Verlängertes Kommunikationsproblem

von Christian Rakow

25. November 2016. Wenn Debatten so richtig unübersichtlich werden, wenn die Nebelbomben von hier und dort herunterprasseln, dann muss man sich offenbar in der eigenen Stellung einbunkern. Dann wird auf Linie gebracht, was schwerlich einer Linie folgt.

Richtig, es geht um die Volksbühnen-Debatte und die Frage, ob Chris Dercon der geeignete Nachfolger für Frank Castorf als Intendant des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz ist. Der designierte Berliner Kultursenator Klaus Lederer hat sie jüngst mit einer Infragestellung der Entscheidung aus dem April 2015 noch einmal entfacht (siehe Überblick der Pressestimmen dazu).

Eine Pressemitteilung, die ihrer Überschrift widerspricht

"Michael Müller steht zu Chris Dercon" lautet eine dpa-Nachricht, die heute in einen Kommentar der Tagesspiegel-Feuilletonchefin Christiane Peitz Eingang findet. Der Tagesspiegel schreibt bekanntlich seit Monaten aus der Überzeugung heraus, dass mit Castorfs Volksbühne nach 25 Jahren nun einmal Schluss sein muss und Chris Dercon schon der richtige Mann sein wird. So wenig man bisher über seine Pläne weiß. Entsprechend lautet der Untertitel des kleinen Textes: "Berlins Bürgermeister Michael Müller hält am Vertrag mit Chris Dercon fest. Er stellt sich damit gegen den neuen Kultursenator Klaus Lederer."

Chris Dercon Istanbul 2015 560 Daizafu89 CC BY SA 4 0Dercon oder doch nicht Dercon? Steht das überhaupt zur Debatte? © Daizafu89 / CC BY SA 4 0

Wer den Text allerdings bis ins letzte Drittel liest, wird auf Widersprüchliches stoßen, das der Autorin selbst Stirnrunzeln bereitet: "Müller reagierte nach den klaren Bekenntnis zugleich mit einem gewundenen diplomatischen Manöver Richtung Lederer", steht dort, und dann wird Müllers tatsächlich recht gewundene Position referiert: "Politikern, die ein Amt übernehmen, stehe es zu, Entscheidungen zu hinterfragen. 'In eigener Verantwortung muss das dann vollzogen und geguckt werden, ob man Möglichkeiten sieht, mit getroffenen Entscheidungen auch anders umzugehen als bisher.'"

En vogue: Behauptungen und Verallgemeinerungen

Nachvollziehbarerweise ruft die Autorin an diesem Punkt aus: "Wie bitte? Lederer kann eigenverantwortlich prüfen, aber am Vertrag für Dercon wird nicht gerüttelt?" Bis zu den Kollegen der Textproduktion ist dieser Ruf allerdings nicht gedrungen, sonst wäre die Titelbotschaft "Müller steht zu Dercon-Vertrag" (die auch Seite Eins des heutigen Tagesspiegels ziert) wohl etwas undeutlicher ausgefallen.

Die Volksbühnen-Debatte ist so verdrießlich, weil sie an derartigen Pauschalismen und Vereinfachungen reich ist. Das lokale Konkurrenzblatt, die Berliner Zeitung, schickte jüngst Jens Balzer und Christian Schlüter in den Ring, um der Volksbühnen-Mannschaft um Frank Castorf ordentlich eins auf den Deckel zu geben. In Erinnerungen an das schöne Pop-und-Diskurs-Programm von einst schwelgend (an dessen Weiterführung Balzer in Abenden u.a. mit Tim Renner selbst munter gebastelt hat) rufen sie aus: "Damit ist es aber lange vorbei. Oder kann uns irgendjemand etwas Vergleichbares nennen, das in den letzten fünf Jahren an der Volksbühne stattgefunden hat? Dann schreiben Sie an: Balzer & Schlüter, Berliner Zeitung, 10171 Berlin. Als Belohnung winkt eine Flasche unseres Lieblings-AC/DC-Rotweins 'Back in Black Shiraz"."

von einem der auszog 560 leonoreblievernicht h"Von einem der auszog..." von René Pollesch © Lenore Blievernicht

Mindestens auf die visionäre Oper von René Pollesch und Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow Von einem der auszog… hätte man schon kommen können. Und ja, ich würde den Wein gern nehmen. Aber ich fürchte, so richtig stand er gar nicht zum Gebot. Denn das Gebot lautet vielmehr: Behauptungen, wo's an Erfahrung mangelt. Verallgemeinerungen, wo konkrete Auseinandersetzung ausbleibt.

Ein paar Fragen an Chris Dercon

Darin aber verlängert sich lediglich ein Kommunikationsproblem, das die neue Volksbühnenmannschaft um Chris Dercon sich – und den Berliner Medien – gebaut hat. Seit eineinhalb Jahren schweigt das Team um den verdienten und in seinem Format als Museumsmann auch unumstrittenen Tate-Modern-Direktor Chris Dercon zu den Visionen der kommenden Theater-Intendanz. Niemand will konkrete Spielplanpositionen schon jetzt. Aber Ideen in Grundzügen dürften es schon sein. Und wenn dann mal etwas durchdringt, wie die Entwürfe von Francis Kéré für ein mobiles Amphitheater in Tempelhof, dann wird das in München im Vorübergehen verkündet? Kein guter Stil.

Was ist mit Antworten auf Fragen, die seit der Antrittskonferenz im April 2015 im Raum stehen? Zum Umgang mit dem Repertoiresystem etwa. Wird man prägende Arbeiten, die den Charakter der Stadt widerspiegeln, jeden Monat am Haus schauen können, oder gibt's doch ein en-suite-Programm, wie man es vom HAU kennt? Anders gesagt: Sucht man die Identifizierbarkeit eines Angebots vor Ort, oder gibt's fluide Formen, in denen Produktionen alle Quartale mal in die Stadt gespült werden. Was wäre der Gewinn einer solchen Verflüssigung? Wie steht es um die Ensemblebeschaffenheit? Wie um das Verhältnis des Sprechtheaters zu anderen Ausdrucksformen? Wie um die klangvolle Idee einer "digitalen Bühne"? Sicher hat Chris Dercon hierauf Antworten. Man müsste sie nur mal zu hören kriegen.

 

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