dass Sie einfach „Wir-Eliten“ schreiben, sondern ernteten primär dafür Widerspruch, dass Sie die gedachte Möglichkeit einer Mit-Schuld an den Verhältnissen in den Raum stellten… Dieser Vorgang interessiert mich aus kommunikationstheoretischen Gründen sehr.
(Sehr geehrte Redaktion, streichen Sie bitte einfach meinen Eingangs-Sermus des Kommentars, der für andere Leser unwichtig ist, aber doch Ihr Verständnis als Kolumnenbetreiber für meinen Kommentar eventuell vertiefen kann. Danke.)
Und warum gehen Sie davon aus, dass es eine "staatsbürgerliche Bildung" nicht gebe? Die gibt es sicher, schreiben Sie da nicht etwas zu sehr aus Ihrer eigenen, vorurteilsbelasteten Sicht? Haben Sie denn Erfahrungen damit, was wirklich zum Beispiel im Politikunterricht der Gesamtschulen und Gymnasien usw. heute unterrichtet wird?
Es geht nicht um das schlechte Gewissen bei Neidgefühlen, das meinte ich nicht, im Gegenteil.. Neidgefühlen könnte in der Weise entgegengearbeitet werden, dass man allen Kindern erklärt, dass es nicht darauf ankommt, dass jede/r ein Auto, einen Flachbildschirmfernseher, ein Tablet usw. hat. Das heisst, Neid ist ja oft eher der Neid auf Materielles, gerade bei Kindern und Jugendlichen (Stichwort: Konsumgesellschaft). Ein Buddhist zum Beispiel ist nicht neidisch auf seine hedonistisch-materialistisch eingestellten Mitmenschen, weil er sich selbst(!) davon überzeugt hat, dass er all diese Dinge nicht braucht.
Ich weiss nicht, aus welchen Gründen sich Ihre Eltern hier nie "hocharbeiten" konnten. Vielleicht hatten sie nicht die Ausbildung/das Studium usw. dazu? Jede/r, der will, kann das in Deutschland doch auch machen, zunächst mal über BAföG usw. Es steht doch erstmal jedem offen. Wenn nicht Ihren Eltern, dann Ihnen selbst. Ich empfinde es als unpassend, das dann nicht auch erstmal so anzunehmen, sondern stattdessen immer nur weiter auf "die da oben" zu schimpfen, deren Kinder es besser hätten. Für mich ist das nicht der Weg, dieser permanente Vergleich mit anderen. Für mich entsteht so nur noch mehr Krieg zwischen Menschen, der dann auch wieder nur Biografien zerstört, möglicherweise. Das kann ja irgendwie nicht der Sinn des menschlichen Zusammenlebens sein, oder? Wenn am Ende alle (auch seelisch) kaputt sind, deswegen.