Die Schaubühne als moralinsaure Anstalt

von Michael Wolf

16. November 2016. So-tun-als-ob und sich dabei zuschauen lassen – das ist seit Jahrtausenden das Kerngeschäft der Theaterschaffenden. Inzwischen sind sie so gut, dass sie sich sogar selbst betrügen können. Dem Dramaturgen Harald Wolff gelang kürzlich in einem Brief an Kulturpolitiker ein glänzendes Beispiel:

Er beschrieb Theater als "Zukunftswerkstätten" und als "Erfahrungsräume der Demokratie", als "Schule der Offenheit und Freiheit, der angstfreien und spielerischen Begegnung mit Unbekanntem". Kurzum: Wir bräuchten mehr davon, denn weniger führe "unmittelbar zum Aufstieg von Menschen wie Donald Trump, Frauke Petry oder Marie Le Pen". Irre! Unser Stadttheater hätte also Trump verhindert? Theater wird die Gesellschaft einigen? Die Flüchtlingskrise lösen? Krise, welche Krise? "Dies sind goldene Zeiten für Theater", jubelt Wolff – und wer möchte ihm das vorwerfen?

Ein Dramaturg muss tun, was ein Dramaturg tun muss. Im Jahr 2016 dieses Weihnachtsmärchen vom politischen Theater aufzuführen, lässt sich nur mit der Angst vor Etatkürzungen erklären. Kulturpolitiker sehen gern mal über schwache Auslastungszahlen hinweg, wenn der emanzipatorische Anspruch am Haus stimmt. Auch ästhetisch lässt sich so das eine oder andere Level unterbieten. Deutschlands Freiheit wird auch im Trockeneis verteidigt.

Ein Trostpreis für Falk Richter

Falk Richter, einer der Heroen politischen Theaters, analysierte kürzlich, "Hass" sei heute eine "Karrierestrategie", um die "eigene Marke in den Fokus zu rücken". Ein Schelm, der Böses über diesen Satz eines Regisseurs denkt, dessen Karriere durch die Klage der Beatrix von Storch einen ordentlichen Sprung gemacht hat.

Fear1 560 Arno Declair uDie Bösen, sind das imer die Anderen? "Fear" von Falk Richter an der Schaubühne Berlin
© Arno Declair

Dass die Gerichte im Sinne der Kunstfreiheit und gegen ein Verbot seiner Inszenierung Fear entschieden, war gut, richtig – und sehr erwartbar. Richters Beispiel zeigt, wie leicht und ungefährdet man in Small Town Kulturbetrieb zum Posterboy avanciert. Die AfD hat er zwar vorerst nicht besiegt, als Trostpreis sprang aber immerhin ein Ausflug ins schöne Saarbrücken raus, wo er seine Poetikdozentur zur Lage der Nation hielt:

"(E)inige Teile der Gesellschaft (...) haben Angst, dass sie innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr das Zentrum bilden könnten, nicht mehr über die Deutungs- und Zuschreibungshoheit verfügen." Diese derart Verunsicherten seien dankbar, "wenn ihnen eine 'Alternative für ein zu komplexes Deutschland' angeboten wird, ein einfaches, überschaubares Deutschland, in dem alles irgendwie einfach und gut ist und alles Bedrohliche entfernt wird, so dass wieder Ruhe einkehrt".

Das Problem ist nicht, dass Falk Richter so differenziert argumentiert wie eine auf links gedrehte Frauke Petry. Das Problem ist nicht, dass er gar nicht merkt, wie er das Feld seines eigenen Werks absteckt (Vulgärsoziologie, Vorführung der Blödheit des politischen Gegners, Nebelmaschine). Das Problem ist, dass Falk Richter Theater macht. Und zwar nicht auf dem Kornmarkt in Bautzen, nicht montags vor der Semperoper. Sondern am liebsten für Charlottenburger Biomarkt-Kunden.

Die Bösen gehen nicht hin

Was könnten all die engagierten Regisseure in Wirtschaft, Politik oder sogar mit einem im Fernsehen vorgetragenen Gedicht erreichen, müssten sie nicht 48 Stunden pro Woche unterbezahlte Schauspieler anbrüllen? So gehen ihre Heilsbotschaften im Schnarchen des Parketts unter.

Denn – Dilemma! – Theater ist keine Pflichtveranstaltung, die Bösen gehen nicht hin – das dumme Pack! Das ist natürlich nicht die Schuld der Richters der Welt. Oder – hoppla – vielleicht doch? Wenn sich mal einer von ihnen in unsere "Zukunftswerkstatt" verirrt, ist das Geschrei groß.

Erinnern Sie sich an Alvis Hermanis? Vor einem Jahr kündigte der lettische Regisseur die Zusammenarbeit mit dem Thalia Theater auf. Er war nicht einverstanden mit dem sozialen Engagement des Hauses für Geflüchtete. Eklat! Sittenwächter forderten, seine alten Inszenierungen müssten unverzüglich abgesetzt werden, und natürlich sollte #niewieder von deutschem Boden eine Hermanis-Inszenierung ausgehen. Dass keine seiner Arbeiten in Verdacht rechter Gedanken gebracht wurde, war für den Ausschluss aus der Schrifttumkammer übrigens ganz unerheblich.

"Was sind das für Menschen?"

