Not my revolution if ...: Die Geschichte der Angie O. - In Berlin umspielen andcompany&Co. das Thema NGOs
Einmal kurz die Welt retten
von Michael Wolf
Berlin, 24. November 2016. Und nach einer Stunde dann der Witz mit den Künstlern und dem Neoliberalismus: "Ich hasse es, wenn Künstler über den Neoliberalismus reden und noch nicht mal ihre Steuererklärung verstehen." Wahrscheinlich kannten Sie den Witz schon. Er ist schon etwas älter und hat sich überlebt. Den meisten Zuschauern ist es wohl egal, ob Theaterschaffende ihre Steuererklärung hinkriegen. Hauptsache sie kriegen Theater hin. Das gelingt andcompany&Co. an diesem Abend im Berliner Hebbel am Ufer nicht. Denn es wird schnell langweilig. Steuererklärungs-langweilig.
Von Pilzen und Bäumen
Ein Grund ist, dass der Abend keine Geschichte erzählt. Gut, eine Geschichte war trotz des Titels "Not my revolution, if ...: Die Geschichte der Angie O." auch nicht zu erwarten von andcompany&Co. Aber vielleicht wenigstens eine Dramaturgie? Die gibt’s bestimmt, aber wenn man sie nicht mitkriegt, ist sie so existent wie der sprichwörtliche Baum, der umfällt, wenn gerade keiner hinguckt.
Apropos Baum. Fangen wir, aus Mangel an Struktur, doch einfach mal hier an: In einem halluzinogenen Rausch entdeckt Angie O. das Internet der Bäume: "There was a wood wide web in the ground." Sie stellt fest, dass Pilze eine Verbindung zwischen den Bäumen herstellen, sodass Angie mit ihnen kommunizieren kann. Und die Bäume sagen ihr dann, dass sie nach Seattle gehen soll, um in einer Coffee-Company zu arbeiten. Danach geht sie auf Reisen, und etwas später will sie die Welt retten, was aber wegen der ganzen Widersprüche des Kapitalismus und der Gesellschaft bislang noch nicht gelungen ist: "There are no free hugs. Somebody has to pay for it!"
Mit sich selbst beschäftigt
Vielleicht liegt es ja auch an ihr, an ihren eigenen Widersprüchen? Davon gibt es einige. Zum Beispiel ihr Name: Angie O. ist nicht nur die Figur aus einer Geschichte, eine Idee und eine Gemeinschaft, sondern vor allem ein Wortwitz: Sie spricht sich NGO aus: non-government-organisation. Diese Institutionen geraten in den letzten Jahren immer mehr in die Kritik, weil sie viel zu sehr mit sich beschäftigt sind, mit ihrer Organisation und ihrer Bestandswahrung, statt damit, anderen zu helfen. In schlimmeren Fällen verschlimmern sie sogar alles. All das wollen die vier Schauspieler*innen hinter sich lassen. Ihr Ziel: Ein Ort, der weder Regierung noch Nichtregierungsorganisation ist. Am Ende finden sie ihn sogar. Wie sie aber an ihr Ziel gekommen sind, bleibt ihr Geheimnis.
Das liegt daran, dass andcompany&Co. schrecklich fleißig waren und sehr viel Gedankenmaterial angehäuft haben und das alles jetzt leider auch vortragen wollen. Mit gutem Willen wirkt das Ergebnis eklektisch, auf gut deutsch: beliebig.
Geld als nichts und als alles zugleich
Die Performer Nicola Nord, Claudia Splitt, Krisjan Schellingerhout und Vincent van der Valk singen und spielen Popsongs, teils mit neuem Text. Sie sagen Sätze, die aus einem Pollesch-Stück kommen könnten ("Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine Vollversammlung bin, aber ich bin auf jeden Fall ein Bündnis hierarchisch organisierter Gruppen.") und andere, die gut recherchiert klingen: "Die furchtbarsten Wörter der deutschen Sprache lauten: Ich bin von der Regierung und bin gekommen, um zu helfen." Van der Valk rettet sogar etwas traurigen Irrwitz in den schwer um drei Ecken gedachten Monolog eines Polizisten im Angesicht störrischer Demonstranten: "Als ich gerade die Staatsgewalt durchsetzen will, sagen die, dass die für sie nicht gilt, weil es den Staat nicht gibt." Das hilft aber auch nichts gegen das Durcheinander.
Eine Materialschlacht, nicht nur an Gedanken: Saftmixer als Rhythmusmaschinen, Marshmellows als Cocktail, als Botschaft Abraham Lincolns; Geld als nichts und als alles zugleich; eine bedrohliche rote 0 über der Bühne; Crashtest-Dummys als Menschenkette, als Demonstranten zum Wiederbeleben, als Menschen mit nur einer Saite, die sie am Ende zum Klingen bringen. Alles durcheinander, alles Stückwerk, zu einer Aussage verbunden, die im wabernden Kunstnebel unsichtbar bleibt. Begnügen wir uns vorerst hiermit: Die Rettung der Welt und Theater sind zwei der schwierigsten Geschäfte.
