Kann man mit solchen Leuten Kommunismus machen?

von Nikolaus Merck 

Berlin, 30. April 2007. Rike träumt. Sie liegt auf dem Rücken, die E-Gitarre auf dem Bauch. Rike träumt von Zuhause. Nicht von der Wohnung in der Vorstadt, mit Vater, Mutter, Kind, die längst schon unterm Sand der Gegenwart verschüttet liegt. Unter der Wanderdüne, wie Rike das nennt.

Rike träumt von einer besseren Vergangenheit, die irgendwo damals abgezweigt wäre vom Hauptstrom der Zeit: einer Vergangenheit ohne Geld und Lohnarbeit, in der Alte und Junge sich verstünden, sich in "die Augen zu schauen trauten". Eigentlich träumt Rike vom Kommunismus, der Sache, die so leicht zu träumen, aber so schwer zu machen ist. Kommunismus mit E-Gitarre, da gingen im realen Sozialismus die realen Schwierigkeiten ja immer schon los. 

Platte gegen den Rest der Welt

Rike ist eine Erfindung von Thomas Freyer, Hauptfigur seines Stückes "Separatisten". Für Freyer, Jahrgang 1981, ist der Kommunismus eine nie verwirklichte, gute Idee, die damals die Männer mit den ewigen Trainingsanzügen bei sich zu Hause im Plattenbau in die Schrankwand gestellt hatten: zwei rote Kerzen davor, das Bild des jeweils aktuellen Parteichefs – Gute Idee, eingeschreint. Dabei wäre es darauf angekommen, sie zu verwirklichen. In "Separatisten" legt Thomas Freyer, im letzten Jahr Gewinner des Theatertreffen-Stückemarktes, die ererbte Idee in die Hände von Johan und Alex. Die beiden besten Freunde sind Traumgeburten von Rike (Anika Baumann), Helden ihrer zur Gitarre mit geschlossenen Augen herbei gesummten Fantasie der Abtrennung eines Plattenbauviertels in einer schrumpfenden Oststadt vom Rest der Welt.

Traum vom Zaun

Wir haben die Absicht einen Zaun zu errichten. Anita, die Kassiererin vom Supermarkt, und Günther, der Wirt vom Sonneneck, helfen mit. Fünf Personen und ein Autor, die ihren Regisseur gefunden haben. Tilmann Köhler ist dabei, wenn der Jugendfreund Freyer seine Stücke "beim Pilzsüppchen im Adlon" an die großen Verlage vertickt. Und Köhler inszeniert Freyer. Diesmal im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters, wo der Jungregisseur derzeit sein "Kloster der Wut" betreibt, einen Konzentrationsraum für Junge, eine Probierzone für rebellische Fantasien mit Einheitsraum und kargen Mitteln. Die Wände sind mit silbernen Stoffbahnen verhängt, links ein totes Schaufenster, rechts ein Fenster ins Nirgendwo, eine Parkbank ohne Lehne, that's it. Rike träumt ihre Traumfamilie, Anita, Günther, Johan und Alex. Papa, Mama, Bruder und Liebsten.

Sie werden das Viertel übernehmen, befreien von der Wanderdüne, die Kaufhalle sprengen, eine realitätsberuhigte Zone schaffen. Um das eigene Leben endlich zu leben. Bloß – das Eigene beinhaltet auch die alten Ängste, Fantasien, Obsessionen. Günther (Ulrich Anschütz) ist aus dem Panzer, den er als Junger fuhr, nie heraus gekommen. Anita (Ursula Werner) möchte immer mitmachen und traut sich nix zu, Johan (Max Simonischek), der schwitzende Große, mit einer Frisur als käme von hinten starker Wind, ein Augen-Zucker und Brillen-Rücker, Abkömmling aller spinnerten Junggenies, Johan also der Ideologe der Gemeinschaft wüsche sich am liebsten jedes Mal die Hände, wenn einer ihm Nahe kommt.

Und Alex (Sebastian Kaufmane), der Lockige, Herzige, großer Kussmund, menschliche Sprungfeder mit fest gewachsenem Trainingsjäckchen, ausführendes Organ des verdrucksten Johan’ - kann man mit solchen Leuten den Kommunismus bauen? Das Schillern der Figuren ist der Reichtum, den Köhler und seine Schauspieler dem schmalen Text hinzufügen. Denn bei Lichte betrachtet, hat Freyer eine nicht besonders ironisch gemeinte Pubertätsfantasie der egalitären Urgesellschaft mit einfachem Warentausch geschrieben, mit Hitze-, Wind-, erste Liebe-Versatzstücken unter Beifügung einer kräftigen Portion des Heiner Müllerschen "Mann im Fahrstuhl".