Wie war das noch mal, Harald Wolff? In Theatern wird "exemplarisch durchgespielt, was Demokratie ausmacht: das Aufeinanderprallen extrem unterschiedlicher Ansätze auszuhalten – und diskursiv zu kanalisieren"? Nein, einfach nein. Politisches Theater ist nur so weit pluralistisch, bis es unangenehm werden könnte. Es hat kein Interesse daran, die Bandbreite der Haltungen einer Gesellschaft vorkommen zu lassen, die – wie eklig! – eben nicht nur aus den Guten besteht.

Es verwendet einen Großteil seiner Energie auf die Behauptung einer solchen guten Seite. Hier ist alles noch ganz einfach, hier gibt es noch klare Antworten. In dieser Selbsthilfegruppe kultureller Eliten lassen wir uns unsere moralische Überlegenheit versichern – und sind von jedem brennenden Flüchtlingsheim, jedem Terroranschlag und jeder Stimme pro Brexit unendlich betroffen. Die Reaktion auf diese Nachrichten ist immer gleich. Es ist eine Frage: "Was sind das für Menschen?" Wir kennen sie nicht. Auf Premierenpartys muss man lange nach jemandem suchen, der für Trump, die AfD oder die Scharia ist.

Widerlicher als ein Regisseur ist nur ein Publikum, das aus der Rolle fällt. Das geschah dieses Jahr häufiger, zuletzt im Berliner Maxim Gorki-Theater, wo Identitäre Jakob Augsteins Freitagssalon störten. Viel bedenklicher als ein paar Parolen ist aber die Hilflosigkeit, mit der Theater auf sie reagieren. Anstatt etwas zu entgegnen oder sich wenigstens der Tradition verpflichtet, eine Saalschlacht zu liefern, empört man sich ein bisschen und überdenkt das Sicherheitskonzept. Der Ton wird rauer – und von der Bühne schaut man hilflos zu. Störungen sind hier nicht vorgesehen.

Gorki 280 h via TwitterBanner am Berliner Gorki-Theater
 © via Twitter
Wie man absehbar erschüttert wird

Hat man uns etwa betrogen? Was ist mit all den Psalmen, die Erika Fischer-Lichtes Jünger noch im Wachkoma vor sich hin stammeln: Alleinstellungsmerkmal des Theaters ist das Hier und Jetzt im kollektiv geteilten Raum, ist Unkontrollierbarkeit der Situation, ist Veränderung aller beteiligten Menschen? Natürlich stimmt das in Ewigkeit, Amen! Wir gehen alle ausschließlich ins Theater, um uns erschüttern zu lassen – aber bitte auf eine Weise, die wir vorher haben absehen können.

Verändern soll sich nichts, es sei denn, das steht so im Spielzeitmotto. Es geht dem Publikum nicht an den Kragen, sein Kanon wird nur ein bisschen zurechtgerückt. Ach, Othello hat sich das Gesicht nicht schwarz angemalt? Gut, dass uns das mal jemand sagt. Hebbel war kein Feminist? So ein Schuft! Shakespeare war pro Asyl? Endlich eine werktreue Inszenierung!

Nur konsequent hing das Gorki nach dem Vorfall eilig ein Banner auf, auf dem es drohte, von seinem "Hausrecht" (ziemlich deutsches Wort für ein postmigrantisches Theater, oder?) Gebrauch zu machen, sollten Personen um Zutritt bitten, "die rechtsextremen Parteien oder Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische ... (undsoweiter) Äußerungen in Erscheinung getreten sind". (Übrigens komisch, dass sie Augstein reingelassen haben. Stand der nicht mal auf einer pikanten Liste?)

Der Bauchnabelfussel in der Wohlstandsplauze

Jahrhunderte lang predigten Intellektuelle Kultur als Heilsversprechen für die Massen. Ins Theater soll inzwischen nur noch dürfen, wer seinen Persilschein am Einlass abreißen lässt. Wir machen Theater mit allen und für alle, die im Parkett sitzen und die das Parkett erfreut ("Guck mal, was für eine süße Geflüchtete/Autistin/Kapitalismuskritik!"), nur mit den Schmuddelkindern wollen wir nicht spielen. Man bleibt gern unter sich an diesem Stammtisch bürgerlicher Selbstvergewisserung – wir summen mit, der Mensch ist gut, die Welt ist schlecht, schunkel schunkel, Lisette, noch ein Gläschen Bier!

Politisches Theater ist der flauschige Bauchnabelfussel in der bürgerlichen Wohlstandsplauze. Braucht kein Mensch, nervt ein bisschen, ist aber auch ganz lustig und tut niemandem weh. Die verzweifelte Gier nach Flüchtlingsschicksalen und -fleisch, von Hamburg bis Wien ausgestellt, ist nur ein Indiz für die Fremdartigkeit jedes echten Problems. Man muss in all dem keine Verschwörung sehen, auch wenn Ulrich Matthes der Kanzlerin Faxe schickt.

That's entertainment! Die Zeiten des politischen Theaters sind vergangen oder vielleicht gab es sie nie. Und das ist gut so. Hätte es eine größere Wirkung, würde es die Spaltung der Gesellschaft mit seiner Ignoranz nur noch verschärfen. Wir haben Glück, dass es keine Rolle spielt. So bleibt es der öffentliche Ort, an dem Millionen Menschen am liebsten träumen, nachdenken und einnicken. Lassen wir es doch einfach dabei bewenden. Schluss mit der dramaturgischen Kackscheiße! Lasst uns in Ruhe, lasst uns einfach romantisch glotzen.

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