Not my revolution if ...: Die Geschichte der Angie O.
von andcompany&Co.
Text: Alexander Karschnia & Co., Musik: Sascha Sulimma, Vincent van der Valk & Co., Bühne: Noah Fischer & Co., Kostüme und Mitarbeit Bühne: Franziska Sauer & Co., Licht Design: Rainer Casper, Ton: Mareike Trillhaas, Regieassistenz: Hilkje Kempka, Technische Leitung: Marc Zeuske.
Von und mit: Noah Fischer, Alexander Karschnia, Nicola Nord, Krisjan Schellingerhout, Claudia Splitt, Sascha Sulimma, Vincent van der Valk & Co.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.andco.de
www.hebbel-am-ufer.de
ancompany&Co widmet sich in ihrer neuen Show den Widersprüchen der Protestkultur, schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (26./27.11.2016). "Als grenzbefreite Brechtfortschreiber und Experten für produktives Chaos liefern sie selbstredend nicht einfache Erzähllinien, sondern als schlagen Diskursvolten, die die Mär vom guten Kapitalismus und der noch besseren Gegnerschaft fröhlich strangulieren." Anders als sonst in ihren anspielungsreichen Verdichtungen bleibe der Abend über weite Strecken dünn.
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Am Ende lässt der Abend den Zuschauer ratlos zurück, überfordert, verwirrt und nun ja, auch ein wenig genervt. Denn irgendwie lässt zumindest diesen Rezensenten die Vermutung nicht los, dass die wahnwitzigen Assoziationsschleifen, die immer abstrakteren Diskurskaskaden, der ganze manisch panische Ausweglosigkeitsrausch und das Genredurcheinander womöglich vor allem eines verbergen: eine große gedankliche und diskursive Leere, eine Ratlosigkeit, die selbstverständlich absolut legitim wäre, in einer Welt, die vor allem einem Facebook-Beziehungsstatus entspricht. Nur schürt der Abend durch seine Geschwätzigkeit, seinen Gestus des Die-Welt-Durchschauens und des Die-Zusammenhänge-Verstanden-Habens eine andere Erwartung. Nämlich die, zumindest einen Ansatz für Antworten parat zu haben. Aber nein, da sei die Ironie vor, die nicht nur jede Lösungsidee ob ihrer Anmaßung ins Lächerliche zieht, sondern auch die Fragen nicht verschont. Und so bleibt am Ende eigentlich nur eine: Worum ging es hier eigentlich? Wie gesagt: Es ist kompliziert.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/11/25/es-ist-kompliziert/
Ein paar Höhepunkte gab es. Aber insgesamt: sehr enttäuschend!
Ich bin mit großem Interesse hingekommen und war spätestens nach dreißig Minuten so sauer wie kaum irgendwann im Theater, vielmehr habe ich mich bei verstaubten Operninszenierungen so unterfordert und albern gefühlt! Ich frage diese vier Personen auf der Bühne (vor allem drei von ihnen) Folgendes:
-Habt Ihr Euch wirklich auch mit einem Außen da in der Welt beschäftigt oder allein mit dem, was Ihr darüber denkt?
-Reicht das, wenn man solche widersprüchlichen und anspruchsvollen Thematiken leicht berührt und mit(Selbst)-Ironie und überschwänglichen POP-Referenzen schmück und denkt, es wird schon werden...?
- Ich bin nur gelegentlich im Theater, aber: Habt Ihr irgendein Theatermittel nicht verwendet?
Eine nette Ohrfeige an uns alle, die glauben durch einen Einkauf beim LPG oder mit dem Konsum von Fair Trade Kaffee Ablassleistungen zu erbringen, die die Welt retten könnten, ist es allemal. Und dass in der Aufführung Klassenkampf in durchaus brachialisierter Form auftaucht, fühlt sich nicht weiter störend an, weil ich gerne Leuten zuhöre, die eine aufrichtige Meinung haben und dafür lieber 15 Euro zahle , als für irgendwelche schörkeligen bourgoisen Luxusproblemchen und feinsinnigen Gefühlsduseleien, mit denen ich als mittelmäßiger Theatergänger allzuoft an anderen größeren Häusern gequält werde.
Viel wichtiger, und was ich eigentlich fragen und/oder schon lange wissen möchte: Stimmt es, dass Jan Lazardzig (Dozent der Theaterwissenschaften an der FU) auch mal bei andcompany mitgearbeitet hat? Und weiter?