Medea am Wäscheständer

von Otto Paul Burkhardt

Aalen, 3. Mai 2008. Er ist der Nicht-Zyniker unter den jungen Autoren. Seine Texte ermöglichen noch (oder wieder?) so etwas wie Berührbarkeit durch Theater. Jan Neumann (Jahrgang 1975) schreibt über Sterbehilfe und verdrängte Schwangerschaft, über frühes Scheitern und Sexualität im Alter. Er erdet seine Stücke, die in Hamburg, Essen und Frankfurt uraufgeführt werden, gerne durch Realien aus dem Alltag, entwickelt die Texte häufig mit den Ensembles und inszeniert am liebsten selbst.

Neumanns Geschichten ermutigen noch in der finstersten Ausweglosigkeit. Manche nennen das rührselig. Angesichts der vielen lauten, aufgeschrillten, superheutigen Leere-Bekundungen auf dem Theater mag das so scheinen. Doch im Grunde versucht Neumann nur eins – schwere Themen leicht zu erzählen.

"Vom Ende der Glut" heißt Jan Neumanns neueste Stückentwicklung, bei der er wieder selbst Regie führt. Realisiert hat er sie (wie schon 2006 "Die Nacht dazwischen") mit dem Ensemble des Theaters Aalen, fernab der Metropolen, am zeitweise kleinsten Theater der Republik. Dort nämlich bietet Intendantin Katharina Kreuzhage einen bekennend zeitgenössisch ausgerichteten Spielplan, der auf ähnliche Weise realitätsgeerdet ist wie Neumanns Tonfall.

Dreistöckige Geschichte

"Vom Ende der Glut" lässt sich auf drei Ebenen lesen. Zunächst als Liebesgeschichte anno 2008: Tourist entführt junge Russin nach Deutschland, bis hier seine Liebe erstirbt. Zweitens als Story vom Typ "Mythos reloaded": Denn auch Jason holte seine Geliebte Medea einst aus dem fernen Kolchis heim nach Griechenland, bis er untreu wird und Medea ihre gemeinsamen Kinder tötet. Drittens finden sich Spurenelemente einer realen Tragödie: der Fall Claudia K., die nach jahrelangem Psychoterror durch ihren Ex-Mann im Februar 2007 in Esslingen ihre beiden Söhne umbrachte.

Das klingt verschachtelt und konstruiert. Doch die Medea-Bezüge erschöpfen sich in wenigen Andeutungen (Mord an den beiden Söhnen taucht bei Maria nur als Alptraum auf), und die Verweise auf den realen Justizfall lassen sich nur erahnen (oder im Programmheft nachlesen). Jedenfalls erzählen Neumann und das hochrespektabel aufspielende Aalener Ensemble die dreistöckige Geschichte in knapp 80 Minuten mit einfachsten Mitteln – aber derart spannend, ideenreich und suggestiv, dass die drei Ebenen völlig organisch in einer gemeinsamen aufgehen. Nämlich im Leben von Maria, jener jungen Russin, die Dascha Trautwein als mutige, beherzte Kämpferin auf die Bühne stellt – wobei die Schauspielerin mit kasachischen Wurzeln ihre doppelte Sprachkompetenz äußerst vital, aber nie zu dick aufgetragen zum Einsatz bringt.

Tragödie im Zeitraffer

Auf Thomas Goerges Bühne finden sich nur wenige Requisiten – und ein großer Wäscheständer. Denn hier lernt Maria ihren Erich kennen – bei Alexander Wilß ein zunächst liebenswert unglamouröser, verschüchterter Ostberliner, der seinen früh nach Russland abgehauenen Vater sucht; später wird er seine Liebe zu Maria verlieren und als unnahbare Lebend-Mumie enden. Neumann erzählt quasi im Zeitraffer und skizziert in spotlightartigen Szenen das Kennenlernen der beiden in der russischen Provinz, den Ehealltag in einer süddeutschen Kleinstadt und schließlich Erichs Liaison mit einer Hausbewohnerin einen Stock tiefer (ein Detail aus dem Justizfall).

Ein halbes Leben zieht vorüber, eine Tragödie – gerafft durch Mehrjahressprünge. Und immer wieder der Wäscheständer: An ihm lassen sich alte Kleidungsstücke aufhängen – wie abgehakte Lebensabschnitte. Und während Maria an ihren seelischen Verletzungen fast zugrunde geht, dreht er sich ruhig und stumm um die eigene Achse – wie ein grausam tröstendes Sinnbild der Zeit: Das Leben geht weiter, wenn auch im Kreis.

Lebenskälte und Lebensweisheit

Gut, nicht alles wirkt stimmig. Dass Erich urplötzlich trinkt (und seinen Arbeitsplatz verliert), wirkt im Plot unmotiviert. Und in manchen Momenten – etwa wenn Trautweins tapfere Maria den dumpf alkoholisierten Erich zu einem selbstbewusst-kämpferischen Arbeiter erziehen will – schrammt Neumanns Drama dann doch äußerst knapp am sozialen Appell-Rührstück vorbei. Doch meist fesselt der leise, unaufdringliche, lakonische Tonfall der Inszenierung. Selbst der Einsatz eines antiken Chors wirkt nie aufgesetzt: Alexander Redwitz und André Würde bilden ein erzählendes, nicht kommentierendes Masken-Duo und markieren nebenbei auch keifende Großeltern sowie verstörte Söhne, wobei einer davon lauschige bis dröhnende E-Gitarren-Zwischenspiele einstreut.

Wir sehen Maria heute, fühlen in ihr einen fernen Nachhall Medeas und denken neu über aktuelle Kindsmord-Fälle nach. Mythos und Realität, Tragik und Humor, Lebenskälte und Lebensweisheit liegen dicht beieinander. Hand aufs Herz: Das ist ziemlich viel für ein Theaterstück von 80 Minuten.

 

Vom Ende der Glut, UA
von Jan Neumann
Inszenierung: Jan Neumann, Ausstattung: Thomas Goerge. Mit: Dascha Trautwein, Alexander Redwitz, Alexander Wilß, André Würde.

www.theateraalen.de

 

Ein Porträt von Jan Neumann finden Sie hier.

 

Kritikenrundschau

In der Schwäbischen Zeitung (5.5.2008) berichtet ein Anonymus unter dem Kürzel kul von der Aalener Uraufführung von Jan Neumanns Stück "Vom Ende der Glut", dem der reale Fall eines Kindermords in Esslingen zugrunde liegt. Während sich der Autor des antiken Medea-Mythos bediene, "um der Geschichte einen Rahmen zu geben", sei die Bühne "voller Utensilien des kleinen bürgerlichen Glücks". Was folgt, erinnere "an Ehescheidungsdramen wie in den besten Klassikern. Die enorme Intensität und eindringliche Wirkung sind Dascha Trautwein und Alexander Wilß zu verdanken. Grausamkeit, Verzweiflung, Frust und Aggression stellen sie dermaßen packend dar, dass einem ein Schauer über den Rücken läuft."

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