Oh Freiheit, oh Schutz vor ihr 

Weiter als bis zur Mauer, die er diesmal als Zaun aufrichtet, kann dieser Text nicht schauen; allerdings gibt die Mauer, an der die Schauspieler ganz real kleben, als lägen sie im Bett und man sähe sie von oben, durch die sie vergeblich hindurchzugehen versuchen, immer wieder kräftige Bilder vom Gefangensein in der eigenen Begrenztheit. Auch die Manier in der Köhler und die Seinen Rikes Träume in Gruppenbilder umsetzen, imponiert. Besonders wenn die Schauspieler sich aneinander halten und wie ein furchtsam’ Nest, ohne sich vom Fleck zu rühren, nach hinten zu verschwinden scheinen – o la la. Vielleicht das Einleuchtendste dieses kleinen Abends aber ist, wie es dem jungen Regisseur gelungen ist, Gorki-Urgestein wie Ursula Werner und Ulrich Anschütz von ihren Routinen fernzuhalten, sie deutlich als ältere Herrschaften, die ihre Lebenszeit zum Großteil in der DDR verbrachten – als Erfahrungswesen also, ins Spiel zu bringen. Hätte es noch eines Beweises des Köhlerschen Talentes bedurft – hier ist er.

 

Separatisten (UA)
von Thomas Freyer
Inszenierung: Tilmann Köhler, Bühne: Annette Riedel.
Mit: Ursula Werner, Sebastian Kaufmane, Max Simonischek, Ulrich Anschütz, Anika Baumann.

www.gorki.de

 

Alles über Tilmann Köhler auf nachtkritik.de im Lexikon. Und über Thomas Freyer ebenfalls.

 

Kritikenrundschau 

Nach einer kurzen Vorstellung von Regisseur Tilmann Köhler beginnt Christine Wahl ihre eigentliche Kritik an Separatisten auf Spiegel online (2.5.2007) mit einem geradezu hörbaren Naserümpfen. Es gebe ja Kritiker - Hallo, hier sind wir, hier! Hallo!! -, die hielten Tilmann Köhler für "die ultimative Regiehoffnung des deutschen Theaters" (na ja, vielleicht nicht gerade die ultimative), seine selbstbewusste Bescheidenheit indes, Texten auf Augenhöhe begegnen zu wollen erweise sich im Falle des "naiv-regressiven Aufbruchspathos" von Thomas Freyers Stück als keine so gute Idee. An dem Stück über den Aufstand und die folgende Abtrennung eines Plattenbauviertels vom Rest der Welt stört sie neben der "nicht gerade weitsichtigen Kapitalismuskritik" vor allem die "regressive Phantasie", die "das Klischee eines Gemeinschaftsgefühls Ost" heraufbeschwöre, "das es so kuschelig nie gegeben hat: Vor allem diejenigen, die nach 1989 ihre Stasi-Akten eingesehen haben und vermeintliche Freunde als Denunzianten erkennen mussten, werden sich herzlich bedanken." Nach dem Stück nimmt sich Wahl den Regisseur vor. Der zeige ironiefreie Figuren mit "Lichterketten-Charme", und seine einzige Kritik am naiven Ausbruchspathos des Stückes, nämlich dass sich "autoritäre Strukturen einschlichen" in den "demokratisch gemeinten Alternativversuch", sei nun "nicht gerade ein bahnbrechend neuer Beitrag zur Psychologie der Gruppendynamik." Die Inbrunst, mit der die Kollegin sich hier, wie sie schreibt, "erstaunt" über die vermeintlich fragwürdige, die Vergangenheit verklärende "Perspektive" von zwei jungen Künstlern, die beim Mauerfall acht bzw. zehn Jahre alt waren, macht einen dann doch nachdenklich.

Bernhard Doppler im Deutschlandradio (30.4.2007) ist von der Programm-Überschrift "Kloster der Wut" so angetan, dass er das Wort 'Kloster' an die 100mal in seiner Radiokritik wiederholt. Außerdem: sieht er die Plattensiedlung als einen Ort, in dem gefragt wird, wie Heimat heute aussehen könnte, sieht sich an Peter Handkes Beschreibung des Märkischen Viertels als poetischen Ort erinnert, vergleicht mit den Regeln des Dogma-Films (keine Regie-Effekte, karges Bühnenbild)  und findet die Schauspieler "gut, man sieht ihnen gerne zu." Allerdings: "Von den Klöstern kommt es doch selten zur Revolution, es kommt nur zur Besinnung, das ist eigentlich auch wieder doch eine auch ein wenig larmoyante Botschaft."

Wolfgang Hirsch
, ein Köhler-Beobachter der ersten Stunde am thüringischen Ort, ist eigens nach Berlin gereist, hat misstrauisch gefragt, ob sie ihm den "Tilli" wegnehmen wollten in Berlin-Mitte und schreibt jetzt etwas enttäuscht in der Thüringischen Landeszeitung (3.5.2007): "Tilmann Köhler inszeniert diese Vorstellung vom genügsamen Paradies der Selbstversorger in einem karg-grauen Raum (Bühne: Annette Riedel) als Versuchsanordnung mit der von ihm gewohnten Reduktion auf Sprache und Spiel. Beides indes fällt diesmal auf Freyers Basis so asketisch aus, dass die Schauspieler sich dem Publikum mit leeren Händen ausliefern. Der Text ist so porös und banal, dass er in unsinnlicher Dürre erstickt, einen dramatischen Fortgang bemerkt man kaum. Statt selbst zu agieren, schildern die Darsteller konspiratives Geschehen in epischer Mauerschau. Nicht mal die hitzige Atmosphäre trägt über den Abend."

