Sie ist weg

von Tim Schomacker

Bremen, 24. November 2016. Seit zwei Jahren ist sie schon weg. Und heute hat sie Geburtstag. Wird 18. Beziehungsweise: Würde. Wenn sie noch. Ännie Anne Annemarie hat einige Namen. Noch mehr Geschichten kursieren darüber, wer, was, wo aus ihr geworden ist. Und ob nicht doch nur eine Leiche. Die nur noch zu finden wäre. Zwei Jahre ist sie nun schon weg. Hat sich selbst verschluckt. Oder doch: wurde. Und wenn ja von wem. Was aus ihr wurde, hat uns aber immer weniger zu interessieren. Denn Thomas Melle lenkt den Blick in seinem neuen Stück auf die anderen. Er stellt die abwesende Ännie Anne Annemarie hin als eindeutige Projektionsfläche. Wedekinds Lulu lässt grüßen, Melvilles Wal schlenkert mit der Heckflosse.

Probates Mittel, was zu erzählen über Verhältnisse. Zumal auf engstem Raum. Heute ist Ännies Geburtstag. Romy, ihre alleinerziehende Mutter, putzt in einer vermutlich kleinen Kneipe in einer vermutlich eher kleinen Stadt. Erstmal bestellt sie selbst, zur Feier des Tages: Caipirinha. Kann die Tresenkraft nicht, muss sie selber. In der vermutlich eher kleinen Stadt geht es aufs Abitur zu. Ännie wäre dabei. Aber sie ist ja weg. Dieses "so begabte Kind, (…) das schon mit zehn Opern komponierte, (…) keine Etüden, gleich das große unverständliche Werk", wie Herr Fassbender sagt. Mit seiner Frau, einer Französischlehrerin, die ihrerseits dem Abitur entgegenschaut, was für sie diesmal Pensionierung bedeutet, hat er Anne immer unterstützt. Fasziniert von ihrem gestochen scharfen Deutsch, das so gar nicht ihrer Herkunft entsprechen wollte. Verschämt sich eingestehend auch den Gedanken, er könne, er müsse doch ihr Vater sein. "Mein ganzes Kontingent hat sie aufgebraucht, mein Kontingent an Liebesfähigkeit", sagt dagegen Kathi, früher Freundin der "manipulativen Bitch" Ännie.

Strukturen der Verstrickung, Stadien der Zerrüttung

Sie muss etwas (restrospektiv: beängstigend) Einnehmendes ihr Eigen genannt haben, diese Ännie Anne Annemarie. Warum sonst hängen derart viele Leben von ihr ab, warum sonst traut man ihr so viel zu, vom superhackerhirnmäßigen Fake des eigenen Todes über den Schritt zum islamistischen Terror bis hin zur feministisch grundierten Welt-aus-den-Angeln-Hebung? Waffen seien im Spiel gewesen, Drogen auch, Sex sowieso. Klingt ein bisschen als hätte Twin Peaks' Nemesis Laura Palmer im S.C.U.M.-Manifest geblättert.

Aennie15 560 Joerg Landsberg uÄnnies Hinterbliebene: Alexander Swoboda, Gabriele Möller-Lukasz, Lisa Guth, Martin Baum, Peter
Fasching © Jörg Landsberg

Doch statt des Big Bang läutet es ganz am Ende an der Tür. Ding Dong. Alle erstarren. Das Abitur ist geschafft. Alle feiern beim traditionellen Matura-Frühstück im Hause Fassbender. Sollte Ännie nun doch. Und, wenn ja, im Guten oder Bösen. Regisseurin Nina Mattenklotz stellt Melles Figuren in den Raum. Und damit unter Beobachtung. In guten Momenten fängt sie damit Strukturen der Verstrickung und Stadien der Zerrüttung ein. Etwa wenn der Ex-Polizist (und vielleicht doch Anne-Vater) Fred, dem Martin Baum eine hübsche getriebene Traurigkeit verleiht, besänftigend auf Romy (Lisa Guth oszilliert leise zwischen Muttersehnsucht und Selbstschutz) zurennt. Und sie ihm die ausgebreiteten Arme wegschlägt, weil sie ihre Arme grad zum Happy Birthday nach oben schwingt – kurz nachdem er ihr gesagt (und gezeigt) hat, wie er einer Frau die Arme brach – "Hebelwirkung!" –, worauf er den Dienst quittieren musste. Oder wenn die Eheleute Fassbender sich schrägliebend qua diverse Eskapaden als spinnefeind entpuppen – und sich ihre Stimmen bei handgreiflichem Streit über Alles von ihnen lösen, übergehen auf das Zuspielband. Oder wenn sich die Akteure immer wieder zu Kurzchoreographien versammeln, Ännie wie trunken chorisch (schmäh-)besingen, ihre Posen nachvollziehend erinnern.