Im Berliner Tagesspiegel (3.5.2007) schreibt Jan Oberländer: "Für den 27-jährigen Köhler bleibt das Heute-Deutschland ... eine 'geteilte Heimat', wie er der 'taz' sagte. Bei allen Reminiszenzen an die Berliner Mauer – der Grenzzaun der 'Separatisten', an dem die Edeka-Verkäuferin Anita mit Plastikwasserflaschenpistole bewaffnet Nachtpatrouille schiebt, sperrt nicht ein. Er sperrt die Außenwelt aus. 'Man mauert sich ein, um frei zu werden', sagt Köhler ... Diese grauen, grau gekleideten Menschen (Kostüme: Karoly Risz), sie kommen plötzlich wieder zu sich und zueinander... Wenn Ursula Werner als Anita davon erzählt, wie sie jetzt immer eine Pistole dabei hat, ... da merkt man einen Kitzel. Nicht den der Waffengeilheit, sondern den der Veränderung – und den der Angst vor einem neuen Leben."

Dirk Pilz schreibt in der Berliner Zeitung (3.5.2007): "Thomas Freyer ... probt mit diesem 'Separatisten' genannten Stück den Ernstfall. Was, wenn die (kommunistischen) Träume doch Realität würden? Das Ende ist offen, die gesamte Vision vom blutleeren Schaum hehrer Ideale getragen. Dass sie im Gorki-Studio nicht billigerweise der Lächerlichkeit preisgegeben werden, ist Uraufführungsregisseur Tilman Köhler zu danken. ... Köhler hat die Vorlage seines Jugendfreundes Freyer gerettet, indem er die Figuren aufgeraut und undurchschaubar gemacht hat ... Köhler nimmt die Sehnsucht nach Utopie und Revolte ernst, kontert den schwachbrüstigen Text jedoch mit lakonischer Genauigkeit, die das Ungenaue der Traumwelten offen legt. Im Grunde ist die Vorlage für diesen Regisseur, der weder den zeitgeistigen Zuschauergeschmack noch das Verlangen nach deutenden Kommentaren bedient, ein zu blässliches Gegenüber..."

Auch der zweite thüringische Beobachter Michael Helbling zeigt sich in der Thüringischen Allgemeinen (3.5.2007) uneinverstanden mit Thomas Freyers Stück, für ihn: ein befremdliches Gedankenspiel. "Denn immerhin lässt Freyer seine vier Protagonisten mit Feuereifer neuen Lebensmut schöpfen durch die Aussicht auf einen durch Waffengewalt gesicherten Schutzwall. Dies ist eine Provokation, ... eine spießige Räuberpistole." Köhler gelinge es, den Text szenisch "aufzuladen", aber mehr als eine Fingerübung sei das nicht.

Reinhard Wengierek von der Welt (4.5.2007) hat der Abend im Gorki Theater gut gefallen. Freyers knapp skizzierte, eher monologische Szenen inszeniere "Köhler ... im engen Leer-Raum des kleinen Studios ... schnörkellos, fast ohne Requisiten und knallige Überraschungseffekte, aber äußerst intensiv und mit hintergründigem Witz." Köhler und die seinen, zu denen auch Thomas Freyer zählt, stünden nach eigener Aussage für "ein Theater, das sich nicht über die Figuren stellt". Und das werde hier vorgeführt. "Mitarbeit an der Story, die ein auch mit anderen jungen Autoren verfolgtes Grundthema umspielt: nämlich Aus- und Umsteigefantasien, das alternative Sich-Lösen aus bisherigen Bindungen sowie das Wagnis vom radikalen Neubeginn. Und der neue heilige Ernst des Spiels, seine äußere Strenge, seine Konzentration auf das Wort, auf die innere Stimmung der Figur und ihre Spannung zum Mitspieler."

Peter Laudenbach wirft Thomas Freyer in der Süddeutschen Zeitung (4.5.2007) vor, sein Stück formuliere "eine reaktionäre Phantasie, die sich vor den Zumutungen der komplizierten Moderne in ein vorindustrielles Idyll zurückträumt. Die Figuren verwechseln ihre Überforderung durch die Konkurrenzgesellschaft mit moralischer Überlegenheit." Regisseur Tilmann Köhler führe die "Protesthaltung der Ostalgie "kurzgeschlossen mit westlicher Konsumkritik "ironiefrei bis zur dröhnenden Peinlichkeit" vor.

Susanne Lederle, Gewinnerin des von der taz und dem Maxim Gorki Theater ausgelobten Theaterkritiker-Wettbewerbs, erwähnt in der taz (5.5.2007) als einzige den von Freyer auch thematisierten Heimatverlust, wenn in den Oststädten viertelweise die Plattenbauten abgerissen werden.Sie schreibt weiter: "So mögen Stück und Inszenierung naiv bis ostalgierend anmuten - zumindest ist es der Versuch, den Zuschauer nicht mit irritierendem Bühnengeschehen zu erschlagen und möglichst verstört nach Hause zu schicken, auf dass er keine Fragen mehr stellen mag."

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