Als Bühne ein Setzkasten

Es gibt ein Fuder dieser guten Momente. Aber es gibt eben auch jene, in denen das Szenario deutlich ins Stocken gerät. Weil der Text die poetische Dichte, die er in seinen besten Momenten hat, beileibe nicht durchhält. Weil manche Dialoge sich zu sehr um Kargheit und/oder Wortwitz bemühen. Weil – oft ins Publikum gesprochene – Monologe mehr ermüden als dass sie die Position der Figur im Gefüge weiter erhellen würden. Vor allem aber: weil Thomas Melle seinen Figuren zu oft das zu sagen hinwirft, was das Stück entwickeln müsste. Weil alle ihre Positionen schnell eingenommen haben, fehlt es an Kippmomenten. Nichts und niemand zieht uns den Boden weg.

Gabriele Möller-Lukasz' ultrapräsente Lehrerinnen-Stimme darf sich immerhin an den Jelinek-Sound von "Bambiland" heranrobben. Man kann Thorge Just als Jugendfreund Pierre bestaunen, wie er in einem dezent angehiphopten Ton die Erinnerung an Annes achten Geburtstag mit einer Faszination für den IS engführt. Und man darf sich sattsehen an Johanna Pfaus bühnenfüllendem Setzkasten irgendwo zwischen Schmetterlingsbox, vergrößertem Teenie-Tagebuch und cooler Winzwohnungallzweckmöbellösung. Ganz unterhaltsam, täte der Sportreporter sagen, aber das Unentschieden hilft keinem so richtig weiter.

Ännie
von Thomas Melle
Uraufführung
Regie: Nina Mattenklotz, Bühne: Johanna Pfau, Kostüme: Lena Hiebel, Musik: Albrecht Schrader, Video: Chriss Bieger, Dramaturgie: Simone Sterr.
Mit: Martin Baum, Peter Fasching, Lisa Guth, Thorge Just, Gabriele Möller-Lukasz, Susanne Schrader, Petja Viktor Siebelt, Alexander Swoboda, Milena von Pressentin.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Keinen großen Wurf, aber immerhin einen punktuell anregenden Abend, sah Rolf Stein von der Neuen Osnabrücker Zeitung (25.11.2016). Man verlasse das Theater durchaus nicht gleichgültig, frage sich aber, was uns das über uns erzählt. "Undeutlich lässt dieser Abend auch das Verhältnis zwischen dem Text und einer Inszenierung, die gelegentlich so ratlos wirkt wie ihre Figuren." Melles Sprache, die sich zwischen derbem Realismus, jelineckischem Wortwitz und poetischer Verdichtung zeitweilig von den Personen löse, wirke nicht immer gut aufgehoben, gerate womöglich aber auch an ihrer eigenen Fracht ins Straucheln.

Jan-Paul Koopmann von der tageszeitung (25.11.2016) schreibt, 'Ännie' mache eine Jugend im 'Heiligen Krieg' reflektierbar. "Und das bleibt eine beachtliche Leistung, obwohl die Uraufführung am Donnerstag an der Oberfläche doch etwas ärgerlich vor sich hin holperte." Koopmann weiter: "Schrille Samples, grelles Licht und laute Schüsse machen körperlich erfahrbar, wie eine ziellose Revolution elektrisieren kann." Bis es irgendwann abflaue und schließlich unbefriedigt zurücklassen müsse. "Denn: Theater, das statt mit Fragen hier mit Antworten angetreten wäre, hätte sich bis auf die Knochen blamiert."

Margit Ekholt von Radio Bremen (25.11.2016) gefällt die "ungeheure Sprachgewalt Melles, seine Sprache ist sehr präzise, bildreich, komplex". Die Inszenierung von Nina Mattenklotz sei abwechslungsreich und farbig. Was fehlt: "Eine überraschende  Wendung, ein Hallowach-Effekt, der alles auf den Kopf stellt oder etwas, das ans Herz geht."

Thomas Melle entwerfe "ein scharfes und zugleich wucherndes Porträt denkfeindlicher Verhältnisse", schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (30.11.2016). Die "Abgründe" der von ihm geschilderten "prototypisch engen Gemeinschaft" würden in der Bremer Uraufführung insbesondere am Schluss spürbar, final intoniert: "Weg mit Ännie, weg mit Ännie, weg mit dieser Pest". Allerdings bleibe Mattenklotz' Inszenierung oft "sehr an der Oberfläche, bekommt das zwischen realen und irrealen Wahrnehmungen oszillierende Drama nicht gänzlich zu fassen".

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